Betrieb & Gewerkschaft
Die Bundesrepublik als ArbeitsUnrechtsstaat
"ArbeitsUnRecht - Anklagen und Alternativen" -
Eine Buchempfehlung von Lothar Geisler
Berichte über Rechtsbrüche von Topmanagern sind tägliches Medienprodukt. Korruption, Steuerhinterziehung, Tricksereien, Wirtschaftskriminalität und ungerechtfertigte Bonuszahlungen gehören zum Business.
Auch zum Business von Medien, die Solches als Skandale vermarkten und gleichzeitig entschärfen: im Kampf um Marktanteile, das eigene Image als demokratisch-korrigierende "Vierte Gewalt" - und um den Volkszorn zu kanalisieren. Aber auch Niedriglöhnerei, Hartz IV, Verdachts- und Bagatellkündigungen, dauerhafte Leiharbeit, unbezahlte Praktika, unbezahlte Mehrarbeit, heimliche Überwachung, kommerzieller Missbrauch von Ein-Euro-Jobbern, Verhinderung von Betriebsratsgründungen, organisierte Lohndrückerei durch gekaufte "gelbe" Gewerkschaften sind Rechtsbruch. Jedoch: diese Verletzungen von Arbeits-, Sozial- und Menschenrechten stellen für Politik und Medien keinen Skandal dar. Werner Rügemer, Herausgeber des jüngst erschienenen Buches "ArbeitsUnrecht", belegt das nicht nur in seinem Beitrag über "Die mediale Zer-Arbeitung des Arbeits-Unrechts" an zahlreichen Beispielen. [Mit dem Buchtitel wird Bodo Zeuners gleichnamiges Buchprojekt über "Bürgerrechte in der Arbeitswelt" von 1991 bewusst aufgegriffen. "Der Vergleich kann zeigen, was sich innerhalb desselben Kapitalismus in relativ kurzer Zeit verändern kann." (W. Rügemer)] Das Buchprojekt "ArbeitsUnrecht" vereint die Beiträge einer gemeinsamen Konferenz von BusinessCrimeControl, Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt und Rosa-Luxemburg-Stiftung vom Frühjahr 2009. Das Anliegen geht weit über einzelne Beispiele und Formen von ArbeitsUnrecht und nur-moralische Verurteilung hinaus. Die Fülle der Themen stellt eine beachtenswerte - wenn auch noch zu erweiternde, empirisch stärker zu untermauernde und zu vertiefendeBestandsaufnahme bundesdeutscher Arbeitsverhältnisse dar. Es geht nicht nur um die Verletzung bestehender RestRechte durch "Einzeltäter", sondern vorrangig um "verrechtlichtes Unrecht" und den systematischen Bruch von Menschenrechten durch Privateigentümer und Staat. "Die von diesem Arbeitssystem abhängigen Menschen: Arbeitnehmer, Arbeitslose oder Rentner und deren Familien - also die Mehrheit der Bevölkerung - gelten nicht als gleichberechtigte Bürger, sie werden von Staat, Unternehmen, Parteien und Medien als zweitklassig, ja überflüssig behandelt." Grassierende Niedriglöhnerei und Hartz IV sind eben nicht nur einfach Unrecht, sondern "Unrechtssysteme". Besonders lesenswert und anregend für weitergehende Debatten sind vor allem die Beiträge über "Die Konzepte des Arbeitsund Arbeitslosen-Unrechts" z. B. Thomas Münch über die "Arge als Exklusionsmaschine", Irina Vellay über "Vertragslose Arbeit", Rolf Geffken über die "Prekarisierung der Normalarbeit durch Zielvereinbarungen" oder auch Michael Schubert über den "Bertelsmann-Entwurf zum Arbeitsvertragsgesetz" sowie das komplette Kapitel zu "Alternativen und Chancen in der Finanz- und Wirtschaftskrise".
"Die Ökonomie siegt über die Sozialpolitik", die "Sicherung der bestehenden wirtschaftlichen Verhältnisse" wird "zum dominierenden Argument" und ohne effektiven Widerstand "steht die Schutzfunktion des Arbeitsrechts immer häufiger auf dem Papier" skizziert Wolfgang Däubler die Lage des "Arbeitsrechts in globalisierter Wirtschaft". Seine realistisch-pessimistische Skizze aus deutscher Sicht endet mit einem - denkt man an das Ergebnis der Bundestagswahl - etwas zu optimistischen Ausblick auf die "Krise als Chance": "Die Markteuphorie ist verflogen, das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte kaum mehr vorhanden... Plötzlich gewinnt die Politik den Vorrang gegenüber der Ökonomie, bewusste Gestaltung ist gefragt ... Für den Aufbau eines arbeitsrechtlichen Schutzschirmes auf nationaler wie auf internationaler Ebene haben sich die Bedingungen verbessert."
In seinem Beitrag zu "Arbeitsrecht und Globalisierung" zieht Detlef Hensche eine widersprüchliche (arbeitsrechtliche) Bilanz der vergangenen 20 Jahre. Einerseits "eine Offensive arbeitsrechtlicher Deregulierung, sozialpolitischer Repression und Umverteilung ... Andererseits gelang es immer wieder, auch punktuell diese Entwicklung aufzuhalten, vorübergehend sogar umzukehren." Als ehemaliger Vorsitzender der IG Druck und Papier und Rechtsanwalt setzt Hensche einen stärkeren Akzent darauf, gerade das Arbeitsrecht als "Spiegelbild des gesellschaftlichen und sozialen Kräfteverhältnisses" zu sehen und zu verstehen. "Nicht Sachzwänge führen uns in eine Spirale des Dumpingwettlaufs, sondern soziale Interessengegensätze und bestehende Machtpositionen." Auch für ihn spricht vieles dafür, "die gegenwärtige Situation zu nutzen, um Mindestbedingungen arbeitsrechtlichen Schutzes wiederherzustellen bzw. auszubauen ... Wem das als nicht machbar scheint, der sei daran erinnert, dass nicht nur die Autorität der Gewerkschaften in jüngster Zeit gewachsen ist. Wichtiger noch: Eine breite Mehrheit ist entrüstet über die Schamlosigkeit der Wirtschaftseliten - Unternehmer, Aktionäre und Banker - die die von allen erarbeiteten Gewinne und Vermögenszuwächse verspielt haben. Daran gilt es anzuknüpfen; dieser Stimmung gilt es Richtung zu geben und aus ihr politisches Bewusstsein zu schlagen. Versäumen wir dies, droht eine verhängnisvolle Spirale wechselseitiger Unterbietung und Standortkonkurrenz."
Mein Fazit: Ein wirklich empfehlenswertes Buch. Denn seine Hauptstärken sind: 1. Die Verletzung von Arbeits- und Sozialrechten als "systemische Erscheinung" verstehbar zu machen (auch ohne Marx-Zitate) und 2. Der Versuch, Menschen aus Gewerkschaften, Wissenschaft und sozialen Initiativen zusammenzubringen, um Widerstand dagegen anzustoßen (auch ohne Sozialismus als gemeinsamen Zielpunkt.) Nach der für alle abhängig Beschäftigten desaströsen Bundestagswahl 2009 und im Vorfeld der nächsten - die breite Öffentlichkeit wohl weniger bewegenden Wahlschlacht - den Betriebsrätewahlen 2010, ist "ArbeitsUnrecht" das richtige Buch zur richtigen Zeit. Auch für alle KommunistInnen, denen die Betriebsrätewahlen und die sozialen Grundrechte aller Menschen - das Recht auf Arbeit, soziale Sicherheit, bezahlbaren Wohnraum, Gesundheit und Bildung - mehr als anderen am Herzen liegen.
Werner Rügemer, ArbeitsUnrecht - Anklagen und Alternativen, Verlag Westfälisches Dampfboot Münster 2009, 250 Seiten, 24,90 Euro
Aus dem Inhalt
I. Die Konzepte des Arbeits- und Arbeitslosen-Unrechts
Wolfgang Däubler, Arbeitsrecht in globalisierter Wirtschaft - eine Skizze aus deutscher Sicht ¤ Thomas Münch, Die ARGE als Exklusionsmaschine ¤ Irina Vellay, Vertragslose Arbeit - Workfare ¤ Rolf Geffken, Prekarisierung der Normalarbeit durch Zielvereinbarungen ¤ Michael Schubert, Der Bertelsmann-Entwurf zum Arbeitsvertragsgesetz
II. Arbeitsverhältnisse
Jörn Boewe, Unbezahlte Mehrarbeit als systemische Profitquelle ¤ Elmar Wigand, Warum der Betriebsrat sich im Dienst die Taschen zunäht ¤ Stephan Hessler, "Entlassungsproduktivität" - Die Methoden der Private Equity-Firmen ¤ Verena Herzberger, Arbeitslosigkeit und Arbeit machen krank ¤ Hermann G. Abmayr, Leiharbeit: Menschen als Sachkapital
III. Gewerkschaftsfreie Zonen
Daniel Behruzi, "Gelbe" Organisationen als kriminelle Lohndrücker ¤ Hans-Gerd Öfinger, System Hansen: Die gezähmte und integrierte Gewerkschaft ¤ Rolf Gössner, Beschäftigte als Risikofaktoren - Überwachung im Betrieb
IV. Mediale Mithilfe
Thomas Barth, Dehumanisierung als Bertelsmann-Effekt ¤ Barbara Ellwanger, Mediale Hetze gegen Arbeitslose und das Schweigen der psychosozialen Verbände ¤ Werner Rügemer, Kein Skandal: Die mediale Zer-Arbeitung des ArbeitsUnrechts
V. Alternativen und Chancen in der Finanz- und Wirtschaftskrise
Detlef Hensche, Arbeitsrecht und Globalisierung ¤ Wolfgang Neskovic, Soziale Grundrechte: Die Freiheit aus ihrer Einsamkeit befreien ¤ Cornelia Heydenreich, Kampf um Arbeitsrechte in der chinesischen IT-Branche ¤ Robert Fuß, Gleiche Arbeit - Gleiches Geld: Kampagne der IG Metall ¤ Norbert Cyrus, Wanderarbeit - zur Entwicklung einer mobilen Solidarität ¤ Rainer Roth, Erster Teilerfolg gegen Hartz IV: Kürzung des Kinderbedarfs zurückgenommen ¤ Guido Struck, Whistleblowing als Instrument gegen Arbeits-Unrecht ¤ Johannes Ludwig, Lob der mutigen Steuerfahnder ¤ Hans-Joachim Boerner, Alternatives Arbeits-Gesetzbuch ¤ Franz Kersjes, Der politische Streik
Aus: unsere zeit - Zeitung der DKP
8. Januar 2010