Partei

Die »ra­san­te« Ent­wick­lung der Pro­duk­tiv­kräf­te und ih­re re­vo­lu­tio­nä­re Rol­le in Ge­schich­te und Ge­gen­wart

Zelt mit Friedensbemalung. Transparent im Gras: »10% gehören 61%, 70% gehören 8,8%, Soziale Schere schließen statt kürzen!«.

Re­fe­rat auf der Be­zirks­vor­stands­sit­zung

22. März 2015 

Der Leit­an­trag zum 21. Par­tei­tag spricht et­was has­tig von ra­san­ten Ent­wick­lun­gen der Pro­duk­tiv­kräf­te und da­von, dass sie enor­me Aus­wir­kun­gen auf die Be­wusst­seins­ent­wick­lung der Ar­bei­ter­klas­se, ih­re Or­ga­ni­sa­ti­ons- und Kampf­kraft hät­ten. Die­se The­se wird we­der er­läu­tert noch be­grün­det, erst recht nicht die dar­in ein­ge­schlos­se­ne Be­haup­tung, nach der die Ar­bei­ter­klas­se nicht zu den Pro­duk­tiv­kräf­ten zu zäh­len sei. Mar­xis­ten ver­ste­hen un­ter Pro­duk­tiv­kräf­ten aber nicht nur ih­re ver­ge­gen­ständ­lich­ten Ele­men­te, al­so die Ma­schi­nen, Werk­zeu­ge, Pro­duk­ti­ons­an­la­gen und Trans­port­mit­tel, son­dern das his­to­risch ent­wi­ckel­te »Sys­tem der Wech­sel­wir­kung sach­lich-ge­gen­ständ­li­cher und mensch­lich-sub­jek­ti­ver Ele­men­te.«1

Man könnte die Produktivkräfte aufteilen in die menschliche Arbeitskraft als Gesamtheit der körperlichen und geistigen Fähigkeiten, die gegenständlichen Elemente des Arbeitsprozesses (Arbeitsgegenstände und Arbeitsmittel) sowie jene Kräfte, die aus dem Zusammenwirken der einzelnen Elemente des Produktivkraftsystems resultieren (Arbeitsteilung, Organisation der Produktion, Planung, Koordination, Transportmittel, »Kommunikationsmittel, Schaffen des Weltmarkts«2 usw.)3 »Die Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache Umstände bestimmt, unter anderen durch den Durchschnittsgrad des Geschickes der Arbeiter, die Entwicklungsstufe der Wissenschaft und ihrer technologischen Anwendbarkeit, die gesellschaftliche Kombination des Produktionsprozesses, den Umfang und die Wirkungsfähigkeit der Produktionsmittel, und durch Naturverhältnisse.«4

Diesen historisch umfassenden Begriff von Produktivkraft entwickelten Marx und Engels zunächst in der »Deutschen Ideologie« 1845/46. »Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.«5

»Soll die unterdrückte Klasse sich befreien können, so muss eine Stufe erreicht sein, auf der die bereits erworbenen Produktivkräfte und die geltenden gesellschaftlichen Einrichtungen nicht mehr nebeneinander bestehen können. Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst. Die Organisation der revolutionären Elemente als Klasse setzt die fertige Existenz aller Produktivkräfte voraus, die sich überhaupt im Schoß der alten Gesellschaft entfalten konnten.«6

Die sozialistische Revolution setzt folglich die Entfaltung der im Kapitalismus fälligen Produktivkräfte voraus. Und wenn von Hans Peter Brenner auf der Theoriekonferenz die Epoche des Übergangs vom Imperialismus zum Sozialismus propagiert wird, dann sollte eine derartige Voraussetzung doch anzunehmen sein. Andernfalls wählen wir für unsere Epoche eine andere Bezeichnung.

Zelt als Burg gestaltet, »Festung Europa«, mit Darstellung eines ertrunkenen Flüchtlings.

Für den historischen Materialismus, wie er in der Deutschen Ideologie entwickelt wurde, ist die Gesamtheit der Produktivkräfte das revolutionäre Element, das je nach der erreichten Stufe alte Produktionsverhältnisse sprengt und neue erfordert. Im berühmten Vorwort »Zur Kritik der Politischen Ökonomie« von 1859 drückt das Marx unnachahmlich präzise aus:

»In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. […] Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind.«7

Wohlgemerkt, »aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.« Wenn die sozialistische Revolution nicht zum reinen Willensakt verkommen soll, dann haben wir den erreichten Stand der Produktivkräfte zu analysieren, welche die gegenwärtigen Produktionsverhältnisse zu sprengen sich anschicken, ebenso wie die Fesseln, die sie der Produktivkraft der Arbeit anlegen. Diesbezüglich scheint mir noch Forschung erforderlich. Immerhin hat die 12. PV-Tagung schon mal einige Fragen dazu aufgeworfen.

Ostermarschiererinnen, Transparent: »Ostermarsch Rhein Ruhr 2014…«.

In seinen Ausführungen zum Thema »Aspekte der Entwicklung der Produktivkraftentwicklung und des Bewusstseinsstandes der Arbeiterklasse« auf der 12. PV-Tagung engte Olaf Harms allerdings den Begriff Produktivkräfte auf die Entwicklung der Technik ein. Aber das tun viele.

Womöglich folgte er dabei dem Wirtschaftswissenschaftler Herbert Meißner (geb. 1927), vormals Professor an der Hochschule für Ökonomie Berlin, Abteilungsleiter am Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR und stellvertretender Vorsitzender des Rates für Imperialismusforschung. Meißner stellte 2008 folgende Fragen:

  • Wann erreicht denn dieser Widerspruch zwischen Produktivkräften und den Eigentumsverhältnissen diesen Höhepunkt, wo die Fesseln gesprengt werden müssen und können?
  • Wann ist diese »gewisse Stufe« erreicht, wo eine Epoche »sozialer Revolution« eintritt?
  • Woran erkennt man die daraus folgende Möglichkeit und Notwendigkeit der sozialen Revolution?8

Er stellt fest, dass in den imperialistischen Staaten die Entwicklung von Wissenschaft und Technik, von industrieller Forschung und moderner Maschinerie ungehemmt vorangeht. »Das geht von der Vollautomatisierung über die moderne Kommunikationstechnik und Informatik bis zur Atomenergie und Weltraumforschung und nicht zuletzt zur Militärtechnik. Mit diesen technischen Entwicklungen gehen einher eine ständig zunehmende Kapitalkonzentration und -zentralisation, Profitsteigerungen in früher ungekanntem Ausmaß, eine konstante Massenarbeitslosigkeit, eine zunehmende Verarmung großer Bevölkerungsteile bei Ausdehnung der Herrschaft des Finanzkapitals über Kontinente hinweg in globalem Maßstab. Eine Hemmung oder Fesselung dieser Entwicklung ist nicht erkennbar.

Die durch die Wirtschafts- und Technikentwicklung hervorgerufenen Probleme des Klimawandels, der Erderwärmung, der Erschöpfung der Naturressourcen usw. stoßen zwar an die ›Grenzen des Wachstums‹, wie das seinerzeit der Club of Rome formulierte, rufen auch in zunehmendem Maße Warnungen und Vorschläge progressiver Wissenschaftler und Politiker hervor. Neuartige Widersprüche des Systems werden sichtbar gemacht. Neue Bedingungen der ökonomischen und sozialen Reproduktion, also des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozesses werden untersucht. Aber obwohl diese bedrohlichen Entwicklungen sogar die Existenz unseres Planeten in Gefahr bringen, gibt es keine Anzeichen dafür, dass diese Problematik die Existenz des kapitalistischen Systems als Solches ins Wanken bringt. Auch wenn dabei neue ökonomische und soziale Widersprüche aufbrechen, entsteht, soweit es um die wissenschaftlich-technische Dynamik und Innovationskraft geht, keine Fesselung der Produktivkräfte durch die Eigentumsverhältnisse.«

Diese Behauptung begründet er im folgenden

  • mit den Möglichkeiten der Manipulation durch die modernen Medien,
  • mit der Erfahrung und Intelligenz der herrschenden Klasse und der Verführung durch Reformen,
  • mit dem verbreiteten Zweifel an der Möglichkeit des Sozialismus nach seinem Scheitern in der DDR und den anderen sozialistischen Ländern
  • und der Hoffnungslosigkeit, Lethargie und Depression der sozial benachteiligten Bevölkerung,

um dann festzustellen: »Vielmehr hat die stetige Entwicklung von Wissenschaft und Technik zur Festigung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse beigetragen, werden die modernen technischen Möglichkeiten zu immer effektiverer Herrschaftssicherung eingesetzt, wird auch die ständig weiterentwickelte Militärtechnik und die dazugehörige Militärstrategie zur internationalen Herrschaftssicherung genutzt und auch im Inneren bei ernsthafter Systemgefährdung rücksichtslos angewendet.

Damit hat sich die von Marx konstatierte Beziehung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen im Kapitalismus auch anderthalb Jahrhunderte nach Marx nicht zu einem systemsprengenden Konflikt zwischen beiden geführt. Vielmehr trägt genau umgekehrt die Entwicklung der Produktivkräfte trotz der Zuspitzung alter und neuer Widersprüche zur Festigung und Sicherung der bestehenden Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse bei.«

Diese Sätze stammen aus dem Frühjahr 2008. Einige Monate und vier Billionen Dollar an Wertpapierverlusten später, nach der Lehmanpleite, nach Hunderten Milliarden Euro an Bankenrettungsschirmen und dem Konkurs vieler Unternehmen, hätte er das vielleicht so nicht mehr dargestellt.

Uwe Fritsch sagte in Hannover: »Wir erleben in den Betrieben und der Gesellschaft auch, dass die Produktionsverhältnisse bisher scheinbar nicht spürbar zum Hemmnis der Produktivkräfte geworden sind, oder als solche von der Mehrheit der Arbeiterklasse wahrgenommen werden. Bis heute gelingt es dem Kapital, den Widerspruch zwischen den immer rasanter sich entwickelnden Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, den Eigentumsverhältnissen, nicht in soziale Veränderungen umschlagen zu lassen. Warum ist das so? Was ist denn da nur los mit der Arbeiterklasse?«

Nina Hager erinnerte in Hannover daran, dass »eine marxistische Analyse des Standes und der heute vorhersehbaren Entwicklung von Technik und Technologie auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, vor allem aber der Produktivkraftentwicklung«, neben dem hohen theoretischen Wert große politisch-praktische Bedeutung hätte. Nötig sei die Analyse auch, weil es nicht nur erforderlich sei, über die weitere Gesellschaftsentwicklungen auf der Grundlage der fortgeschrittenen Produktivkräfte und ihren Folgen, sondern auch über möglichen Bruchpunkte mit dem kapitalistischen System und über Bündnispartner der Arbeiterklasse im Kampf zu diskutieren.

Im folgenden werde ich noch ganz unsystematisch auf eine Reihe von Widersprüchen der Produktivkraftentwicklung verweisen.

Zunächst aber sollten wir uns der Frage stellen: Wie messen wir die Produktivkraftentwicklung? Liefert das Wachstum, die volkswirtschaftliche Kategorie Bruttoinlandsprodukt (BIP) die passenden Gesichtspunkte? Das BIP erfasst den Gesamtwert aller Güter, Waren und Dienstleistungen, welche von einer Volkswirtschaft innerhalb eines Jahres hergestellt wurden. Indessen wird einfach summiert, unabhängig davon, ob das Geld für Krankheiten ausgegeben, für Rüstungsprodukte verschwendet oder Umweltschäden kompensiert werden müssen. Ein Autounfall steigert das BIP, Schwarzarbeit oder ehrenamtliche Arbeit nicht. Im September 2014 wurde die Berechnungsgrundlage für das BIP modifiziert. Jetzt werden im BIP Forschungs- und Entwicklungsausgaben berücksichtigt. Bisher kamen sie als Vorleistungen vor. Sie belaufen sich in Deutschland auf drei Prozent des BIP. Außerdem wird jetzt die Prostitution eingerechnet. Hier wird eine Bruttowertschöpfung von 7,3 Milliarden Euro geschätzt. Das entspricht knapp einem Drittel Prozent des BIP in Deutschland. Zudem wird künftig der Drogen- und Zigarettenschmuggel als Wirtschaftsleistung berücksichtigt. Die Wertschöpfung des Drogenhandels wird mit 2,7 Milliarden Euro berechnet, ein Zehntel-Prozent des BIP. Diese EU-Richtlinie bringt folglich Neuerungen, die das nominale Bruttoinlandsprodukt (BIP) vergrößern. Die Herrschenden haben es nötig. Aber offenkundig ist das BIP nur unzulänglich zum Maßstab für die Entwicklung der Produktivkräfte geeignet.

Vielleicht war das einer der Gründe, die die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen im November 2010 zur Einrichtung einer Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität veranlassten. Diese Kommission hat sich im Jahre 2011 konstituiert. Zur Ausgangslage sagt der Beschlussantrag:9

»Die Unsicherheiten über die weitere Entwicklung der Wirtschaft, des Arbeitsmarktes, der Finanzmärkte so wie der demographische Wandel und die steigende Staatsverschuldung beunruhigen die Menschen ebenso wie die Gefahren des Klimawandels, der Verlust von biologischer Vielfalt, die mangelnde Generationengerechtigkeit und die soziale Ungleichheit auf globaler wie auf nationaler Ebene. All dies hat eine grundlegende Diskussion über gesellschaftlichen Wohlstand, individuelles Wohlergehen und nachhaltige Entwicklung angestoßen. Nicht nur in Deutschland, auch in anderen Industriestaaten gibt es eine Debatte darüber, ob die Orientierung auf das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) ausreicht, um Wohlstand, Lebensqualität und gesellschaftlichen Fortschritt angemessen abzubilden.«

Auch im Abschlussbericht der Enquetekommission wird am BIP kein gutes Haar gelassen. Es sei ein »sehr unvollständiger Indikator selbst für die vorhandene Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft […]. Da es bereits weite Arbeitsbereiche der Sorgearbeit, der Freizeit und der ehrenamtlichen Tätigkeiten nicht erfasst, kann es kaum oder allenfalls nur sehr behelfsmäßig ein Maßstab für den Wohlstand einer Gesellschaft sein.«

Daraus folgt der Auftrag an die Enquetekommission, einen das BIP ergänzenden Wohlstands- beziehungsweise Fortschrittsindikator zu entwickeln. Es wurden zehn. Die sogenannten W³ Indikatoren bestehen aus zehn zentralen Variablen. Sie sollen künftig darüber Auskunft geben, wie es in Deutschland um Wohlstand und Lebensqualität steht und so den alleinigen Indikator Inlandsprodukt ersetzen. Neben der Dimension »Materieller Wohlstand« sollen auch die Wohlstands-Dimensionen »Soziales/Teilhabe« und »Ökologie« in den Blick genommen werden. Der »Materielle Wohlstand« und dessen Nachhaltigkeit wird durch das BIP pro Kopf, die Einkommensverteilung und die Staatsschulden abgebildet. Der Bereich »Soziales/Teilhabe« soll durch die Indikatoren Beschäftigung, Bildung, Gesundheit und Freizeit gemessen werden und der Bereich Ökologie durch die Variablen Treibhausgase, Stickstoff und Artenvielfalt.

Was ist hier passiert? Es scheint so, als verabschiede sich die herrschende Klasse von den Postulaten des Wirtschaftswachstums. Das tut sie mit einiger Verspätung, antworteten doch die Theorien des Wirtschaftswachstums auf die politische Ökonomie des Sozialismus. Offenbar ist heute das volkswirtschaftliche Wachstum nicht mehr von Belang, es interessiert nur noch das betriebswirtschaftliche Ergebnis weniger Banken und Konzerne. Zwar hat auch das BIP das Wirtschaftswachstum der kapitalistischen Gesellschaften nur unvollkommen gespiegelt, aber mit diesem Indikator wurde immerhin noch implizit das Gewicht der Arbeit, die Produktionsweise des materiellen Lebens anerkannt als Grundlage und Bedingung für den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess. Künftig werden die Rezessionen, aber auch die obsolet gewordenen Glücksversprechen des Imperialismus hinter einem Wust von Daten verschwinden.

Protestierende vor Wohnhaus mit Transparenten: »Miethaie zu Fischstäbchen«, »Die Stadt gehört uns«, »Finger weg!«, »Alle für Kalle«, »Stop Zwansräumungen«.

Die Statistik wird mit rosa Schleifchen versehen. Die botanische Artenvielfalt im Volksgarten hat dann schon mal die Zwangsräumung zu kompensieren, ebenso wie Stickoxidsenkung die Arbeitsplatzvernichtung.

Bei der Einrichtung der Enquete-Kommission sorgte sich der Bundestag: Die Menschen könnten sich beunruhigen angesichts der Entwicklung der Wirtschaft. Die hatte eine Steigerung des BIP im Jahre 2013 von 0,1% und im vergangenen Jahr von 1,6% zu verzeichnen. Diese bescheidene Erhöhung war vor allem der Binnennachfrage (und der neuen Berechnung?) zu verdanken. Man macht sich aber auch Sorgen um das Wachstum anderer Länder: »China schwächelt« meldete die Kölnische Rundschau gestern. »Im Jahresbericht, der gestern in Peking vorgelegt wurde, senkte die OECD ihre Wachstumsprognose von 7,1 Prozent auf 7 Prozent in diesem und 6,9 Prozent im nächsten Jahr. OECD-Experten warnen vor einer Verschlechterung der Lage in China und Auswirkungen eines Abschwungs auf die Weltwirtschaft. Die Marktmechanismen und die Rechtsstaatlichkeit müssten gestärkt und die Ausbildung verbessert werden.« Offenbar geht es darum, die Bevölkerung angesichts fremder Erfolge und eigener Misserfolge zu beruhigen.

Umso gewichtiger sind für uns Gesichtspunkte, nach denen wir über den engen Horizont der technischen Entwicklung hinaus ökonomische Erfolgsmerkmale realistisch bestimmen. Ein und dieselbe technische Entwicklung kann günstige wie üble Wirkungen zeitigen, je nachdem, wofür sie eingesetzt wird. Zunächst sollten wir uns in die Lage versetzen, wachsende Widersprüche von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in der Gegenwart zu registrieren.

Den durch die Elektronik explosionsartig erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten steht die kriminelle und die staatlich organisierte Aneignung der anfallenden Daten, ihre weitreichende Kontrolle und womöglich repressive Anwendung gegenüber. In einer antagonistischen Klassengesellschaft muss man sich vor Datendiebstahl hüten und Unterdrückung abwehren.

Ich erinnere an die NSA-Affäre, an die US-amerikanischen Programme zur Überwachung der weltweiten Internetkommunikation, aber auch an die geheimen Abmachungen der Bundesrepublik mit den USA, Großbritannien und Frankreich, die die Überwachung der deutschen Bevölkerung, ihres Brief- und Telefonverkehrs sowie der gesamten elektronischen Kommunikation gesetzlich regeln. Mittlerweile gibt es erprobte Schadprogramme, die auf elektronischem Wege die Versorgung mit Wasser und Energie unterbrechen können. Stichwort: Stuxnet.

Mobiltelefone sind ein Massenprodukt geworden. 1999 wurden davon weltweit 283 Millionen hergestellt. Im Jahr 2010 kamen weltweit rund 300 Millionen Smartphones in die Läden, 2013 waren es mehr als eine Milliarde. Im Jahr 2014 belief sich der Smartphone-Absatz auf mehr als 1,3 Milliarden. In den Geräten wird das Metall Tantal verarbeitet. Es wird als Coltan im Ostkongo gewonnen. Seit dem Mobiltelefonboom ist der Ostkongo Kriegsgebiet. Die Kriege werden durch die Besteuerung der Coltanexporte finanziert. Wichtiger Aufkäufer des Coltanerzes war zumindest bis 2006 die deutsche Firma H.C.Starck, Tochter des Bayer-Konzerns. Allein der Zweite Kongokrieg (1998 bis 2003) forderte mehr als drei Millionen Tote.

Mobiltelefone verschleißen schnell und häufig. Wir können davon ausgehen, dass es sich um Sollbruchstellen handelt, etwa wenn der Akku nicht auszutauschen ist. Der geplante Verschleiß von Produkten heißt Obsoleszenz. Mit dem künstlichen Verschleiß werden die Stückzahlen gewinnträchtig erhöht, aber Ressourcen verschwendet und Entsorgungskapazitäten belastet. Ein berüchtigtes Beispiel ist das Glühbirnenkartell »Phoebus«, das seit 1924 für eine kurze Lebensdauer von Glühbirnen sorgte. Die Leuchtmittelindustrie hat schließlich das Verbot der Glühbirne selbst bei der EU erwirkt und für ihre Ersetzung durch teure und umweltschädliche Leuchten gesorgt.

Schon die Herstellung von Waffen vernichtet. Wir haben es mit einer Deformation der Produktivkräfte, mit Destruktivkräften zu tun, erst recht, wenn technisch komplexe Tötungssysteme entwickelt werden.

Um eine Produktivkraftdeformation handelt es sich aber auch beim motorisierten Individualverkehr, der unsere Städte belastet. Ein Porsche, der im selben Stau steht wie der Deux Chevaux, ist nicht nur in diesem Moment eine technische Fehlentwicklung. Allenfalls im Überholvorgang wäre die Technik rationell, wenn nicht das System des motorisierten Individualverkehrs in seiner Gesamtheit irrational und dysfunktional wäre. Nicht nur die stundenweise fälligen Staumeldungen des Morgens singen davon ein Lied. Selbstverständlich gehört der Drang von der Schiene auf die Straße zu den Hemmungen der Produktivkräfte auf dem Gebiet des Güterverkehrs.

Arbeitslose arbeiten nicht. Ihre Produktivkräfte liegen brach.

Im Gegenzug lässt der Druck auf diejenigen, die Arbeit haben und sie nach engen Vorgaben verrichten, deren schöpferische Talente verdorren. Die durchschnittliche Verlängerung der Arbeitstages bei Vollbeschäftigten auf real 42 Stunden hemmt wie die immer länger währenden Fahrten zum Arbeitsplatz, ebenso wie der durchschnittlich wachsende Fernsehkonsum die geselligen Aktivitäten und kreativen Fähigkeiten. Gemeinsame und wechselnde kulturelle Tätigkeit, politische Verständigung und Aktion dagegen fördern soziale Kompetenzen. Vereinzelung und Vereinsamung machen krank, allemal wehrlos in einer zunehmend rohen Gesellschaft.

Unser selektives Bildungssystem lässt die Neugier schwinden, drückt auf das Bildungsniveau. Die Schulzeitverkürzung und die Reduktion der Bildungsinhalte auf kurzfristig verwertbare Fertigkeiten hemmen und fesseln menschliche Produktivkraft. Bildung sollte den Menschen allseitig entwickeln. Bertelsmann lässt ihn verkümmern.

Durch die Privatisierung der Forschungsgegenstände mittels Drittmittelforschung und privat finanzierter Lehrstühle (Bayer, höre ich, finanziert allein 30 Professoren in Bochum) auf der einen Seite und der eng geführten und verschulten Studiengänge nach dem Muster von Bachelor und Master auf der anderen Seite werden die Entwicklungsmöglichkeiten von Wissenschaft auf die bornierten Verwertungsinteressen einzelner Monopole reduziert. Wissenschaft wird ihrer umfassenden gesellschaftlichen Verantwortung enthoben und ihre Ressourcen privaten und Sonderzwecken geopfert.

Armut und Analphabetismus auf der Welt verschwenden Möglichkeiten menschlicher Entfaltung. Ein Siebtel der Weltbevölkerung hungert. Dabei handelt es sich fast um eine Milliarde Menschen, denen Muße fremd ist, die ihre Fähigkeiten nicht entwickeln können, weil ihre Aktivitäten auf das pure Überleben gerichtet sind. Sie werden häufiger krank, ihre Lebenserwartung bleibt kurz.

Die klimatischen und anderen widrigen Nebenwirkungen technischen Fortschritts wachsen an und drohen unbeherrschbar zu werden. Bis heute gibt es keine Lösung für die Entsorgung von Atommüll.

Es ist kein Zufall, dass sich an vielen dieser Widersprüche demokratische Bewegungen entzünden, etwa gegen Vorratsdatenspeicherung, gegen ACTA, gegen die Ausforschung durch Geheimdienste, für informationelle Selbstbestimmung. Die Bewegung gegen alle möglichen Formen elektronischer Überwachung hat im Jahr 2006 zur Gründung der Piratenpartei geführt, die sich um eine demokratische Netzpolitik bemüht, aber gefährdet ist, vom korruptiven Parteiensumpf aufgesogen zu werden, analog zu den Grünen, die aus der Ökologie und Anti-Atomkraftbewegung hervorgegangen sind. Das weite Gebiet der Ökologie wird von vielfältigsten demokratischen Initiativen bearbeitet. Anlässlich der Havarie von Fukushima vor genau vier Jahren, schwollen die Demonstrationen gegen die Atomkraft so an, dass Frau Merkel zur Energiewende gezwungen wurde.

Selbstverständlich hemmen Probleme des Wohnens und Mieterkonflikte sowie als mittelbare Folge lange Anfahrtswege zur Arbeit die Reproduktion und Entfaltung der Produktivkräfte der Betroffenen. Diese Probleme werden in der Regel bei den örtlichen Mietervereinen deponiert, gegenwärtig aber entstehen neue Mieterinitiativen. Mit neuen Konflikten kommen neue demokratische Initiativen auf – etwa gegen Zwangsräumungen und gegen die Raubzüge der Immobilien- und Energiekonzerne.

Die Friedensbewegung kämpft gegen Waffenexport, gegen Rüstungsproduktion und Rüstungsforschung, vor allem aber gegen die Vernichtung von Menschen, der wichtigsten Produktivkraft.

Demo mit Fahnen und Transparenten. Im Vordergrund zwei Demonstranten mit Umhangtransparenten: »UMfairTEILEN Reichtum besteuern, Banken enteignen.«.

Wenn es um die zerstörerischen Folgen der Krise, dem offenkundigsten Versagen der kapitalistischen Produktionsweise geht, gibt es schon ein ganzes Spektrum von demokratischen Bewegungen, angefangen bei den Sozialforen, dann Attac, das aus der französischen Arbeitslosenbewegung der neunziger Jahren entstanden ist, und Occupy (anfänglich mit spontanen Massenaktionen), aber auch die Gewerkschaften. Verdi und GEW waren bei den Aktionen für Umfairteilen entscheidend.

Derartige demokratische Bewegungen greifen gesellschaftliche Konflikte auf, die sich aus den Widersprüchen der Eigentumsverhältnisse ergeben. Es ist unser Beruf, in solchen Bewegungen auf deren allgemeinen Charakter zu verweisen. Demokratie muss ständig erkämpft werden. Es verknüpfen sich Aktivitäten zur Verteidigung der bürgerlichen Demokratie (etwa beim Thema Antifaschismus) und demokratischer Rechte, wie sie im Grundgesetz niedergelegt sind, mit solchen, die schon auf eine sozialistische Perspektive verweisen, weil sie Fragen berühren, die sich nur durch Einschränkung des Privateigentums an Produktionsmitteln beantworten lassen.

Zu diesen demokratischen Bewegungen gehören als erstes die Gewerkschaften. Ohne den Zusammenschluss der Arbeiter und ihre Streikkassen wäre die Reproduktion der Arbeitskraft nicht zu sichern. Aber sie gehen auch weiter. Beispiel Verdi. Als Konsequenz auf die Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst im Frühjahr 2012, als Verdi entgegengehalten wurde, die öffentlichen Haushalte hätten kein Geld, hat die Gewerkschaft die Steuergesetzgebung mit einer Bündnisaktion im Herbst 2012 zum Thema gemacht. Ich meine die Aktion Umfairteilen.

Die IG Metall mobilisierte im vergangenen September 20 000 Jugendliche mit der Losung »Revolution Bildung«. Diese Erfahrungen fanden Eingang in die gerade zurückliegende Tarifrunde. Die überwiegende Arbeit der Gewerkschaften findet jedoch im ständigen Ringen in Betriebs- und Personalräten statt, wo es darum geht, die Interessen der Kollegen im Kleinkrieg mit dem Unternehmer zu wahren. Diese Arbeit ist wenig spektakulär, aber wirksam.

Im Sinne der Durchsetzung und Entfaltung von Produktivkräften gegenüber widrigen Produktionsverhältnissen sind auch andere demokratische Vertretungsorgane aktiv, etwa die stetig arbeitenden Studenten- und Schülervertretungen. Sie haben sich in den Bildungsstreiks vor sechs Jahren und danach hervorragend engagiert. Im Sommer 2009 sind mehr als 270.000 Schüler und Studenten an dezentralen Demonstrationen für den unbeschränkten Zugang zur Bildung und die Demokratisierung von Schulen und Hochschulen auf die Straße gegangen. Im Herbst desselben Jahres waren es noch einmal 85.000 Studierende und Schüler. Die Proteste der Schüler richteten sich gegen das dreigliedrige Schulsystem, G8, zu große Klassen und Kopfnoten.

Selbstverständlich sorgen auch die Bewegungen gegen Maßnahmen der EU im Sinne der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnisse zunächst für einen Ausgleich.

Ich erinnere an den Bürgerentscheid »Wasser ist Menschenrecht«, an die Richtlinie Port Package II zum Zweck der Liberalisierung der Hafendienste, an die Bolkestein-Dienstleistungsrichtlinie, die den Handel mit Dienstleistungen liberalisieren wollte. Eine andere wirtschaftliche Entscheidung war die über Fiskalpakt und ESM. Hier gab es trotz vielfältiger Aktionen allenfalls eine Verzögerung durch das BVerfG.

Vor unseren Augen tobt ein sozialer Vernichtungskrieg gegen Griechenland. Ohne Rücksicht auf die Lebensinteressen der Bevölkerung erzwingen die Institutionen des Finanzkapitals die Bedienung der griechischen Schulden. Sie wollen Schuldenschnitte vermeiden.

Gestern hat die Kölner Innenstadtgruppe Flugblätter verteilt, in denen gefordert wird:

  • Die EU muss ihre Politik gegenüber Griechenland ändern.
  • Statt weiteren Sozialabbau zu erzwingen, sollte die Bundesregierung dafür sorgen, dass die EU umgehend Gelder freigibt, die die griechische Regierung für Lohn- und Rentenzahlungen und zur Gesundheitsversorgung der Bevölkerung benötigt.
  • Die Bundesregierung muss einem Schuldenschnitt zustimmen und einer gesamteuropäischen Schuldenkonferenz, die ihn verabredet.

Im übrigen ist daran zu erinnern, dass alle bisherigen griechischen Forderungen nach Entschädigungen für deutsche Kriegsverbrechen ignoriert worden sind. Eine Rückzahlung einer von den Nazibesatzung erpressten Zwangsanleihe ist lange fällig. Allein diese Schulden gegenüber Griechenland sind mittlerweile zu einer Summe von elf Milliarden Euro aufgelaufen.

Aber auch der Kampf gegen TTIP gehört in diese Kategorie des europaweiten Kampfes um Demokratie. Hier ist schon ein entscheidendes Niveau erreicht worden. Am kommenden Dienstag wird voraussichtlich der Kölner Stadtrat einem Bürgerantrag zur Ablehnung von TTIP, CETA und TISA zustimmen.

Unser Parteiprogramm fügt derartige Aktivitäten in einen strategischen Plan. Es heißt dort unter der Überschrift »Für eine Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt«:

»Unter den gegebenen Bedingungen werden Abwehrkämpfe im Zentrum einer ganzen Kampfetappe stehen. Schon in diesen Auseinandersetzungen wird es nur dann wirkliche Erfolge geben, wenn ein qualitativ neues Niveau bei der Mobilisierung der Arbeiter und Angestellten in den Betrieben und Verwaltungen, der Erwerbslosen, der Rentner, aller von der Demontage sozialer und demokratischer Errungenschaften Betroffenen, wenn ein neuer Aufschwung der Friedensbewegung und anderer demokratischer Bewegungen erreicht werden kann. Zugleich können und müssen in den Kämpfen um die Verteidigung des Erreichten die Kräfte gesammelt werden für fortschrittliche Reformen, für eine Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt. Der Vernetzung der Kämpfe und Bewegungen über Ländergrenzen hinweg kommt unter den Bedingungen der Globalisierung eine immer größere Bedeutung zu« (Abschnitt IV)

Diesen strategischen Plan hat Anne Frohnweiler auf der Kölner KV-Klausur in Gestalt folgender Etappen bzw. Übergänge knapp zusammengefasst:

  • Sammeln fortschrittlicher und demokratischer Kräfte für eine Wende zum demokratischen und sozialen Fortschritt mit dem Ziel, das Kräfteverhältnis zu verschieben.
  • Bildung von Allianzen und Stabilisierung der Bündnisbeziehungen.
  • Bildung eines festen gesellschaftlichen Blocks mit dem Ziel der weiteren Verschiebung der Kräfteverhältnisse, so dass gesellschaftliche Alternativen eine reale Perspektive bekommen.
  • Antimonopolistischer Block mit tiefer außerparlamentarischer und parlamentarischer Verankerung und der Möglichkeit der Regierungsbildung
  • Revolutionärer Bruch

Vor diesem Hintergrund ist der Gebrauchswert des Leitantrags daraufhin zu untersuchen, was er im Sinne der versprochenen »Präzisierung« der Strategie zum Thema Demokratie und zum Kampf um Demokratie als Teil unseres Kampfes um den Sozialismus in Erinnerung ruft und aktualisiert. Was teilt er über die Aufgaben von Kommunisten auf diesem Kampffeld mit?

Es heißt da (Zeile 157-169): »Gerade die Einordnung unserer aktuellen Kämpfe in eine Strategie des revolutionären Bruchs mit dem Kapitalismus und die Suche nach Übergängen zum Sozialismus sind unverzichtbar. Die Beachtung der Dialektik von Reform und Revolution unterscheidet die Kommunistische Partei von Organisationen, die auf sogenannte ›Reformalternativen‹, ›Transformationskonzepte‹ und ›wirtschaftsdemokratische Modelle‹ orientieren, die diesen Unterschied verwischen. Kommunistinnen und Kommunisten wissen um die Notwendigkeit, aber auch um die Grenzen von Reformen im Kapitalismus. Sie wissen, dass es ›grundsätzlich falsch ist, sich die gesetzliche Reformarbeit bloß als die in die Breite gezogene Revolution und die Revolution als die kondensierte Reform vorzustellen‹. (Rosa Luxemburg) Die Überwindung des Kapitalismus setzt den revolutionären Bruch voraus. Die DKP setzt sich zugleich in Reformkämpfen für die Gegenwartsinteressen der arbeitenden Menschen ein. Es gibt für sie keine nebensächlichen Fragen, wenn es um die heutigen Belange und Interessen der Arbeiterklasse geht. Der sprichwörtliche ›Kampf um das Teewasser‹ in den Betrieben und in den Kommunen bleibt ein unverzichtbares Markenzeichen kommunistischer Politik.«

Dazu ist folgendes zu sagen:

  1. Das Revolutionäre an der Revolution ist nicht ihre Form, sondern der Inhalt. Also auch nicht die Mittel, sondern die Zwecke, von denen die Mittel abgeleitet werden. Andernfalls geraten Strategie und Taktik zu Kraut und Rüben. Und das tun sie im Leitantrag. (»Strategie des revolutionären Bruchs«)
  2. Der Leitantrag unterscheidet nicht zwischen politischen, ökonomischen und ideologischen Kampffeldern. Beispiel: wenn die Gewerkschaften um den Preis der Ware Arbeitskraft ringen, haben wir es mit Menschen an unserer Seite zu tun, die sich, wenn wir Glück haben, auch ihre Gedanken machen, aber in der Regel noch nicht den Sozialismus favorisieren, sondern unrevolutionär ihre Hoffnung auf Verbesserungen setzen, ohne das Privateigentum an Produktionsmitteln in Frage zu stellen. So eine Hoffnung, wenn sie entwickelt ist, heißt dann schon mal Reformalternative, Transformationskonzept oder Wirtschaftsdemokratie und übersieht womöglich die Machtfrage. Wir dürfen sogar davon ausgehen, dass solche merkwürdigen Menschen durchaus engagiert sind im Kampf um ihre ökonomischen Interessen. Wir sollten sie darin bestärken und unseren Einsatz für die Belange der Klasse an ihrem Engagement messen. Im wünschbaren Erfolgsfall, der vielleicht sogar Vertrauen schafft, kann man ja mal über weitergehende Ziele plaudern. In dem Fall hätten wir es mit ideologischem Kampf zu tun. So entsteht die Chance, dass man uns zuhört, und der Kreis der für den Sozialismus Kämpfenden erweitert wird.
  3. So eine Reform ist manchmal ein ganz vertracktes Ding. Wir wollen mal voraussetzen, dass sie den Arbeiterinteressen dient. Gerne aber bleibt ihr Doppelcharakter verborgen. Manchmal entwickelt sich die Reform. Ein und dieselbe ist mal so und mal so. Mal ist sie ein Kampfziel, mal unerreichbar, mal schafft sie Illusionen. Mal beruhigt sie, mal mobilisiert sie. Gegenwärtig kämpfen wir für den Erhalt der Rente. Bismarck bekämpfte seinerzeit mit dieser Reform die Sozialdemokraten.
    Für Adenauer war die dynamische Rente eine Waffe im Klassenkampf. Jetzt hätten wir sie gern zurück.
    Die Schüler haben die Kopfnoten wegbekommen. Das hat sie beruhigt. Nunmehr haben sie wenig Veranlassung, auf die Straße zu gehen.
    Die Studiengebühren sind abgeschafft. Ist jetzt alles in Ordnung? Leider steht der Durchgriff der Konzerne und Banken an den Hochschulen und ihren Organen nicht mehr auf der Protestagenda der Studenten.
    Darf uns der Sieg im Kampf gegen die Konzessionsrichtlinie Wasser beruhigen?
    Vor allem: In welcher Weise kommt der Kampf um Demokratie im Leitantrag vor?
  4. »Wirtschaftsdemokratische Modelle« werden abfällig erwähnt, weil sie den Unterschied zwischen Reform und Revolution »verwischen«. Das würden sie doch nur tun, wenn wir diesen Unterschied nicht mehr erkennen und erklären könnten.
    Immerhin wird im Leitantrag drei Mal von demokratischen Rechten gesprochen und dabei festgestellt, dass es Angriffe auf sie gibt, dass sie abgebaut, außer Kraft gesetzt werden:
  • »Wesentliche Angriffe auf soziale und demokratische Rechte, wie die Agenda 2010, wurden durch die Gewerkschaften kaum bekämpft.« (Z. 104/105) – Da haben wir sie, die Schuldigen!
  • »Demokratische Rechte werden abgebaut, politisch Aktive bespitzelt.« (Z. 138/139)
  • »Während die Bourgeoisie weitere Schichten der Arbeiterklasse in die Armut treibt und soziale und demokratische Rechte außer Kraft setzt, kanalisieren Neofaschisten die berechtigte Unzufriedenheit und Wut mit ihrer sozialen Demagogie.« (Z. 345 f.)

Nur indirekt sind wir aufgefordert, uns für den Erhalt demokratischer Rechte einzusetzen. Das ist zu wenig. Der Kampf um Demokratie ist ein Grundbestandteil unserer Strategie und sollte so auch im Leitantrag vorkommen.

Klaus Stein, 22. März 2015


1 G. Klaus, M. Buhr (Hg), Philosophisches Wörterbuch, Leipzig 1972, Bd. 2. S. 879, Stichwort »Produktivkräfte«

2 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1974, S. 215

3 siehe Peter Fleissner, Zum Umbruch des Produktivkraftsystems in: Jahrbuch des IMSF 9, 1985. S. 160 ff.

4 MEW 23, 54

5 Das Elend der Philosophie, MEW 4, 130

6 MEW 4, 181

7 Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 8

8 siehe Herbert Meißner »Zum Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bei Marx und heute«  (pdf)

9 Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode, Drucksache 17/13300, 03. 05. 2013, »Schlussbericht der Enquete-Kommission ›Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft‹« (pdf)