Partei

Lenins «Partei neuen Typus» im Widerstreit der An- und Draufsichten*

Lenin im neu eingerichteten Rat der Volkskommissare (Petrograd, 10. März 1918)

 

«Die Bolschewiki waren stark, weil ihre Leitung kollektiv nach Lö­sungen suchte»


Als Günter Judick vor zehn Jahren, auf unserer Konferenz zum 90. Jahrestag der Großen Sozialisti­schen Okto­ber­revolution, zu uns sprach, lautete eine seiner Thesen: «Die Bolschewiki siegten auf dem Weg zum Oktober als diskutierende und in entscheidenden Situationen einheitlich handelnde Partei.

Im Leitungskollektiv der Partei waren die unterschiedlichen Positionen vertreten. Mit Lenin wirkten alte Bolschewiki wie Kamenew, Sinowjew, Stalin ebenso wie der neu zu den Bolschewiki gekommene Trotzki. Fast alle gerieten bei den komplizierten Vorgängen zeitweilig in Detailfragen in Widerspruch zu Lenin, doch es war gerade dessen Autorität, die es schaffte, auch nach harten Diskussionen wie­der zu gemeinsamer Arbeit zu fin­den. [1]

Günter Judick hat damit zwei Kernprobleme antikapitalistischer, sozialistischer Bewegung ange­sprochen – zum einen die Unabdingbarkeit einer vom Marxismus, der Theorie von Marx, Engels und Lenin, inspirierten revolutionären Partei als politischer Vorhut, Führungskraft, zum anderen die kon­krete Gestaltung der Organi­siert­heit, des inneren Lebens dieser Partei auf eine Weise, die ihre größte Kraftentfaltung, ihr effektivstes Wir­ken gewährleistet.

Verständlich, dass die herrschende Großbourgeoisie wie vor 170 Jahren das «Gespenst des Kom­munismus» beschwört und kommunistische Parteien sozusagen als das Zentrum im «Reich des Bö­sen» mit allen Mitteln diffamiert und verfolgt. Ablehnung kommt aber auch von anderer Seite.

Heute wird vielfach, in kleinen und kleinsten Gruppen, aber auch in breiten sozialen Bewegungen, die Mei­nung vertreten, Parteien hätten sich überlebt und sollten den neuen Bewegungen Platz ma­chen. Das widerspie­gelt das Versagen vieler Parteien vor den Herausforderungen der Gegenwart – auch sozialdemokrati­scher und pseudo-sozialistischer Parteien, die sich vom Ziel der Ablösung des Kapitalismus durch eine sozia­lis­tische Ge­sellschaftsordnung verabschiedet haben. Jüngstes Beispiel ist das Fiasko der französischen Sozialis­tischen Partei im ersten Wahlgang der Präsidentenwahl. Sol­che Parteien haben sich in der Tat überlebt. Nicht überlebt aber haben sich Parteien, die im Geiste von Marx, Engels und Lenin wirken. Sie können – und müssen – den neuen sozialen Bewegungen echte Partner – nicht «Führer» – sein, den Bewegungen, die, so machtvoll sie auch sein mögen, auf Grund ihrer Breite, aber auch Spezifik, und ihrer Heterogenität – die gerade ihre Stär­ke ausmachen – nicht die Aufgaben einer progressiven, revolutionären politischen Partei erfüllen können. Für so­zia­listi­sche, kommunistische Parteien, die im Sinne von Marx und Lenin wirken, ist das eine enorme Heraus­forderung.

 


Konspirative Kaderpartei?

Ein (an sich schon pseudowissenschaftliches) Standardargument gegen die revolutionäre marxisti­sche Partei (und auch für die Verteufelung frühsozialistischer Staaten auf Grund der Führungsrolle solcher Parteien) ist die geschichtsfälschende Behauptung, Lenin habe die (den konkreten histori­schen Bedingungen geschuldete) enge, zentralistische, konspirative Organisation von Berufsrevolutio­nären bis 1905 als den für alle Zeiten und Länder verbindlichen Parteityp verfochten. Es ist schon ein völlig ahistorisches Herangehen, nicht zu berücksichtigen, dass die von Lenin in «Was tun?», auf dem II. Parteitag der SDAPR und in seiner Schrift «Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück» vorgetrage­nen Gedanken einfach der aufgezwungenen Illegalität, dem Wirken des zaris­ti­schen Polizei- und Justizapparats Rechnung trugen, tragen mussten.

Aber einfach unredlich ist es, zu ignorieren, dass Lenin schon kurze Zeit später, während des revo­lutionären Aufschwungs 1905, entsprechend den veränderten Kampfbedingungen eine jähe Wende vollzog und sein Par­tei­konzept ganz wesentlich veränderte. Das widerspiegelte vor allem sein grund­sätzlicher Artikel «Über die Re­or­ganisation der Partei» vom November 1905.

Er begann ihn mit der Feststellung: «Die Bedingungen für die Tätigkeit unserer Partei verändern sich von Grund aus.»[2] Er verwies auf die erkämpfte Versammlungs-, Koalitions- und Pressefreiheit, warnte vor Illu­sio­nen, aber betonte, dass es «unbedingt notwendig» sei, «die jetzige, verhältnismäßig größere Bewegungs­frei­heit weitestgehend auszunutzen. … neben dem konspirativen Apparat immer mehr neue, legale und halblegale, Parteiorganisationen (und sich an die Partei anlehnende Organisa­tionen) zu schaffen.»[3] «Man muss sich schnellstens auf neue Art organisieren...»[4] Erforderlich sei nun die maximale Entfaltung der innerparteilichen Demokratie. «Unsere Partei ist zu lange in der Ille­galität gewesen. Sie ist in den letzten Jahren darin fast erstickt...»[5]; sie tue jetzt den «entscheidenden Schritt zur vollen Verwirklichung des demokratischen Prinzips in unserer Parteiorganisation.»[6] Das heiße vor allem, «sofort, unverzüglich beginnen, das Prinzip der Wähl­bar­keit anzuwenden»[7]. Schließ­lich: «Um die Organisation auf eine neue Grundlage zu stellen, ist ein neuer Parteitag unerlässlich.»[8] Lenin beschränkte sich also nicht auf die Realisierung der genannten Umgestaltun­gen durch das bestehende, von den Bolschewiki dominierte ZK, sondern hielt es für notwendig, sie auf einer breiten demokratischen Basis zu vollziehen, auch wenn dies die bolschewistische Dominanz in Frage stellen würde. Dies alles charakterisierte Lenin als «die notwendige Reform der Partei»[9].

An diesem Wendepunkt des Klassenkampfes und der Parteientwicklung zeigte sich zum ersten Mal mit aller Deutlichkeit, dass Lenins Herangehen an das Problem der Parteiorganisation niemals doktri­när, sondern im­mer historisch-konkret war und von den objektiven Bedingungen und Erfordernissen, nicht subjektivem Kalkül ausging.

 


Bolschewistische Strömung in einheitlicher Partei

Das vom III. Parteitag der SDAPR (April/Mai 1905) gewählte, aus Bolschewiki bestehende ZK berief den IV. (Vereinigungs-) Parteitag (April 1906) ein, der ein ZK wählte, in dem die Bolschewiki in der Minderheit waren. In dem vom V. Parteitag (April/Mai 1907) gewählten ZK hatten die Bolschewiki und mit ihnen koope­rie­rende Kräfte wieder die Mehrheit. Von 1905/1906 bis 1911/1912 wirkten die Bol­schewiki also in einer einheitlichen SDAPR mit unterschiedlichen Strömungen, wobei sie mit Ausnah­me des relativ kurzen Zeitrau­mes von April 1906 bis April 1907 im ZK dominierten. Sie kooperierten in der Regel mit der lettischen und der polnischen Sozialdemokratie, aber auch mit Teilen des jüdischen «Bund» und mit Plechanows «parteitreuen Menschewiki». Sie setzten sich ideologisch mit dem Refor­mismus der Menschewiki auseinander, aber be­kämpf­ten mit Teilen der Menschewiki das opportunis­tische Liquidatorentum. Immer verteidigten sie die Einheit der SDAPR gegen opportunistische Spalter: ausgegrenzt wurden nur die Liquidatoren. Niemals warfen Lenin und die Bolschewiki die Frage einer Spaltung der SDAPR auf!

Als ein Beispiel für die Haltung Lenins und der Bolschewiki in dieser Konstellation sei hier auf einen von Lenin formulierten Beschluss des bolschewistischen Zentrums vom Juni 1909 Bezug genommen. Darin wird erklärt, dass «die bolschewistische Fraktion seit Wiederherstellung der Einheit der Partei (auf dem IV. Parteitag im April 1906 – H.K.) die Anhänger ihrer politischen Linie stets auf Grund von Fragen, die bereits Gegenstand einer Diskussion in der gesamten Partei geworden waren, und stets auf dem Wege des ideologischen Kampfes für die bolschewistische Lösung dieser Fragen im Rahmen der gesamten Partei ... gewonnen und vereinigt hat», was auch «die Gewinnung aller der Fraktion we­sensverwandten Elemente für die Fraktion garantiert», dass die bolschewistische Fraktion ihr Haupt­ziel, «Einwirkung auf die Partei im Interesse des endgültigen Sieges der Linie der revolutionären Sozi­aldemokratie in der Partei ... allein im Rahmen der ganzen Partei» realisieren könne und die «Einberu­fung besonderer bolschewistischer Konferenzen und Parteitage unvermeid­lich zur Spaltung der Partei von oben bis unten führen»[10] würde. Das bolschewistische Zentrum warne daher «vor der Agitation für einen besonderen bolschewistischen Parteitag als einer Agitation, die objektiv zur Spal­tung der Partei führt und der Position, die die revolutionäre Sozialdemokratie in der Partei bereits errungen hat, einen schweren Schlag versetzen kann»[11]. Auch hier ist bemerkenswert, dass Lenin nicht nur die Bolschewi­ki in seinem Blickfeld hat, sondern ausdrücklich auch auf alle ihnen «wesensverwandten Elemente» und deren Gewinnung hinweist, die Vorhutrolle der Bolschewiki deutlich macht, aber kei­neswegs einen Ausschließlich­keits­anspruch erhebt.

Im übrigen sollten immer wieder die sehr anregenden Betrachtungen Robert Steigerwalds zu die­ser außer­ordentlich wichtigen, aber auch sehr komplizierten Problematik zu Rate gezogen werden.[12]

Obwohl dieser wohlbegründeten Linie kein voller Erfolg beschieden war, förderte sie die Organi­sierung und Aktivierung der Arbeiter und erhöhte den Einfluss der Bolschewiki, schränkte die Auswir­kungen des Liquidatorentums ein.

Im Stalinschen «Kurzen Lehrgang» wurde dieses Wirken Lenins und der Bolschewiki für die Einheit und Aktionsfähigkeit der SDAPR sehr unterbelichtet und das Schwergewicht auf die «Vertreibung der Opportunisten aus der Partei» gelegt.

Sind diese historischen Erfahrungen nicht von aktueller Bedeutung? Betrachten wir das politische Spektrum links von der SPD, dann sehen wir, dass den größten politischen Einfluss DIE LINKE hat, eine Partei sozialde­mo­kratischen Typs, die in sich formell Strömungen vereinigt, die unterschiedliche, ja gegensätzliche Klassenpo­si­tio­nen repräsentieren. dass durch diese Strömungen Klassengegensät­ze reflektiert werden, wird u.a. durch «Rot-Rot-Grün»-Debatten, verbunden mit naiven Illusionen über die Möglichkeiten derartiger Regierungskoa­li­tio­nen und die Motivationen ihrer Partner bemäntelt. Für die Mehrheit der Mitglieder der Linkspartei ist diese Situation ziemlich undurchsichtig. Zum Beispiel hat die Mehrheit sowohl der Mitglieder als auch der Wähler der Berliner LINKEN dem neuen Koaliti­onssenat erhebliche Erwartungen entgegengebracht, und dies trotz der Erfahrungen mit schon zwei «rot-roten» Koalitionen!

Wie sollen in dieser Situation die Linken in der LINKEN agieren? Was können marxistische Linke außerhalb der Linkspartei tun, um notwendige Klärungsprozesse zu befördern, sinnvolle Initiativen und Aktionen auf den Weg zu bringen?

Wer sich etwa mit Offen-siv (der Zeitschrift aus Hannover) bildet, für den ist die Sache natürlich sonnen­klar: Nichts wie raus aus dem blassen rosaroten Saftladen! Aber sie haben ihre politisch-geis­tigen Ahnen bei den Otsowisten und Ultimatisten, mit denen Lenin sich herumschlagen musste, als er die oben zitierten bolschewis­ti­schen Positionen formulierte. Die gleiche bolschewistische Tagung, die sie beschloss, hat diese ultralinken Grup­pierungen aus der bolschewistischen Fraktion ausgeschlos­sen.

Die Kommunistische Plattform, das Marxistische Forum, die Antikapitalistische Linke und andere Forma­tio­nen des linken Flügels in der Partei DIE LINKE wären meines Dafürhaltens schlecht beraten, wenn sie den «offen-siven» Sirenengesängen auf den Leim gingen und dem «rot-rot-grün»-süchtigen rechten Parteiflügel das Feld überlassen würden. Leninscher, «bolschewistischer» Kurs heißt in diesem Falle: Verteidigung des (weitge­hend marxistischen) Parteiprogramms, der friedenspolitischen Grund­sätze, der «roten Haltelinien» in der Re­gie­rungsfrage – um nur das Wichtigste zu nennen. Aber das Allerwichtigste ist es, die klärende Ausein­an­der­setzung um diese Kernfragen der Politik der Partei im oben dargelegten Leninschen Sinne in die Mehrheit der Mitgliedschaft hineinzutragen – hier liegt die entscheidende Aufgabe.

Wer diese Prozesse von außen positiv beeinflussen will, muss sich konkret auf sie einlassen. Enorm wichtig ist der Dialog der Marxisten, der Anhänger von Marx, Engels und Lenin, aus der Partei DIE LINKE und der DKP, und nicht zu vergessen: vieler in keiner Partei organisierter Marxisten, ins­besondere aus der DDR-Intel­li­genz (sie ist ja noch nicht ganz ausgestorben), viele von ihnen engagie­ren sich in sozialen Initiativen und Bewegungen.

Es ist eine ganz gewichtige Tatsache, ein neues historisches Moment: Keine dem Marxismus, den Lehren von Marx, Engels und Lenin verpflichtete politische Kraft in Deutschland kann im Alleingang der Rolle ge­recht werden, wie Lenin sie für die revolutionäre marxistische Partei jedes Landes als not­wendig erachtet hat!

 


«Partei von neuem Typus»

Ähnlich wie der revolutionäre Aufschwung 1905 brachte auch die russische Februarrevolution 1917 eine neue Wendung in der politisch-organisatorischen Entwicklung der Partei. Noch aus der Schwei­zer Emigration charak­terisierte Lenin in einem Brief an Alexandra Kollontai vom 17. März die neue Si­tuation und leitete daraus die nächsten Aufgaben ab. Es gelte, «nicht das geringste Vertrauen / nicht die geringste Unterstützung für die neue Regierung» zuzulassen, sondern alles zu tun, «um die Eroberung der Macht durch die Sowjets der Arbei­ter­deputierten vorzubereiten». Das bedeute «bewaffnetes Ab­warten, bewaffnete Vorbereitung einer breiteren Basis für eine höhere Etappe». Und das erfordere, «die Arbeit zu erweitern, die Massen zu organisieren, neue Schichten, die rückständigen, ländlichen Schichten, die Dienstboten, zu erwecken... Neue Initiative wecken, neue Organisationen in allen Schichten schaffen», also «systematische Arbeit für eine Partei von neuem Typus ... zu leisten.»[13] Diese «Partei von neuem Typus» – das war die Partei, die in wenigen Monaten zu einer Massenpartei mit Hunderttausenden von Mitgliedern anwuchs, die in breitester Öffentlichkeit wirkte, die Mehrheit in den Sowjets gewann und – nur acht Monate nach dem Sturz des Zarismus – die Errichtung der Sow­jetmacht bewirkte.

Diese zielklare, organisiert handelnde, aktive, sich auf die Massen orientierende Partei zog wie ein Magnet bisher zentristische, aber sich nach links entwickelnde politische Gruppierungen – d.h. alle «wesensverwandten Elemente» (so Lenin 1909) – an. Die wichtigste von ihnen waren die von Leo Trotzki geführten «Meshrayonzi»[14], die vom VI. Parteitag (August 1917) in die SDAPR(B) aufgenom­men wurden. Hier erwies sich wieder Lenins Fähigkeit, nicht nur politische Prozesse, sondern auch Persönlichkeiten in ihrer Entwicklung zu sehen. Noch in seinem Brief vom 17. März hatte er ganz be­sonders vor «schwankenden Elementen, wie beispielsweise ... Trotzki und Co.»[15] gewarnt; nun, im Herbst 1917, bewies Trotzki als Vorsitzender des Petrograder Sowjets und seines Revolutionären Militärkomitees, dass Lenin zu Recht sein Urteil revidiert hatte.

Auch in seiner Schrift gegen den «linken Radikalismus» (1920) trifft Lenin ganz wesentliche Aussa­gen zur Parteiproblematik im engeren Sinne, zum Wesen der Partei. Ich möchte nur zwei hervorhe­ben.

Lenin stellt die Frage: «wodurch wird die Disziplin der revolutionären Partei des Proletariats auf­rechterhal­ten? wodurch wird sie kontrolliert? wodurch gestärkt?» Und er antwortet: «Erstens durch das Klassenbewusst­sein der proletarischen Avantgarde und ihre Ergebenheit für die Revolution, durch ihre Ausdauer, ihre Selbst­auf­op­fe­rung, ihren Heroismus.

Zweitens durch ihre Fähigkeit, sich mit den breitesten Massen der Werktätigen, in erster Linie mit den proletari­schen, aber auch mit den nichtproletarischen werktätigen Massen zu verbinden, sich ihnen anzunähern, ja ... sich bis zu einem gewissen Grade mit ihnen zu verschmelzen.

Drittens durch die Richtigkeit der politischen Führung, ... ihrer politischen Strategie und Taktik, unter der Bedin­gung, dass sich die breitesten Massen durch eigene Erfahrung von dieser Richtigkeit über­zeugen. [...]

Ohne diese Bedingungen werden die Versuche, eine Disziplin zu schaffen, unweigerlich zu einer Fik­tion, zu einer Phrase, zu einer Farce.»[16]

Als die entscheidenden Grundlagen für die Einheit, Geschlossenheit und Disziplin der Partei wer­den ihre richtige, von den Massen verstandene politische Linie und ihre enge Verbindung mit den Massen charakteri­siert. Kein Wort von organisatorischen Festlegungen und Maßregeln! Natürlich hat Lenin sie nicht vergessen. Aber es ging ihm offensichtlich darum, mit aller Deutlichkeit auf das We­sentliche, das Erstrangige, das Aus­schlag­gebende hinzulenken. Wie recht Lenin mit dieser Sicht hat, ist zum Beispiel uns in der DDR, in der SED – einer 2,3-Millionen-Partei – 1989 vor Augen geführt worden.

Wesentliches über Lenins Auffassung von einer revolutionären marxistischen Partei besagt auch seine Ein­schätzung, «dass die revolutionäre deutsche Sozialdemokratie der Partei am nächsten kam, wie sie das revolu­tio­näre Proletariat braucht, um siegen zu können»[17]. Und dies auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung mit dem Zentrismus, als Lenin die Sorge umtrieb, unverbesserliche zentristi­sche Politiker könnten, sich an die bisher ihnen folgenden Massen klammernd, in die Kommunisti­sche Internationale und deren Sektionen gelan­gen und sie schwächen. Offensichtlich sah Lenin die kommunistische Partei als eine Massenpartei mit effekti­ven Strukturen, ihre Angelegenheiten demo­kratisch regelnd, in zweckmäßiger Kooperation mit Gewerkschaften und anderen Massenorganisatio­nen, mit enger Verbindung von parlamentarischer und außerparlamentarischer Arbeit.

 


Für «innerparteiliche Arbeiterdemokratie»

Die letzte einschneidende Wendung in der innerparteilichen Entwicklung der KPR(B), eine ganz we­sentliche Präzisierung ihres ideologisch-politischen und organisatorischen Profils brachte der X. Par­teitag (März 1921). Er war – ungeachtet des Sieges im Bürgerkrieg (und diesen in Frage stellend) – konfrontiert mit der kompli­zier­testen Situation seit Errichtung der Sowjetmacht: eine wirtschaftliche und politische Krise, die Gefahr eines Bruchs des Bündnisses der Arbeiterklasse mit der werktätigen Bauernschaft, sehr negative soziale und ideolo­gische Auswirkungen des Bürgerkriegselends und der Wirtschaftskrise auf die Arbeiterklasse, die sich in der Kommunistischen Partei in Fraktionsbildungen und einer anarcho-syndikalistischen Abweichung widerspie­gel­ten. Unter diesen Bedingungen bedeutete eine Gefährdung der Einheit der Partei auch eine Gefährdung der Ar­bei­ter- und Bauernmacht, in dieser Ausnahmesituation fasste der Parteitag den bekannten, von Lenin formulier­ten Beschluss über die Einheit der Partei, der fraktionelle Gruppierungen untersagte.

Im Interesse einer Verständigung wurde im Beschluss aber zugleich festgelegt, «dass hinsichtlich der Fragen, welche die besondere Aufmerksamkeit, z.B. der Gruppe der sogenannten ‹Arbeiteropposition›, auf sich gelenkt haben – Säuberung der Partei von nichtproletarischen und unzuverlässigen Elementen, Bekämpfung des Bürokratismus, Entfaltung des Demokratismus und der Initiative der Ar­beiter usw. –, alle wie immer gearteten sachlichen Vorschläge mit der größten Aufmerksamkeit geprüft und in der praktischen Arbeit erprobt werden müssen.»[18] Ebenso wurden zwei Vertreter der «Arbeiteropposition» in das ZK gewählt.

Bei der historiographischen Behandlung dieser Problematik wurde aber kaum berücksichtigt, dass der Par­tei­tag ein für die Parteientwicklung und Parteitheorie weit gewichtigeres Dokument angenom­men hat – die Re­so­lution zu den Fragen des Parteiaufbaus. Ihr prinzipieller, methodologisch bedeut­samer Ausgangspunkt lau­tete: «1. Die Partei des revolutionären Marxismus lehnt das Suchen nach ei­ner absolut richtigen, für alle Stufen des revolutionären Prozesses tauglichen Organisationsform der Partei und gleichermaßen das Suchen nach sol­chen Arbeitsmethoden prinzipiell ab. Im Gegenteil, die Organisationsform und die Arbeitsmethoden werden ganz und gar von den Besonderheiten der gege­benen konkreten historischen Situation und von den Aufgaben bestimmt, die sich unmittelbar aus die­ser Situation ergeben.

2. Von diesem Standpunkt aus ist es klar, dass sich jede Organisationsform und die entsprechenden Arbeitsme­thoden bei einer Veränderung der objektiven Entwicklungsbedingungen der Revolution aus Formen der Ent­wick­lung der Parteiorganisation in Fesseln dieser Entwicklung verwandeln können...»[19]

Die Resolution analysierte äußerst kritisch die negativen Veränderungen, welche die außerordent­lichen Be­din­gungen und Anforderungen des Interventions- und Bürgerkrieges in der Arbeitsweise der Partei und im Par­tei­leben bewirkt hatten, machte die großen Gefahren deutlich, die daraus für die Stellung der Partei in der sowje­tischen Gesellschaft erwuchsen, und zog Schlussfolgerungen für die Festigung der Verbindung mit den Massen und die Entwicklung der innerparteilichen Demokratie.

Die Resolution schätzte ein, dass die Bedingungen des Bürgerkrieges zu «einem extremen organi­satorischen Zentralismus und ... der Einschränkung der kollektiven Organe der Parteiorganisation»[20] gezwungen hätten. Dabei «entwickelte die Zentralisierung die Tendenz, sich in Bürokratisierung umzu­wandeln und sich von den Massen loszulösen»; sie führte «zur Aufblähung des bürokratischen Appara­tes und schuf die Tendenz zu seiner Isolierung.»[21]

Jetzt gehe es darum, eine «innerparteiliche Arbeiterdemokratie» zu verwirklichen, «die allen Partei­mitglie­dern, auch den zurückgebliebensten, die aktive Teilnahme am Parteileben, an der Erörterung aller Fragen, die vor der Partei stehen, an der Lösung dieser Fragen und auch die aktive Teilnahme am Parteiaufbau gewährleis­tet.» Sie «schließt jegliches Ernennen als System aus, sie kommt zum Aus­druck in der breit angewandten Wähl­barkeit aller Funktionen von unten bis oben, in ihrer Pflicht der Rechenschaftslegung, darin, dass sie unter stän­diger Kontrolle stehen usw. Die Arbeitsmethoden sind vor allem die Methoden der umfassenden Erörte­rung aller wichtigen Fragen, sind Diskussionen über diese Fragen bei voller Freiheit der innerparteilichen Kritik, sind die Methoden der kollektiven Ausar­beitung der Beschlüsse...»[22] Verwirklicht werden müsse «die umfassende Erörterung aller wichtigen Fragen des Lebens der gesamten Partei, des allgemeinen politischen und örtlichen Lebens auf den Vollversammlungen der Parteimitglieder bis zu den Parteizellen...»[23]

Damit war eine prinzipielle Orientierung für das Wirken der Kommunistischen Partei und ihre innere Verfas­sung unter den Bedingungen der Übergangsperiode zum Sozialismus und darüber hinaus ge­geben. dass sie nicht unumstritten, nicht unverrückbar war, zeigt ein Vergleich mit Aussagen J. Sta­lins zur gleichen Problematik.

Im Entwurf zu einer Broschüre vom Juli 1921 charakterisierte er die Rolle der Kommunistischen Partei im Sowjetstaat «als eine Art Schwertträgerorden», als «mächtigen Orden» und als «das Komman­deurkorps» der Arbeiterklasse.[24] Das war mit Lenins Forderung, sich engstens mit den Massen zu verbinden, sich mit ihnen zu verschmelzen, wohl kaum vereinbar. Seine Betrachtung der Gewerk­schaften und anderer Massenorganisatio­nen als simple «Transmissionsriemen» der Kommunistischen Partei (Über die Grundlagen des Leninismus, 1924)[25] vereinfachte die realen Verhältnisse und leis­tete sektiererischem Herangehen Vorschub. Auch seine Empfehlungen für das Führen innerparteili­cher Auseinandersetzungen [26] unterscheiden sich erheblich von Lenins Ringen um die Einheit der Partei.

Der inkonsequente, einseitige und formale Umgang mit den prinzipiellen Entscheidungen des X. Parteita­ges über die Partei und die praktische Verwirklichung ihrer Rolle, wie er sich nach Lenins Ausscheiden aus der Parteiführung nach und nach durchsetzte, hat wesentlich zur stalinistischen Deformation der KPdSU(B), zum Abgehen vom Leninschen Kurs und zum Niedergang der Sowjetgesellschaft beigetragen.

Wie wir sehen, sind Lenins Vorstellungen von der revolutionären marxistischen Partei, die Entwick­lung dieser Vorstellungen und die Auseinandersetzungen um sie keineswegs nur von historischem Interesse. Ganz im Gegenteil! Sie vermitteln wichtige Lehren und Anregungen für die Gegenwart und Zukunft der sozialistischen, kommunistischen Bewegung und sind gründlicher als bisher zu untersu­chen. Von besonderem, zunehmenden Interesse sind die Erfahrungen der Jahre von 1905/06 bis 1911/12.

 

Prof. Dr. Heinz Karl
Vorab veröffentlicht aus
Marxistische Blätter 4_2017 (Juli)
Foto von Unbekannt -
State museum of political history of Russia
Gemeinfrei


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Anmerkungen

* Vortrag im Rahmen der Tagung der Marx-Engels-Stiftung «Arbeit an der Geschichte – für eine bessere Zukunft», gewidmet dem Gedenken an Günter Judick, Wuppertal, 29. April 2017.

[1] GeschichtsKorrespondenz, 2(April)/2007, S.4.

[2] W.l. Lenin: Werke, Bd. 10, Berlin 1958, S. 13.

[3] Ebenda.

[4] Ebenda.

[5] Ebenda, S. 16.

[6] Ebenda, S. 17.

[7] Ebenda, S. 14.

[8] Ebenda, S. 13.

[9] Ebenda, S. 16.

[10] Lenin, Bd. 15, Berlin 1962, S. 452.

[11] Ebenda, S. 452/453.

[12] Vgl. R. Steigerwald: Kommunistische Stand- und Streitpunkte, GNN Verlag 2002, S. 90 ff.

[13] W.I. Lenin: Briefe, Bd. IV, Berlin 1967, S. 401.

[14] Meshrayonzi – wörtlich: «Leute zwischen den Rayons», «Zwischenbezirkler»; sinngemäß: zwischen allen Gruppierungen stehend.

[15] Lenin, Briefe, Bd. IV, S. 401.

[16] Lenin, Bd. 31, Berlin 1959, S. 9.

[17] Ebenda, S. 18.

[18] Lenin, Bd. 32, Berlin 1961, S. 247/248.

[19] Die Kommunistische Partei der Sowjetunion in Resolutionen und Beschlüssen der Parteitage, Konferenzen und Plenen des ZK, 1898-1954, Bd. III. Hrsg. v. Institut für Gesellschaftswissen­schaften beim ZK der SED, Berlin 1957. Als Ms. gedr., S. 166.

[20] Ebenda, S. 167.

[21] Ebenda, S. 169.

[22] Ebenda, S. 171.

[23] Ebenda, S. 174.

[24] J.W. Stalin, Werke, Bd. 5, Berlin 1952, S. 61.

[25] Stalin, Bd. 6, Berlin 1952, S. 157.

[26] Ebenda, S. 162/163.