Umwelt
ÖPNV – nix mit Nulltarif
Nur
keine Fahrverbote
Lieber Placebo-Aktivität
Was war das für ein Erstaunen, als Ende 2017 die Bundesregierung eine ÖPNV-Offensive für die fünf «Modellstädte» Bonn, Essen, Herrenberg, Mannheim und Reutlingen verkündete und in der Erklärung doch tatsächlich das Wort «Nulltarif» auftauchte. Relativ schnell war klar, dass es dabei vor allem darum ging, Brüssel wegen der systematischen Missachtung der EU-Grenzwerte bei der Stickstoffdioxid-Belastung zu beruhigen.
Am 14. August hielten nun der Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) und die Bundesumweltministerin Svenja Schulze eine gemeinsame Presseerklärung ab, bei der sie das «Sofortprogramm Saubere Luft 2017 – 2020» konkretisierten. Und siehe da: Der Große Koalitionsberg kreißte und gebar ein Mäuslein. Es werden bescheidene 130 Millionen Euro, verteilt auf drei Jahre, für – mit einer Ausnahme – ebenfalls bescheidene Projekte eingesetzt: in Essen und Reutlingen eine «höhere Vertaktung von Bussen und Bahnen» bzw. «zehn neue Buslinien», in Mannheim ein «Micro-Hub», mit dem die Paketzustellung durch E-Fahrzeuge in der Innenstadt ermöglicht werden soll, und in Herrenberg eine Optimierung des Verkehrsflusses» durch Digitalisierung.
Um allein diese bescheidenen Projekte umzusetzen, müssen die Kommunen die gleiche Summe einbringen, und das bei ihren klammen Kassen. Wenn in diesem Zusammenhang der Verkehrsminister formuliert, damit würde der «ÖPNV noch attraktiver», dann dokumentiert er, dass er den ÖPNV als Nutzer nicht kennt und damit nicht wissen kann, wie unattraktiv dieser oft ist. Die Umweltministerin ist immerhin so ehrlich uns mitzuteilen, was der wesentliche Sinn und Zweck der Übung ist: «Mein Ziel ist es, dass in allen Städten der EU-weit gültige Grenzwert eingehalten wird. Nur wenn wir für saubere Luft sorgen, können wir Fahrverbote vermeiden.» Das dürfte in den Konzernzentralen von Daimler, VW und BMW auf Zustimmung stoßen.
Es drängen sich hier drei Fragen auf: Wie kommt es zu der seltsamen Auswahl der fünf Städte als «Modellstädte für saubere Luft», drei davon in Baden-Württemberg; keine einzige im Osten? Dazu erklärt sich die Bundesregierung nicht.
Es gab auch nach den offiziellen Angaben der Bundesregierung im vergangenen Jahr 65 Städte, in denen der EU-weit gültige Grenzwert für Stickstoffdioxid nicht eingehalten wurde. Was ist mit den 60 anderen Städten, denen kein Modellstadt-Status zugesprochen wurde?
Und wo bleibt denn das Projekt Nulltarif? Wie kann es sein, dass die estnische Hauptstadt Talinn seit mehreren Jahren einen ÖPNV-Nulltarif mit einigem Erfolg praktiziert, Vergleichbares aber in Deutschland nicht (mehr?) für möglich gehalten wird?
Und warum wurde Berlin nicht zur Nulltarif-Modellstadt erkoren? Es handelt sich um die einzige Großstadt in Westeuropa, in der die Mehrheit der Haushalte kein Auto hat – was geradezu ideale Vorbedingungen für einen flächendeckenden ÖPNV-Nulltarif sind?
An den Finanzen kann es nicht liegen. Das Bruttoinlandsprodukt in Estland ist halb so groß wie dasjenige in Deutschland. Man könnte einen bundesweiten ÖPNV-Nulltarif sogar umsonst bekommen: Würde man nur die Subventionierung von Dieselkraftstoff und das Steuersparmodell «Geschäfts- und Dienstwagen» beenden, hätte der Bund zwischen 15 und 20 Milliarden Euro zusätzlich in der Kasse, womit sich ein bundesweiter ÖPNV-Nulltarif finanzieren ließe (die Einsparungen bei Automaten und Kontrolldiensten eingerechnet).
Ganz offensichtlich geht es nicht um «Saubere Luft» in den Städten, sondern nur um ein Placebo für ein paar erhitzte Gemüter in Brüssel. Mit einer Ausnahme: Bonn will mit den der Stadt zugesprochenen Fördergeldern das «365-Tage-Ein-Euro-Ticket» einführen. Damit können Bürger für einen Euro am Tag den ÖPNV nutzen. Dieses Modell wird in Wien und im österreichischen Bundesland Vorarlberg mit einigem Erfolg praktiziert. Es könnte sich als Brücke zum allgemeinen ÖPNV-Nulltarif entwickeln. Die Entscheidung über ein solches Ticket müssen die städtischen Verkehrsbetriebe fällen, bisher ist deren Bereitschaft, ein solches Ticket anzubieten, aber nicht auszumachen.
Eingebettet in eine Gesamtverkehrsplanung, bei der die Förderung der nichtmotorisierten Verkehrsarten, also Fußgänger und Radfahrer, einen zentralen Stellenwert haben muss, sollte die Forderung nach einem flächendeckenden ÖPNV-Nulltarif zum Allgemeingut all derer werden, die sich für das «Recht auf Stadt», für die «soziale Stadt» und für Klimafreundlichkeit engagieren.
Winfried Wolf
UZ vom 24. August 2018
Fotos: Irène Lang, Berndt Bellwinckel