Jugend

Einmal Istanbul und zurück – Ein Reisebericht

Mit europäischen Beobachtern auf dem Taksim

Demonstranten flüchten vor Reizgas.

Als Teil ei­ner eu­ro­päi­schen De­le­ga­ti­on reis­ten Max aus Frank­furt und ich für ein Wo­chen­en­de nach Is­tan­bul. Als Be­ob­ach­ter­de­le­ga­ti­on woll­ten wir uns selbst ein Bild von der Pro­test­be­we­gung ma­chen und die Ge­le­gen­heit nut­zen, um uns mit Ge­nos­sIn­nen vor Ort, aber auch mit an­de­ren ak­ti­ven Kräf­ten in der Be­we­gung aus­zu­tau­schen.

Es geht nicht nur um ein paar Bäume

Wir führ­ten Ge­sprä­che mit der Ge­werk­schaft, dem op­po­si­tio­nel­len Sen­der Ha­yat TV und be­such­ten die Strei­ken­den der Ha­va I?-Ge­werk­schaft. Vor al­lem aber ver­brach­ten wir viel Zeit im Ge­zi Park. Die­ser Ort, an dem die Pro­tes­te ih­ren An­fang fan­den, hat­te sich von ei­nem ein­fa­chen öf­fent­li­chen Park in ei­nen Ort der So­li­da­ri­tät und des Wi­der­stands ver­wan­delt. Kur­den leb­ten hier ne­ben Tür­ken, Na­tio­na­lis­ten ne­ben So­zia­lis­ten, vie­le der Be­set­zer des Ge­zi Parks wa­ren vor­her noch nie auf ei­ner De­mons­tra­ti­on ge­we­sen. Auf­fäl­lig ist das jun­ge Al­ter der De­mons­tran­ten: 90% sind zwi­schen 19 und 30 Jah­re alt. Die Prä­mis­se: Nie­mand muss hier für die Din­ge zah­len, die er zum täg­li­chen Le­ben braucht – egal, ob es sich da­bei um Le­bens­mit­tel, Klei­dung oder Zi­ga­ret­ten han­delt. Un­er­müd­lich küm­mer­ten sich die Men­schen um ih­ren Park. Selbst­ver­ständ­lich sind der Park und die mit ihm ein­her­ge­hen­den Pro­tes­te ein Dorn im Au­ge des tür­ki­schen Mi­nis­ter­prä­si­den­ten Tay­yip Er­do­gan. Je­dem im Park ist klar, dass es in die­sem Kampf nicht um ein paar Bäu­me geht. Hier füh­ren Men­schen den Kampf ge­gen ei­ne Re­gie­rung, die sie seit Jah­ren un­ter­drückt und zur Un­mün­dig­keit er­zieht. Das Tak­sim-So­li­da­ri­täts­ko­mi­tee, das be­reits seit über zwei Jah­ren ar­bei­tet, um ei­ne Be­bau­ung des Parks zu ver­hin­dern, war nur der Aus­lö­ser. Je­den Tag aufs Neue müs­sen sich die Pro­tes­tie­ren­den ver­tei­di­gen. Sechs To­te wer­den bis­her be­zif­fert; für sie gab es ein Denk­mal aus Holz­lat­ten an ei­ner zen­tra­len Stel­le im Park: »Tak­sim ge­hört dem Volk« steht dort ge­schrie­ben.

CS-Gas Wolke

Am ei­ge­nen Leib er­fuh­ren wir dann am Sams­tag­abend die Räu­mung des Ge­zi Parks. Was wir am Tag zu­vor noch als Mit­tel­punkt so­li­da­ri­schen Mit­ein­an­ders er­leb­ten, wur­de zu­min­dest au­gen­schein­lich in­ner­halb we­ni­ger Stun­den dem Erd­bo­den gleich ge­macht. Plötz­lich be­stand der Park und spä­ter ganz Tak­sim aus ei­ner ein­zi­gen CS-Gas Wol­ke, tau­sen­de von Men­schen wur­den wie Vieh erst aus dem Park und letzt­end­lich durch die Stra­ßen Tak­sims ge­trie­ben. Im­mer wie­der muss­ten wir den Ga­s­pa­tro­nen aus­wei­chen, die oft nur ei­nen Me­ter ne­ben uns zu Bo­den gin­gen oder von den Po­li­zis­ten wahl­los in Kel­ler­fens­ter ge­wor­fen wur­den, stun­den­lang war un­se­re De­le­ga­ti­on in al­le Tei­le von Tak­sim zer­split­tert und muss­te sich auf ei­ge­ne Faust durch­kämp­fen. Im­mer wie­der hal­ten De­mons­tran­ten Kran­ken­wa­gen an, um zu kon­trol­lie­ren, dass sie nichts au­ßer Ver­letz­te trans­por­tie­ren. Wei­gern sich die Fah­rer, die Tü­ren zu öff­nen, wer­den sie ge­zwun­gen. Wir ha­ben Pro­tes­tie­ren­de be­ob­ach­tet, die die Sa­ni­tä­ter am Kra­gen aus dem Fens­ter zo­gen: »Mach die Tür auf, lass mich in den Wa­gen se­hen – ich ha­be nichts zu ver­lie­ren!«

Machtdemonstration

Mit die­ser Macht­de­mons­tra­ti­on Er­do­gans mach­te sel­bi­ger ei­nen gro­ßen Feh­ler. Das tür­ki­sche Volk und vor al­lem die Ju­gend wol­len sich nicht mehr beu­gen und for­der­ten an die­sem Abend wie auch schon in den Wo­chen zu­vor den Rück­tritt des Mi­nis­ter­prä­si­den­ten. Dass die aku­tes­te Ge­fahr für die Be­set­zer des Ge­zi Parks die von der Re­gie­rung ge­steu­er­te Po­li­zei ist, wur­de an die­sem Abend nur all­zu deut­lich. Noch an dem­sel­ben Mor­gen er­klär­te der Vor­sit­zen­de der KESK-Ge­werk­schaft La­mi Öz­gen: »Wir be­zeich­nen die Po­li­zei-An­grif­fe nicht als sol­che. Für uns ist das Staats­ter­ror.« Auf die Fra­ge hin, was wir als De­le­ga­ti­on und Ak­ti­ve in un­se­ren Län­dern tun kön­nen, um die Pro­tes­te zu un­ter­stüt­zen, ant­wor­tet er: »Wir se­hen die star­ke Ver­bin­dung zwi­schen der tür­ki­schen Re­gie­run­gen und de­nen der an­de­ren eu­ro­päi­schen Län­der und wir sind uns be­wusst, dass sie auf­grund öko­no­mi­scher In­ter­es­sen un­se­re de­mo­kra­ti­schen Rech­te be­hin­dern. Was ihr tun könnt: Be­rich­tet von der star­ken Op­po­si­ti­on, der sich die tür­ki­sche Re­gie­rung ge­ra­de stel­len muss, macht mit bei den So­li­da­ri­täts­be­we­gun­gen und Streiks in eu­ren Län­dern, übt Druck auf eu­re ei­ge­ne Re­gie­rung aus. Wenn auch nicht welt­weit, soll­ten wir doch in der La­ge sein, die Pro­tes­te zu­min­dest im eu­ro­päi­schen Maß­stab zu ver­knü­fen. Wenn die an­de­ren eu­ro­päi­schen Län­der sich auf­grund öko­no­mi­scher In­ter­es­sen ge­gen­sei­tig ver­knüp­fen, dann soll­ten wir das erst recht!«

Begrenzt handlungsfähig

Recht hat er, doch ein­fach ist es für die­se Be­we­gung nicht. So breit sie auch auf­ge­stellt ist, so hat sie auch ih­re Schwä­chen. Es gibt kei­ne trei­ben­de Kraft, die ei­ne Al­ter­na­ti­ve zu ei­nem Er­do­gan-Re­gime auf­macht, die die Al­ter­na­ti­ve ei­ner an­de­ren Ge­sell­schaft auf­greift. Die Ge­fahr des lang­sa­men Ein­stamp­fens die­ser Be­we­gung, egal ob durch Er­schöp­fung oder Re­pres­sio­nen sei­tens des Staa­tes, wächst ste­tig. Auch die Ge­werk­schaf­ten sind nur be­grenzt hand­lungs­fä­hig – sie wer­den von Sei­ten des Staa­tes als Op­po­si­ti­on ge­zielt ein­ge­stampft, füh­ren­de Kräf­te je­den Tag ver­haf­tet. Ein an­ge­kün­dig­ter Ge­ne­ral­streik fand nicht statt. Auch die Be­tei­li­gung der Ar­bei­ter­klas­se an den Pro­tes­ten ist be­grenzt, Tei­le fin­den sich zwar in den Pro­tes­ten wie­der, aber den Gro­ß­teil konn­te die­se Be­we­gung noch nicht mit ein­bin­den. Trotz die­ser Schwä­chen be­grü­ßen und un­ter­stüt­zen wir die Pro­tes­te in der Tür­kei, die mitt­ler­wei­le ih­ren Fo­kus nicht mehr nur auf Tak­sim ha­ben. Auch an­de­re Städ­ten wie An­ka­ra oder Iz­mir zie­hen die Auf­merk­sam­keit auf sich, die Form der Pro­tes­te ent­wi­ckelt sich; und wir be­ob­ach­ten selbst­ver­ständ­lich wei­ter­hin ih­re Ent­wick­lung.

Mina, SDAJ Köln
Foto: radikal.com.tr


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