Köln
Referat: Zentralismus und Demokratie. Was tun mit Lenin?
Lenin schreibt im Jahr 1899 im Artikel „Unser Programm“:
„Wir stehen völlig auf dem Boden der Marxschen Theorie: erst sie hat den Sozialismus aus einer Utopie zur Wissenschaft gemacht, hat diese Wissenschaft auf feste Grundlagen gestellt und den Weg vorgezeichnet, der beschritten werden muß, um diese Wissenschaft weiterzuentwickeln und in allen Einzelheiten auszuarbeiten. Sie hat das Wesen der modernen kapitalistischen Wirtschaft aufgedeckt, indem sie klarstellte, auf welche Weise die Versklavung von Millionen Besitzloser durch eine Handvoll Kapitalisten, die den Grund und Boden, die Fabriken, die Bergwerke usw. besitzen, durch die Lohnarbeit, den Kauf der Arbeitskraft, verhüllt wird. Sie hat gezeigt, daß die ganze Entwicklung des modernen Kapitalismus dahin geht, den Kleinbetrieb durch den Großbetrieb zu verdrängen, und Bedingungen schafft, die eine sozialistische Gesellschaftsordnung möglich und notwendig machen. Sie hat gelehrt, unter der Hülle eingewurzelter Sitten, politischer Intrigen, verzwickter Gesetze, schlau erdachter Lehren den Klassenkampf zu sehen, den Kampf zwischen den besitzenden Klassen aller Art und der Masse der Besitzlosen, dem Proletariat, das an der Spitze aller Besitzlosen steht. Sie hat die wirkliche Aufgabe der revolutionären sozialistischen Partei klargelegt: nicht Pläne zur Umgestaltung der Gesellschaft zu erfinden, nicht den Kapitalisten und ihren Lakaien Predigten zu halten über eine Verbesserung der Lage der Arbeiter, nicht Verschwörungen anzuzetteln, sondern den Klassenkampf des Proletariats zu organisieren und diesen 'Kampf zu leiten, dessen Endziel die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und die Organisierung der sozialistischen Gesellschaft ist.'“ (Lenin Werke, Band 4, S. 204)
Unter anderem geht es Lenin um die Frage: „Wie lässt sich die Notwendigkeit voller Freiheit für die lokale sozialdemokratische (für uns heute selbstverständlich: kommunistische) Tätigkeit mit der Notwendigkeit vereinbaren, eine einheitliche - also auch zentralistische - Partei zu bilden?“ (aus: Lenin, Unsere nächste Aufgabe, LW 4, 212)
Die Antwort darauf zitiert Willi Gerns in seinem Taschenbuch „Klassenbewußtsein und Partei der Arbeiterklasse“ (Ffm, 1978, S. 67): „es ist ihre Aufgabe, in die spontane Arbeiterbewegung bestimmte sozialistische Ideale hineinzutragen, sie mit sozialistischen Überzeugungen, die auf dem Niveau der modernen Wissenschaft stehen müssen, zu verbinden, sie mit dem systematischen politischen Kampf für die Demokratie als ein Mittel zur Verwirklichung des Sozialismus zu verbinden, mit einem Wort, diese spontane Bewegung mit der Tätigkeit der revolutionären Partei zu einem unauflöslichen Ganzen zu verschmelzen.“ Lenin weiter: „Die Geschichte des Sozialismus und der Demokratie in Westeuropa, die Geschichte der russischen revolutionären Bewegung, die Erfahrungen unserer Arbeiterbewegung - das ist das Material, das wir uns aneignen müssen, um eine zweckmäßige Organisation und Taktik für unsere Partei ausarbeiten zu können. Die 'Verarbeitung' dieses Materials muß jedoch selbständig erfolgen, denn fertige Vorbilder werden wir nirgends finden“ schreibt er und begründet das in den folgenden Zeilen (LW 4, 211).
Unser geltendes Parteiprogramm greift diese Idee des politischen Kampfes für die Demokratie als ein Mittel zur Verwirklichung des Sozialismus auf.
„Der Sozialismus kann nur das Ergebnis des Wollens und Handelns der Arbeiterklasse und der mit ihr verbundenen Kräfte, das Ergebnis von demokratischen Massenaktionen sein. Er bedarf der Zustimmung und der aktiven Gestaltung durch die Mehrheit des Volkes und der organisierenden Kraft einer revolutionären Partei. Mit der politischen Macht der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten und dem gesellschaftlichen Eigentum an allen wichtigen Produktionsmitteln wird der Sozialismus den demokratischen Rechten und Freiheiten, die bereits im Kapitalismus erkämpft worden sind, die unter der Herrschaft des Kapitals aber nicht gesichert sind oder nur formalen Charakter tragen, eine reale soziale Grundlage geben.“ (DKP-Parteiprogramm, S. 7)
Nachdem sich der 26. Parteitag der DKP im Juni dieses Jahres mit dem Verhältnis von Demokratie und Zentralismus in unserer Partei beschäftigt hatte, heißt es in der beschlossenen Handlungsorientierung: „Aus den politischen Herausforderungen und den Ergebnissen der Mitgliedsbuchneuausgabe (MBNA) ergibt sich die Notwendigkeit, das zentralistische Element unseres Organisationsprinzips zu betonen.“
Ähnlich stand es schon im ursprünglichen PV-Antrag, weswegen wir uns auf der KMV am 30. November 2024 in Form eines Antrags geäußert hatten. Unser Vorschlag sah vor, diese Formulierung zu ersetzen. An ihrer Stelle sollte es heißen:
Der Schlüssel zur Stärkung der Partei ist die Entwicklung der Parteigruppen. Die Stärke der Gruppen ist nicht daran zu messen, wie gut und vollständig sie Vorgaben der Leitungen erfüllen, sondern die Leitungen daran, wie es ihnen gelingt, die Gruppen zu stärken. Starke Grundorganisationen planen ihre Tätigkeit, äußern sich selbständig zu politischen Fragen im Rahmen der Beschlusslage der Gesamtpartei, haben ein attraktives Gruppenleben. Zu einem attraktiven Gruppenleben gehört die Aneignung der Theorie von Marx, Engels und Lenin, fortschrittlicher Kultur, die Fähigkeit, politisch selbständig Erfolge zu organisieren sowie Siege und Niederlagen richtig zu bewerten. Starke Parteigruppen pflegen Kontakte im Wohnumfeld und Betrieb, machen eine vielfältige Öffentlichkeitsarbeit, geben regelmäßig eine Kleinzeitung heraus. Sie sind in der Lage, neue Mitglieder aufzunehmen und zu halten.
Unsere Begründung lautete:
Von ganzem Herzen unterstützen wir die Kampagne „Kriegstüchtig – ohne uns. Wir kämpfen um Heizung, Brot und Frieden. Wir stärken die DKP!“ Der Kampf gegen den Kriegskurs ist mit dem Kampf um soziale und demokratische Rechte zu verbinden. Allerdings folgt aus dieser notwendigerweise allgemeinen Orientierung noch nicht die „Betonung der zentralistischen Elemente unseres Organisationsprinzips“ (Zeile 85). Denn der Kampf gegen die Kriegstüchtigkeit, gegen den gesamten Kriegskurs, gegen Sozial- und Demokratieabbau ebenso wie gegen den reaktionären Staats- und Gesellschaftsumbau wird wegen seiner vielfältigen Erscheinungsformen die Phantasie, die Klugheit ebenso wie die Überzeugtheit aller Mitglieder der DKP und der - davon gehen wir doch aus - wachsenden Zahl von aktiven Friedensfreunden in Initiativen, Bündnissen und Gewerkschaften herausfordern. Er wird gewissermaßen dezentral - um nicht zu sagen: global – gewonnen werden. Und weiter: eine Stärkung der Grundorganisationen erscheint auch mit Blick auf die Ergebnisse der Mitgliedsbuchneuausgabe, so weit sie bekannt sind, folgerichtig.
Den Plan, mittels Kommissionen (Zeile 272 ff.), die dem PV zuarbeiten, das wissenschaftliche und politische Niveau seiner Führungstätigkeit auszubauen, unterstützen wir. Aber Anleitung ist keine Einbahnstraße. Das Statut bestimmt – und es handelt sich hier um den Kernbestand seiner Bestimmungen -, dass alle Mitglieder der DKP auf der Grundlage des wissenschaftlichen Sozialismus gleichberechtigt an der Erarbeitung der Politik der Partei und ihrer Beschlussfassung mitwirken. Unsere Politik ist auf jeder Organisationsebene zu diskutieren. Der Grundsatz der vereinigten zentralisierten Aktion ist in der DKP eng mit dem der breiten innerparteilichen Demokratie verbunden. Erst letztere legitimiert die Beschlüsse, die anzuerkennen und nach Kräften bei ihrer Umsetzung mitzuwirken jedes Mitglied verpflichtet ist. Es bedarf stetiger Überzeugungsarbeit gegen die Flut von plumper wie subtiler Kriegspropaganda. Ein „Herunterbrechen“ (Zeile 111/112) der zentralen Orientierungen auf allen Ebenen, auch bei genauer Kenntnis der konkreten Situation der Gliederungen, wird dazu nicht ausreichen.
Wir hatten auf unserer KMV zu diesem Antrag eine sehr produktive Diskussion. Die Zustimmung war groß, es gab nur zwei Gegenstimmen. Leider folgte die BDK dem Kölner Antrag nicht. Und wir versäumten es leider, auch dem Parteitag unseren Antrag vorzulegen.
Beschlossen wurde dort folgende Formulierung:
Aus den politischen Herausforderungen und den Ergebnissen der MBNA ergibt sich die Notwendigkeit, das zentralistische Element unseres Organisationsprinzips zu betonen. Dies ist die Voraussetzung dafür, das demokratische Element weiterentwickeln zu können, dient also dazu, größere Teile der Partei bestmöglich in die Beschlussfassung einzubeziehen....
Wir wollen in den kommenden vier Jahren das Zusammenspiel von Parteivorstand, Bezirksorganisationen, Kreisen und Parteigruppen besser aufeinander abstimmen und dem formulierten Ziel, dass sich die übergeordneten Leitungen auf die Stärkung der Grundorganisationen konzentrieren, näher kommen.
Unsere Partei verfügt bezüglich der Prinzipien ihrer Organisiertheit über viel Erfahrung. Willi Gerns bezog sich 1977 in einem PV-Referat aber auch auf Lenins Schrift „Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung“. Sie ist 1902 veröffentlicht worden.
„'Was tun?' ist und bleibt eines der bedeutendsten Werke des wissenschaftlichen Sozialismus, dessen grundlegende Thesen zum unverzichtbaren ideologischen Rüstzeug jeder kommunistischen Partei und eines jeden Kommunisten gehören. In prinzipieller Auseinandersetzung mit dem Opportunismus entwickelt Lenin in seiner Schrift eine Reihe theoretischer Grundfragen des Marxismus für die neuen Bedingungen des Klassenkampfes der Arbeiterklasse im Imperialismus weiter. Das betrifft insbesondere die marxistische Parteitheorie, die Bedeutung der ideologischen Arbeit der Partei und ihres Kampfes gegen den Opportunismus.“
Lenin verfasste den Text vor dem Hintergrund einer schweren Krise der noch jungen russischen Sozialdemokratie. Deren ideologische und organisatorische Schwächen wurden nach einer Periode das Aufschwungs der Sozialdemokratie als gesellschaftliche Bewegung Ende der 90er Jahre des 19. Jahrhundert immer deutlicher. Lenin spricht von einer Periode der Zerfahrenheit, des Zerfalles und der Schwankungen, die ab 1898 einsetzte:
„Im Knabenalter erfolgt beim Menschen der Stimmbruch. Auch die Stimme der russischen Sozialdemokratie dieser Periode begann zu brechen, falsch zu tönen (…). Aber nur die Führer zogen getrennt einher und gingen zurück: die Bewegung selbst wuchs weiter und machte gewaltige Fortschritte. Der proletarische Kampf erfasste neue Schichten der Arbeiter und breitete sich über ganz Russland aus, während er gleichzeitig indirekt auch auf die Belebung des demokratischen Geistes in der Studentenschaft und in anderen Bevölkerungsschichten einwirkte. Die Bewußtheit der Führer jedoch kapitulierte vor dem Ausmaß und der Kraft des spontanen Aufschwungs (…). Die Führer waren nicht nur in theoretischer und praktischer Beziehung zurückgeblieben, sondern sie suchten ihr Zurückbleiben mit allerhand bombastischen Argumenten zu verteidigen.“ (LW 5, 539)
Es war die Unfähigkeit der Führung, die Aufgaben einer revolutionären Partei, die sich aus dem spontanen Aufschwung der Volksmassen, der Zunahme von Streiks und Massenprotesten ergaben, zu erfüllen. Statt dessen hatte sich in der russischen Sozialdemokratie eine opportunistische Richtung herausgebildet, die sogenannten Ökonomisten, die sich ausschließlich den Kampf für die nächsten und unmittelbaren Bedürfnisse der Masse auf die Fahne geschrieben hatte. Praktisch bedeutete dies das „Herabdrücken (der) politischen und organisatorischen Aufgaben auf das Niveau der nächsten, „greifbaren“, „konkreten“ Interessen des ökonomischen Tageskampfes“ (LW 5, 462), von Lenin „Handwerklerei“ genannt, gekennzeichnet durch „kleinlichen Praktizismus mit völliger theoretischer Unbekümmertheit“ und „revolutionären Kanzleibürokratismus“.
Aber, so Lenin:
„Der politische Kampf der Sozialdemokratie ist viel umfassender und komplizierter als der ökonomische Kampf der Arbeiter gegen die Unternehmer und die Regierung.“ (LW 5, 468)
Lenin schildert auch die Folge mangelnder Theorie, des Fehlens eines planmäßigen Vorgehens und der Beschränkung auf den Kampf in den Betrieben, nämlich das Hinterhertraben hinter den demokratischen Bewegung mit der Perspektive, als politische Kraft in die Bedeutungslosigkeit herabzusinken.
In der Auseinandersetzung mit den beiden Verlautbarungsorganen der Ökonomisten, der „Rabotscheje Delo“ (Arbeitersache) und „Rabotschaja Mysl“ (Arbeitergedanke), 
arbeitete Lenin als drängendste Aufgabe die Notwendigkeit der Bildung einer gesamtrussischen Organisation von Berufsrevolutionären heraus, die in der Lage ist, den einheitlichen Kampf gegen die zaristische Selbstherrschaft zu führen. Diese Organisation sollte nicht nur behaupten, „Avantgarde“ zu sein, sondern auch so handeln und zu einer politischen Kraft werden, die die kommunistische Propaganda und Agitation in alle Klassen der Bevölkerung trägt, alle Seiten des politischen Lebens bewertet, an der Hebung des eigenen Bewußtseins, Initiative und Tatkraft arbeitet und „die fähig ist, dem politischen Kampf Energie, Zähigkeit und Kontinuität zu verleihen.“ (LW 5, 461) Damit hat Lenin die Ansprüche formuliert, an denen sich auch heute noch jede kommunistische oder sich marxistisch-leninistisch nennende Partei messen lassen muss.
Eine revolutionäre Partei musste unter den Bedingungen der Illegalität und der Repressionen unter der zaristischen Selbstherrschaft notwendig die Form einer konspirativ arbeitenden und hoch zentralisierten Kampfgemeinschaft annehmen, wollte sie nicht der zaristischen Geheimpolizei zum Opfer fallen. Lenin:
„Wir schreiten als eng geschlossenes Häuflein, uns fest an den Händen haltend, auf steilem Weg und mühevollem Wege dahin. Wir sind von allen Seiten von Feinden umgeben und müssen fast stets unter ihrem Feuer marschieren.“ (LW 5, 364)
Allerdings stellt Lenin auch klar, dass
„die Zentralisierung der konspirativen Funktionen der Organisation“, 'wie z.B. die Herstellung von Flugblättern, die Aufstellung eines Plans in groben Umrissen, die Einsetzung eines Stabes von Leitern für jeden Stadtbezirk, für jedes Fabrikviertel, für jede Lehranstalt usw.' nicht 'die Zentralisierung aller Funktionen der Bewegung' bedeutet. Die Konzentrierung aller konspirativen Funktionen in den Händen einer möglichst geringen Zahl von Berufsrevolutionären bedeutet keineswegs, dass die Berufsrevolutionäre 'für alle denken werden', dass die Menge keinen tätigen Anteil an der Bewegung nehmen wird. (…). Die aktive Mitarbeit der breitesten Massen an der illegalen Literatur wird nicht geringer, sondern zehnmal stärker werden, wenn ein 'Dutzend' Berufsrevolutionäre die konspirativen Funktionen dieser Arbeit zentralisieren. So und nur so werden wir es erreichen, dass das Lesen der illegalen Literatur, die Mitarbeit an ihr, zum Teil auch ihre Verbreitung fast aufhören werden, eine konspirative Angelegenheit zu sein, denn die Polizei wird bald einsehen, wie sinnlos und unmöglich es ist, wegen eines jeden Exemplars der zu Tausenden verbreiteten Schriften endlose gerichtliche und administrative Verfahren einzuleiten. Und das gilt nicht allein für die Presse, sondern auch für alle Funktionen der Bewegung, einschließlich der Demonstrationen.“ (LW 5, 482).
Unter den Bedingungen der Illegalität und der Verfolgung konnte natürlich von der Einhaltung von demokratischen Prinzipien in einer klandestin wirkenden Kampforganisation keine Rede sein, weil schlichtweg die Voraussetzungen dafür fehlten:
„Jeder wird wohl zugeben, dass das 'umfassende demokratische Prinzip' die beiden folgenden notwendigen Vorbedingungen einschließt: erstens vollständige Publizität und zweitens Wählbarkeit aller Funktionäre. Ohne Publizität und dazu eine Publizität, die sich nicht nur auf die Mitglieder der Organisation beschränkt, wäre es lächerlich, von Demokratismus zu reden.“ Und an seine Kritiker aus den Reihen der Ökonomisten gerichtet, dass seine Ansichten undemokratisch seien, schreibt Lenin: „Es fragt sich: Welchen Sinn hat also die Aufstellung des 'umfassenden demokratischen Prinzips', wenn die wichtigste Vorbedingung dieses Prinzips für eine Geheimorganisation unerfüllbar ist? Das 'umfassende Prinzip' erweist sich einfach als tönende, aber hohle Phrase. Mehr als das. Diese Phrase zeugt von einem absoluten Unverständnis für die dringenden Aufgaben, vor denen wir gegenwärtig in organisatorischer Hinsicht stehen. Alle wissen, wie groß der Mangel an Konspiration ist, der bei uns unter der 'breiten' Masse der Revolutionäre herrscht. (…) Und nun kommen Leute, die sich mit ihrem 'Sinn fürs Leben' brüsten und die bei einer solchen Sachlage nicht die Notwendigkeit strengster Konspiration und der strengsten (folglich auch einer engeren) Auslese der Mitglieder betonen, sondern das 'umfassende demokratische Prinzip'! So etwas nennt man danebenhauen.“ (LW 5, 495)
Diese Polemik Lenins gegen das „umfassende demokratische Prinzip“ bezieht sich wohlgemerkt auf die Illegalität unter den Bedingungen der Selbstherrschaft. Denn hier seien es die Gendarmen, die die Auslese vornähmen.
Anders war die Lage in Ländern, in denen die Arbeiterklasse bereits politische Freiheitsrechte wie die Versammlungs- und die Pressefreiheit erkämpft hatte. Lenin verweist in diesem Zusammenhang auf Deutschland: „Als demokratisch bezeichnen wir Organisationen der deutschen sozialistischen Partei, denn in ihr geschieht alles öffentlich, die Sitzungen des Parteitages mit inbegriffen; aber niemand wird eine Organisation als demokratisch bezeichnen, die für alle Nichtmitglieder vom Schleier des Geheimnisses verhüllt ist.“ (LW 5, 495)
Die Wählbarkeit der Funktionäre ist nur der formale Teil der innerparteilichen Demokratie. Viel wichtiger ist die Diskussionsfreiheit, die Austragung und Klärung von politischen Meinungsverschiedenheiten und Differenzen. Lenin maß diesem Teil der innerparteilichen Demokratie einen besonderen Stellenwert zu. Seiner Schrift „Was tun?“ setzte er deshalb folgendes Zitat von Lassalles aus einem Brief an Marx vom 24. Juni 1852 voran: „Dass die Parteikämpfe gerade einer Partei Kraft und Leben geben, dass der größte Beweis der Schwäche einer Partei das Verschwimmen derselben und die Abstumpfung der markierten Differenzen ist, dass sich eine Partei stärkt, indem sie sich purifiziert, davon weiß und fürchtet die Behördenlogik wenig!“ (LW 5, 326)
„Bis zum Ende dieser Periode (gemeint ist die Zeitspanne während des Bürgerkriegs mit ersten Ansätzen der Planwirtschaft - d.Verf.) bestand in der kommunistischen Partei Rußlands eine zur Freiheit der innerparteilichen Fraktionsbildung weiterentwickelte Diskussionsfreiheit“, schreibt Wolfgang Abendroth in seiner Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung. Und weiter: „Lenins Parteitheorie war ursprünglich nur für eine streng illegale Partei gedacht gewesen, und nach der Revolution war die Partei der Berufsrevolutionäre bewusst in eine Massenpartei verwandelt worden. Jetzt, nach dem Ende des Bürgerkrieges, musste der systematische Aufbau vor allem der Industrie eingeleitet werden. Die Voraussetzung dafür war, dass man die Zentralen von Staat und Partei stärkte (auf Kosten der regionalen Autonomie) und die Industriearbeiter zur Arbeitsdisziplin erzog (auf Kosten der Selbstverwaltung der Betriebe und der Gewerkschaften). Über diese Ziele waren sich alle Gruppen der Partei außer der Fraktion der Arbeiter-Opposition einig. So kam es zu dem Beschluss des zehnten Parteitages, die innerparteiliche Fraktionsbildung zu verbieten.“ (Abendroth, Sozialgeschichte der europ. Arbeiterbewegung, S. 103)
Weit gefasst sind auch die Rechte der Mitglieder in unserem Statut. Dort heißt es unter Artikel 2 „Rechte und Pflichten“: „Alle Mitglieder haben gleiche Rechte. Dazu gehören das Recht, an der Erarbeitung der Politik der Partei und ihrer Beschlussfassung mitzuwirken, seine Meinung in allen die DKP betreffenden Angelegenheiten frei zu äußern und sie im Rahmen der Möglichkeiten in Parteipublikationen zu vertreten und das Recht einzeln oder in Verbindung mit anderen Mitgliedern politische Positionen, Kritik und Vorschläge zu entwickeln, in den Zusammenkünften und Publikationen der Partei alternative politische Positionen zu vertreten und dafür in unserer Partei zu werben.“
Die Handlungsorientierung wurde mit großer Mehrheit beschlossen. Sie sieht die „Betonung des zentralistischen Elements“ vor. Die „bewusste Unterordnung der Minderheit“ solle wieder „stärker gelebt“ werden. Per Anleitung sollen die zentralen Orientierungen der Parteitage und des Parteivorstands auf alle Ebenen der Partei „heruntergebrochen“ und deren Umsetzungen kontrolliert werden. Unser Bezirk Rheinland-Westfalen nimmt diesbezüglich eine Vorreiterrolle ein.
Ein solches auf dem Top-down-Prinzip beruhendes Parteienverständnis wird mit den oben zitierten weitreichenden demokratischen Rechten der Mitglieder nur schwer in Einklang zu bringen sein. Folglich wurde ebenfalls mit großer Mehrheit beschlossen, das Statut zu überarbeiten. Damit ist bis zum nächsten Parteitag zu rechnen.
Lenin war mehrfach veranlasst, vor Bürokratismus zu warnen, unter anderem in „Staat und Revolution“ (LW 23, 502) und auf dem Vlll. Parteitag der KPR (B) (LW 29, 164): Zu seinen Erscheinungsformen zählte er übertriebenes Festhalten an einmal Festgelegtem, Einseitigkeit, Trägheit, Mangel an Initiative, Vorliebe für Kampagnen, Verzettelung in Detailfragen, Anwendung administrativer Methoden bei der Lösung von Fragen, die mit diesen Methoden nicht lösbar sind oder nicht mit diesen Methoden gelöst werden müssen, ungenügendes Vertrauen in die Möglichkeit anderer Lösungen und übermäßige Betonung des Prinzips der Unter- und Überordnung.
Raimund, Dirk, Klaus
MV der Gruppe DKP Köln-Innenstadt, 27. Oktober 2025