Politik

weitere Destabilisierung des Mittleren Ostens?

Die Sorge vor einer weiteren Destabilisierung des Mittleren Ostens wächst

13.03.2017: Ein Interview mit Salam Ali, Mitglied des Zentralkomitees der Irakischen Kommunistischen Partei (ICP), über den Krieg gegen den IS, die Nahost-Politik von Donald Trump, einen unabhängigen kurdischen Staat und die innenpolitische Auseinandersetzungen im Irak.

Frage: Beginnen wir dieses Gespräch mit einer Frage über die Entwicklung des Krieges gegen den IS. Das Ziel ist ja, den IS zu besiegen und aus dem Irak zu vertreiben. Nach den neuesten Informationen haben die irakischen Streitkräfte den Flughafen und westliche Stadtgebiete von Mosul  zurückerobert. Können Sie etwas darüber sagen, welche Bedeutung dies für die Zukunft der Sicherheit im Irak und für die Anwesenheit von ausländischem Militär, insbesondere von US-Militär, hat.

Salam Ali: Die Schlacht zur Befreiung von Mosul vom IS geht nach der erfolgreichen Einnahme des Ostteils weiter. Die irakischen Streitkräfte haben den Flughafen, ein großes Militärcamp und drei Stadtteile eingenommen. Der Ausgang dieser Schlacht hat enorme politische Bedeutung für den Irak, denn er trägt zur Gestaltung der politischen Landschaft nach dem Sieg über den IS bei. Das Land steht dann verschiedenen Herausforderungen gegenüber. Dies beinhaltet die Fähigkeit der Sicherheitskräfte Operation von terroristischen 'Schläferzellen' zu verhindern, das Schicksal paramilitärischer Formationen, die Zukunft der zwischen Bundesregierung und der Regionalregierung Kurdistans (KRG) 'umstrittenen Territorien', die Pläne zur Aufteilung der Provinz Nineveh in mehrere Provinzen. Zusätzlich besteht die Notwendigkeit für konkrete Maßnahmen zur gesellschaftlichen und nationalen Aussöhnung und zur Schaffung eines gesellschaftlichen Friedens sowie zur Abwehr aller Pläne zur Teilung des Irak.

Der militärische Erfolg in Mosul ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Befreiung aller Städte und aller Regionen des Irak von der Geißel des Terrorismus, zu Sicherheit und Stabilität und für die Rückkehr von mehr als drei Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen in ihre Städte und Häuser.

Ein wichtiger Faktor für den Erfolg auf dem Schlachtfeld liegt in der guten Kooperation zwischen der irakischen Armee, den Volksmobilisierungkräften (PMF) und den Peshmerga der KRG. Der Irak erhält in Übereinstimmung mit den Resolutionen des UN-Sicherheitsrates internationale Unterstützung für den Kampf gegen den IS. Im militärischen Bereich konzentriert sich diese Unterstützung hauptsächlich auf das Training und die Beratung der irakischen Streitkräfte. Die irakische Regierung hat den Einsatz von ausländischen Kampfeinheiten, auch von US-Einheiten, abgelehnt und hat ihre Gegnerschaft zu ausländischen Militärstützpunkten wiederholt bekräftigt.

Frage: Es gibt Berichte über die bedeutende Rolle von Peshmerga und schiitischen Milizen im Kampf gegen den IS. Können sie deren Rolle erklären und etwas dazu sagen, ob diese verschiedenen Kräfte unterschiedliche Schwerpunkte im Kampf gegen den IS setzen.

Salam Ali: Der militärische Plan für die Befreiung von Mosul sichert eine gute Koordinierung zwischen den irakischen Streitkräften, den Peshmerga und den PMF. Die Armee und die Bundespolizei haben die Aufgabe die Stadt selbst zu befreien. Die Peshmerga unterstützen im Osten und die PMF im Westen. Letztere greifen den IS in der Gegend um die Stadt Tal Afar, westlich von Mosul, an und unterbrechen seine Verbindungslinien zur syrischen Grenze. Wenn man jedoch die Kooperation zwischen Bundesregierung und KRG betrachtet, dann erreicht die politische und wirtschaftliche Kooperation nicht das Niveau derjenigen im militärischen Bereich. Dies ist einer der Aspekte der tiefgreifenden politischen Krise des Irak. Dies muss auf friedliche Weise im Dialog zwischen den beiden Seiten auf der Grundlage der Verfassung gelöst werden.

Wichtig ist zu erwähnen, dass die PMF nicht nur aus 'schiitischen Milizen' bestehen, sondern auch aus Freiwilligen, die diese Einheiten seit eines kritischen Moments im Kampf gegen den IS Mitte 2014 unterstützen. Die PMF wird als vorübergehende Institution betrachtet und untersteht dem Oberkommandierenden der Streitkräfte des Irak, dem Premierminister. Ihre Aufgabe wird beendet sein, wenn der IS endgültig besiegt ist. Diejenigen Elemente innerhalb der PMF, die zu konfessionellen Tendenzen aufrufen und das Gesetz verletzen, müssen konsequent entfernt werden. Es ist von höchster Dringlichkeit, dass die Existenz von Milizen und Paramilitärs, die nicht unter Kontrolle des Staates stehen, beendet wird.

Frage: Der Irak hat stark unter den Ergebnissen von religiösen Auseinandersetzungen und der Tatsache gelitten, dass Saudi Arabien, der Iran und die Türkei einen Stellvertreterkrieg führen - wie auch im Jemen oder Syrien. Wie schätzen Sie die Chance ein, dass die irakische Regierung diese Einflüsse überwinden und eine souveräne, nationale Politik verfolgen kann?

Salam Ali: Die irakische Regierung versucht zu vermeiden, dass sie Partei für eine Seite ergreift oder in eine Allianz gezogen wird, die von Saudi Arabien, der Türkei oder dem Iran geführt wird und die religiöse Polarisierung in der ganzen Region vertieft. Diese Aufgabe wird erschwert durch die tiefe innere politische Krise, die durch das System der religiösen-ethnischen Quoten verursacht ist. Dieses System der religiös-ethnischen Quoten [1] wurde dem Irak nach dem Krieg der USA und der Invasion 2003 aufgezwungen. Die herrschenden politischen Gruppen, die sowohl die Macht auf Grundlage dieses Systems teilen als auch religiöse Politiken verfolgen, haben enge Verbindungen zu den vorher genannten Regionalmächten. Viele sind ihre Handlanger. Politische Kämpfe zwischen diesen Gruppen um Macht und Reichtum haben die Türe für Einmischung von außen geöffnet und den Irak zu einem Schlachtfeld für Stellvertreterkriege gemacht. Dies wird noch weiter kompliziert durch die neue US-amerikanische Regierung unter Donald Trump und dessen eskalierende Konfrontation mit dem Iran. Die wachsenden Spannungen zwischen den USA und dem Iran rufen zusätzliche Probleme für die irakische Regierung und die Beziehungen mit beiden Seiten hervor. Die gegenwärtige Entwicklung auf regionaler und internationaler Ebene kann ernste Auswirkungen auf den Irak zeitigen –nicht nur für den laufenden Kampf gegen den IS, sondern auch für die Zeit nach dem IS.

Frage: Wie sieht die Partei die regionalen Wirkungen der Politik von Trump gegenüber der Türkei und Saudi Arabien?

Salam Ali: Wie ich schon sagte, mit den ersten Schritte der neuen US-Regierung wächst die Sorge vor einer weiteren Destabilisierung des Mittleren Ostens: Unterstützung für die aggressive Politik Israels gegenüber den PalästinenserInnen, Vertiefung der religiösen Polarisierung, Eskalation der Spannungen und Konfrontation mit dem Iran. Diese Schritte wurden von Saudi Arabien und seinen Golf-Alliierten begrüßt. Solche Entwicklungen können jedoch für die Bevölkerung und die Länder einer Region, die unter Terrorismus, Militärinterventionen und Stellvertreterkriegen von regionalen und internationalen Mächten leidet, schwerwiegende Folgen haben.

Es besteht die Gefahr wachsender militärischer Einmischung in der Region durch die USA, mit Anwendung größeren Drucks durch direkte militärische Präsenz und der Entsendung von Kampfeinheiten. Die Bevölkerung des Irak und die anderen Völker in der Region wären die Opfer dieser kriegshetzerischen Politik des Imperialismus und seiner reaktionären Verbündeten in der Region. Für den Irak ist es deshalb von höchster Dringlichkeit, diesem Druck zu widerstehen und für gute und friedliche Beziehungen mit allen seinen Nachbarn einzutreten – basierend auf Kooperation, gegenseitigem Respekt und Anerkennung gegenseitiger Interessen, und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten.

Frage: Es deutet einiges darauf hin, dass in den nächsten Monaten ein unabhängiger kurdischer Staat gebildet werden könnte. Wie ist die Position der ICP in dieser Frage?

Salam Ali: Die ICP unterstützte schon immer das Recht der kurdischen Bevölkerung auf Selbstbestimmung. Wir treten für das Recht auf Selbstbestimmung für alle Völker ein, kleine und große. Die ICP hat immer darum gekämpft diese generelle Haltung in spezifische Formen umzusetzen, die die bestehenden politischen Realitäten und gesellschaftlichen Bedingungen, die äußeren Entwicklungen und die damit zusammenhängende Faktoren sowie die Kräfteverhältnisse im Irak berücksichtigen.

Deshalb hat die ICP spezifische Position erarbeitet, die die legitimen nationalen Rechte der KurdInnen reflektieren; erst in Autonomie und schließlich in einem föderalen irakischen Kurdistan innerhalb eines vereinigten, föderalen und demokratischen Irak. Dies war die Position der irakischen Opposition vor dem Fall der Diktatur im Jahr 2003 und wurde später für die Verfassung von 2005 verlangt.

In Anbetracht der gegenwärtigen konkreten Bedingungen des Irak hält die ICP den Föderalismus für die geeignete und demokratische Lösung für die kurdische nationale Frage. Die neuen föderalen Erfahrungen mit ihrer Komplexität und den internen und externen Herausforderungen erfordern einen kontinuierlichen konstruktiven Dialog, um die Probleme und entstehende Differenzen zu lösen.

Es ist auch sehr wichtig, dem Einfluss von chauvinistischen und rassistischen Elementen, engstirnigen nationalistischen Positionen und Sabotage durch externe Kräfte entgegenzutreten, die einen stabilen, demokratischen Irak verhindern wollen – einen Irak, der auf der Basis des Respekts des Pluralismus und der Verschiedenartigkeit vereinigten ist.

Dieser Wunsch und die Bestrebungen unserer Partei in diese Richtung sind mit Hindernissen durch die herrschenden politischen Kräfte konfrontiert. Diese verteidigen engstirnige Interessen, die durch das schändliche religiöse-ethische Quotensystem produziert werden.

Die Beziehungen zwischen der Bundesregierung und der Regionalregierung Kurdistans (KRG) werden immer mehr mit Spannungen aufgeladen. Dies ist das Ergebnis der Ansammlung ungelöster Probleme, unerfüllter Vereinbarungen und anderer schädlicher Maßnahmen, für die beide Seiten verantwortlich sind. Dies wurde noch zusätzlich kompliziert durch die Angriffe des IS im Jahr 2014 und der darauf folgenden Vertreibung von Millionen Menschen. Der kurdischen Region wurde damit eine schwere Last aufgebürdet. Und dies fällt zusammen mit geringeren finanziellen Mittel des Staates auf Grund des gesunkenen Ölpreises und von Austeritätsmaßnahmen.

Wir denken, dass im Moment die Priorität im Kampf gegen den Terrorismus, dem Aufbau der Demokratie und ihrer Institutionen und der Aktivierung des Dialogs liegen muss. Dies ist der Weg, um die Erfahrungen des Föderalismus zu stärken - als Dienst an den Rechten der kurdischen Bevölkerung und der gesamten Bevölkerung des Irak.

Frage: Vor wenigen Wochen fanden in Bagdad große Demonstrationen gegen die Korruption und das undemokratische Wahlsystem statt. Dabei wurden viele DemonstrantInnen getötet. Worin liegt der zentrale Grund für die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierung von Premierminister Haider Al.Abadi?

Salam Ali: Seit Juli 2015 gibt es Massendemonstrationen auf dem Tahir-Platz in Bagdad und in anderen Provinzen. Bei diesen Demonstrationen werden populäre Forderungen gegen die Korruption und das System der religiösen-ethnischen Quoten vertreten und es wird eine sofortige Reform des politischen und Rechtssystems verlangt. Ebenso wird die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen gefordert.  Die friedlichen Demonstrationen verurteilen die religiösen Politiken und fordern einen demokratisch-bürgerlichen Staat als Alternative.

Die jüngsten Demonstrationen in Bagdad forderten auch den Ersatz der Wahlkommission durch eine wirklich unabhängige Kommission, die nicht auf dem religiös-ethnischen Proporz beruht. Die DemonstrantInnen fordern ein gerechtes Wahlgesetz. Der herrschende Block und dessen Repräsentanten im Parlament wollen für die Provinzwahlen im September ein Wahlgesetz mit dem Ziel einer deutlich höheren Wahlhürde und der Absicherung, dass die demokratischen Kräfte marginalisiert werden. Dagegen richteten sich die Demonstrationen.

Am 11. Februar 2017 wurde eine große Demonstration mit scharfen Schüssen, Plastikgeschoßen und Tränengas von undurchsichtigen, bewaffneten Elementen innerhalb der Sicherheitskräfte brutal angegriffen. 12 Menschen wurden getötet, Hunderte verletzt. Premierminister Haider al-Abadi ordnete eine Untersuchung an, aber es kam nichts dabei heraus. Wenige Tage später fand eine riesige Demonstration statt. Die DemonstrantInnen trugen symbolisch Särge und forderten, dass die Verantwortlichen für diese Verbrechen vor Gericht gebracht werden.

Die populare Protestbewegung entwickelt sich vor dem Hintergrund einer tiefen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise. Gesellschaftliche und klassenbezogene Ungleichheiten haben sich im Ergebnis der starken Polarisierung bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen vertieft. Die Irakische Kommunistische Partei unterstützt mit allen Kräften die Protestbewegung und ihre legitimen Forderungen. Wir denken, dass eine wirkliche Reform, die ein erster Schritt zu einer Veränderung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Struktur wäre, nur durch die Ausweitung des Drucks der Bevölkerung erreicht werden kann.

Frage: Im Dezember 2016 fand der 10. Nationalkongress der ICP statt. Was sind die wichtigsten Ergebnisse und wo liegt der Schwerpunkt der Partei in kurzer und mittlerer Sicht?

Salam Ali: Der 10. Kongress fand in Bagdad vom 1. bis 3. Dezember statt. Die Losung des Parteitags war: "Veränderung .. Für einen demokratisch-bürgerlichen Bundesstaat und für soziale Gerechtigkeit". Der Kongress erarbeitet die Vorstellung der Partei für die Veränderung hin zu einer demokratischen Alternative.

Die gewünschte Veränderung kann nur durch den Aufbau eines Systems der politischen Alternative gebracht werden, das mit dem Machtmonopol bricht, das auf sekundären Identitäten beruht und dieses reproduziert. Die demokratische Alternative sichert einen Wiederaufbau der Ökonomie, der Gesellschaft und des Staates auf einer neuen Basis. Der Staat basiert auf dem Prinzip der Staatsbürgerschaft mit Gleichheit für alle BürgerInnen, ohne Diskriminierung auf Grund des Geschlechts, der ethnischen Zuordnung, der Hautfarbe, der Religion, der Sekte, des Glaubens, der Meinung oder des gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Status -ein Staat der Institutionen und des Rechts, der ein würdiges Leben der BürgerInnen durch fortgeschrittene soziale Sicherheit, angemessene Mittel für soziale Gerechtigkeit und der Verbindung zwischen politischer und gesellschaftlicher Demokratie gewährleistet.

Um diesen demokratischen Bundesstaat zu erreichen, ist ein beharrlicher und wachsender Kampf zur Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse zu Gunsten des Projekts der Veränderung und seiner UnterstützerInnen erforderlich. Dies kann erreicht werden durch eine starke demokratische Bewegung, durch die Bildung religionsübergreifender Allianzen und die Mobilisierung eines breiten Spektrums von Kräften, die Reformen und Veränderung unterstützen. Der Kampf gegen die Korruption ist ein Hauptfaktor in dieser Auseinandersetzung.


Quelle: Iraqi Communist Party – Interview on latest developments in Iraq and the Party’s 10th National Congress
with Comrade Salam Ali,
member of the Central Committee of the Iraqi Communist Party,
with the “Nameh Mardom”,
the central organ of the Tudeh Party of Iran,
published on 6 March 2017 


[1] Anmerkung der Redaktion: Der Irak ist eine föderative Republik mit dem Islam als Staatsreligion. Das Einkammer-Parlament (Madschlis an-Nuwaab) besteht aus 275 gewählten Mitgliedern, 25% der Sitze sind für Frauen reserviert. Die Wahl findet alle 4 Jahre statt. Die Wahl des dreiköpfigen Präsidentschaftsrats, der aus dem Präsidenten und 2 Vizepräsidenten besteht, erfolgt durch das Parlament.       
Die Verteilung der wesentlichen staatlichen Ressourcen für Gesundheitswesen, Polizei und Gerichtswesen, Infrastruktur oder Bildungswesen steht von vornherein fest. Sie geschieht auf nationaler Ebene nicht in erster Linie abhängig von Wahlergebnissen oder politischen Entscheidungen, sondern auf der Basis von demografischen religiös-ethnischen Quoten.So ist der Parlamentspräsident immer Sunnit, der Präsident ein Kurde und der Regierungschef Schiit. Alle drei Spitzenämter haben wechselseitige politische Vetorechte.