diePille

Die Namenlosen: Leiharbeit bei Bayer

Expedition im Niedriglohnsektor

Markus Breitscheidel: Arm durch Arbeit

Der Journalist Markus Breitscheidel hat sich in Wallraff-Manier bei der Bayer AG verdingt und war als Leiharbeiter in der Pillen-Produktion »ganz unten«. In seinem Buch »Arm durch Arbeit« dokumentiert Breitscheidel die erschreckenden Ergebnisse seiner verdeckten Ermittlungen.

»Wir unterstützen Menschen und Unternehmen in Veränderungsprozessen. Unser Anspruch ist es, sie auf dem Weg in eine neue berufliche Zukunft kompetent zu begleiten«, heißt es auf der Internet-Seite von Job@ctive, Bayers nicht nur für den Konzern selber tätigen Agentur für »Personaldienstleistungen«. Der Journalist Markus Breitscheidel vertraute sich auf seiner einjährigen Expedition durch den bundesdeutschen Niedriglohnsektor diesem Begleitschutz an. Er meldete sich auf eine Anzeige, mit der Job@ctive ProduktionshelferInnen »für einen renommierten Kunden in Berlin« suchte. Der »renommierte Kunde« war der Leverkusener Multi. Es handelte sich bei dem Job in der Berliner Antibabypillen-Produktion von Bayer Schering zwar nur um Leiharbeit, bzw. um eine Tätigkeit »im Rahmen der Arbeitnehmer-Überlassung«, aber Job@ctive lockte mit einer Festanstellung. »Nutzen Sie Ihre Chance, in unseren Kunden-Unternehmen auf sich aufmerksam zu machen und von ihren Leistungen zu überzeugen«, zitiert Breitscheidel in seinem Buch »Arm durch Arbeit« aus dem Stellenangebot.

Als Gegenwert für diese Leistung bot Job@ctive 6,24 Euro brutto an. Der zwischen dem »Bundesverband Zeitarbeit« und dem DGB geschlossene Tarifvertrag sieht eigentlich ein Minimum von 7,38 Euro vor, aber auf eine entsprechende Nachfrage bekam Breitscheidel nur zu hören: »Oh, nein. Wir sind hier im ehemaligen Ostteil der Stadt, und somit gilt der Osttarif«. Dieser Hungerlohn war selbst seinem Vorgesetzten peinlich. Ihm seien jedoch die Hände gebunden, klagte er gegenüber Breitscheidel, seit der Übernahme von Schering versuche Bayer die Kosten in der Produktion so massiv zu drücken, dass sein Budget für Neueinstellungen keine tarifliche Bezahlung mehr zulasse. Der Journalist unterschrieb trotzdem. Bis zu seinem Arbeitsantritt dauerte es allerdings noch eine Weile. Anders als bei Festangestellten übernahm Bayer den Gesundheitscheck nämlich nicht selbst, sondern machte einen Termin beim TÜV – und der hatte vorerst keinen frei. Für die Wartezeit gab es dann weder von der Arbeitsagentur Geld, denn dort hatte sich der Leiharbeiter in spe schon abgemeldet, noch vom Chemie-Multi. Da half alles nichts. »Wenn Sie den Vertrag richtig lesen, werden Sie je nach Auftragslage beschäftigt und auch vergütet. Zunächst dachten wir für Sie bereits ab heute einen Auftraggeber zu finden, dass hat sich nun mal auf die nächste Woche verschoben«, erklärte ein Job@ctive-Vermittler und spendete Trost: »Machen Sie sich keine Sorgen. Das arbeiten Sie doch locker wieder rein. Ein paar Sonderschichten, und schon ist die Sache vergessen.«

Markus Breitscheidel bei einem Job in der Pharmaindustrie; Bild: WDR

Am Band

Sieben Tage später war es dann soweit. Der Novize erhielt zunächst einmal seine Arbeitskleidung, weiße Hosen und hellgrüne Kittel. Diese machte ihn sogleich als Leiharbeiter kenntlich, denn während die Festangestellten ein Bayer-Logo und ihren Namen auf der Brust tragen, bleibt der Platz bei Breitscheidel und seinen KollegInnen leer. »Die Namenlosen« heißen sie deshalb im Firmen-Jargon. Aus der Kleiderkammer ging es anschließend durch die Sicherheitsschleuse. Bis zu einer dreiviertel Stunde dauerte die Prozedur – als Arbeitszeit rechnet der Pharma-Riese sie bei Externen wie Breitscheidel allerdings nicht an. Auch für den Kaffee zahlen die ZeitarbeiterInnen mehr als die Stammbelegschaft, 90 statt 20 Cent. Nicht nur beim Lohn allein zeigt sich also der Unterschied.

Gleich ist bloß die Arbeit. Im Vier-Schichten-System fährt der Multi in Berlin die Produktion seines Bestsellers, der Antibabypille YAZ. Markus Breitscheidel musste die Hormonpräparate in verschiedenen Positionen am Fließband »eintüten«, Beipackzettel, Medikamentenschachteln sowie Kartons zuführen und dabei für einen reibungslosen Ablauf sorgen. »Denn wenn hier wirklich nur eine einzige Pille verloren geht, ist die Hölle los«, warnte ihn sein Chef. Das immense Arbeitstempo machte das für den Undercover-Arbeiter zu einem schwierigen Unterfangen. Zu Anfang hatte er seinen Arbeitskittel schon nach einer Stunde durchgeschwitzt und Schmerzen im Rücken und in den Beinen. Trotzdem erhöhte Bayer im Laufe seiner Leiharbeiter-Zeit noch einmal die Frequenz. 30 Paletten YAZ pro Schicht statt 25 lautete plötzlich die Ansage. Und nach den 7,5 Stunden Maloche kam Breitscheidel auch nicht zur Ruhe, weil der ständige Wechsel zwischen Früh-, Spät- und Nachtschicht seinen Biorhythmus gehörig durcheinander wirbelte.

Am Band hat sich das Verhältnis von LeiharbeiterInnen zu Festangestellten mittlerweile umgekehrt. Waren die »Namenlosen« zunächst nur bei Produktionsengpässen im Betrieb – wie es auch im Sinne der ErfinderInnen war – , so bilden sie mittlerweile die Mehrheit. Möglich gemacht hat dies die »Hartz-Reform« des »Arbeitnehmer-Überlassungsgesetzes«, welche die Befristung der Leiharbeit aufhob. Da die prekär Beschäftigten nun nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel sind, können sie auch die von Job@ctive in Aussicht gestellte Chance nicht nutzen, »in unseren Kunden-Unternehmen auf sich aufmerksam zu machen« und auf diese Weise einen festen Vertrag zu ergattern. Gerade mal einem ist dieses Kunststück laut Breitscheidel gelungen – und das auch nur über Beziehungen. Diese Mannschaftsstärke der ZeitarbeiterInnen ist selbst der Führungsetage nicht so ganz geheuer. Als sich einmal hoher Besuch aus Leverkusen ansagte, mussten Breitscheidel und seine LeidensgenossInnen schnell verschwinden. Dabei ist unter den »überlassenen ArbeitnehmerInnen« so mancher alter Bekannter. »Ich habe es in den letzten Jahren häufig erlebt, dass eingearbeitete Kollegen gehen mussten und nach kurzer Zeit als Leiharbeiter an den Arbeitsplatz zurückkamen«, erzählt Breitscheidels Vorarbeiter von seinen Erfahrungen mit dem Strukturwandel im Berliner Werk, dem 950 feste Stellen zum Opfer fielen.

Kafkaeske Lohnpolitik

Die neuen alten Kollegen verloren durch diesen Drehtür-Effekt mehr als die Hälfte ihres früheren Entgelts. Bekamen sie früher 17,50 Euro brutto pro Stunde plus Schicht- und Feiertagszulagen, Urlaubs- und Weihnachtsgeld, so müssen sie sich nunmehr mit höchstens 7,38 Euro begnügen und auf sämtliche Zulagen verzichten. Die nach unten hin offene Lohnskala bietet aber noch Abgründigeres, denn selbst unter den Ungleichen gibt es noch Ungleichere. Je nachdem, mit welchem Personaldienstleister Bayer Verträge abgeschlossen hat, variieren die Niedriglöhne von 5,20 Euro bis 7,38 Euro. Und »Ganz unten« befinden sich diejenigen, die jeden Tag bis eine Viertelstunde nach Schichtbeginn warten, um eventuell einzuspringen, und unverrichteter Dinge wieder heimfahren, wenn kein Bedarf nach ihrer Arbeitskraft besteht. »Das ist extrem traurig«, sagt Boris Loew von der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) im SWB-Interview über das Los dieser TagelöhnerInnen. Sie gehören jedoch nicht zu den Einzigen bei Bayer, die ohne Lohn-Aufstockung von Staats wegen nicht über die Runden kommen.

Dafür sorgt in besonderer Weise die »Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen« (CBZP). Sie tauchte passend zur Novelle des »Arbeitnehmer-Überlassungsgesetzes« auf der politischen Bildfläche auf und schloss mit den Zeitarbeitgebern unterirdische Tarifverträge ab. Die Organisation verweist auf eine Mitgliederzahl von 280.000. Daran – und damit auch an ihrer unabhängigen Finanzierung – sind aber einige Zweifel angebracht. »Ich wüsste keinen, der da Mitglied ist«, so Boris Loew. Ob es sich bei der CBZP überhaupt um eine richtige Gewerkschaft handelt, klärt in der Hauptstadt nach einer Klage von VER.DI und Berliner Senat gerade ein Arbeitsgericht. Einstweilen trägt sie bei Bayer Schering aber noch zu dem bei, was Breitscheidel in seinem Buch »kafkaeske Tarifverhältnisse« nennt und den Grundsatz »Gleiche Arbeit, gleicher Lohn« desavouiert, obwohl im Antibabypillen-Betrieb Profitverhältnisse wie aus Tausendundeiner Nacht herrschen. Eine Milliarde Euro Umsatz machte der Leverkusener Multi im Geschäftsjahr 2007 mit YAZ & Co..

Und die Gewerkschaften?

«Aber ihr habt doch einen Betriebsrat, der müsste das doch eigentlich verhindern!«, entgegnet Breitscheidel dem Kollegen, der ihm Bayers prekarisierende Personalpolitik beschrieben hatte. »Wir Kleinen an der Basis können auf den nicht bauen«, bekommt er zur Antwort. In der Tat tut sich die Gewerkschaft schwer mit den ZeitarbeiterInnen – und sie hat es auch schwer. Die »überlassenen ArbeiternehmerInnen« gehören nämlich rechtlich nicht zu Bayer Schering. Der für sie zuständige Arbeitgeber ist die jeweilige Zeitarbeitsfirma. Beim Leverkusener Multi dürfen die »Namenlosen« weder an Betriebsversammlungen teilnehmen noch streiken. Auch über die bestehenden Mitbestimmungs- und Mitwirkungsregelungen können die Gewerkschaften den Status der ca. 730.000 LeiharbeiterInnen in der Bundesrepublik, die in der Industrie mittlerweile auf einen Anteil von 10 bis 12 Prozent an der Gesamtbelegschaft kommen, kaum verändern. »Das gilt besonders dann«, konstatiert der DGB in seiner Erklärung zu »Betriebsräte und Leiharbeit«, »wenn große Unternehmen eigene Leiharbeitsfirmen gründen, um etwa befristete oder entlassene ArbeitnehmerInnen zu oft wesentlich schlechteren Konditionen wieder einzustellen« – wenn sie also dem Modell Bayer folgen.

Es gibt jedoch auch Entsolidarisierungstendenzen innerhalb der Gewerkschaften. So heißt es in dem DGB-Statement etwa: »Dabei setzt ein Teil der Arbeitnehmervertretungen auf den mäßigen Einsatz von Leiharbeit als 'Personalpuffer', um so die Beschäftigung der Stammbelegschaft zu stabilisieren«. Diese Konzentration auf die Kernbelegschaften zuungunsten prekär Beschäftigter ist nicht nur beim Thema »Leiharbeit« zu beobachten und scheint selbst in den Interview-Aussagen Loews durch. So echauffiert sich der IG-BCE-Sekretär zwar über die Praktiken beim Leverkusener Multi und tobt: »Verantwortung wird ausgegliedert« oder: »Reine Erpressung findet mal wieder statt«, gleichzeitig erklärt er jedoch die Chemie-Gewerkschaft im Falle der LeiharbeiterInnen für nicht zuständig. »Wir werden von unseren Mitgliedern bezahlt«, stellt Loew fest. Er sieht allerdings Anzeichen eines Bewusstseinswandels, weil die Einzelgewerkschaften ihre abwartende Haltung gegenüber den Auswärtigen ablegten. Davon zeugt auch die Äußerung des IG-BCE-Vorsitzenden Hubertus Schmoldt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (F.A.Z.): »Was wir derzeit erleben, ist, dass die Möglichkeit von Leiharbeit benutzt wird, um feste Beschäftigungsverhältnisse zu umgehen. Und das ist nicht der Sinn der Leiharbeit«. Nicht zuletzt deshalb gibt sich Boris Loew trotz des steinigen Weges, der noch vor den Gewerkschaften liege, zuversichtlich: »Ich denke schon, dass sich da etwas ändern wird«.

Bayer dementiert

Bayer hingegen sieht keine Notwendigkeit für Veränderungen. Wo selbst der mit den Erfahrungen Breitscheidels konfrontierte Hardcore-Hartzler Wolfgang Clement vor den Geistern, die er gerufen hatte, erschrak: »Also wenn es so ist, wie es hier dargestellt ist, ist es völlig unakzeptabel«, da sah der Pharma-Riese alles im grünen Bereich. »Diese Vergütung ist arbeitsmarktüblich und entspricht dem Tarifvertrag des Bundesverbandes Zeitarbeit, Tarif Ost, der für Berlin insgesamt angewendet wird«, behauptete der Konzern in seiner Stellungnahme zu einer »Hart aber fair«-Sendung, in der Breitscheidel zu Gast war. Der Global Player stritt schlichtweg ab, reguläre Arbeitskräfte durch ZeitarbeiterInnen zu ersetzen. Angeblich greift er nur bei »konjunkturellen Spitzen« auf die »Namenlosen« zurück. Nicht mehr als 650 will das Unternehmen zur Zeit beschäftigen, in Berlin 210, davon ca. 80 in der Produktion. Ihr Verdienst bewegt sich laut Bayer zwischen 1.050 und 8.000 Euro. Tatsächlich hat der Multi einige Luxus-LeiharbeiterInnen in seinen Reihen, weil er zu allem Unglück auch noch hoch qualifizierte Arbeit – beispielsweise in der Forschung & Entwicklung – ausleiht und dafür in den USA mit dem Personaldienstleister MedSearch zusammenarbeitet, aber auf 8.000 Euro monatlich kommt nur ein äußerst kleiner Teil der so Beschäftigten.

IG Metall klagt

So ganz spurlos ist jedoch die Diskussion über Breitscheidels Recherchen nicht an Bayer vorbeigegangen. Bis auf Weiteres gilt nun: Gleicher Kaffeepreis für ungleich Beschäftigte! Der Leverkusener Multi verlangt den Namenlosen jetzt nicht mehr 90 Cent für eine Tasse ab, während Festangestellte nur 20 Cent zahlen müssen. Bis zu »Gleiches Geld für gleiche Arbeit« dürfte es aber noch lange dauern, auch wenn die IG Metall dem Konzern Beine machen will. Die Gewerkschaft verklagte den Pillen-Produzenten gemeinsam mit Markus Breitscheidel wegen der Bezahlung mit 6,42 Euro pro Stunde. »Das ist ein klarer Verstoß gegen den Tarifvertrag«, sagte Breitscheidel zur Begründung. Aber nicht nur bei den Leih-, sondern auch bei den Emissären von Fremdfirmen besteht womöglich juristischer Handlungsbedarf. Nach Beobachtungen der »Kolleginnen und Kollegen für eine durchschaubare Betriebsratarbeit«, einer alternativen Gewerkschaftsgruppe bei Bayer, haben diese Beschäftigten nämlich genau denselben Status im Betrieb wie Feste und LeiharbeiterInnen, obwohl die Fremdfirmen gar keine Lizenz zur Arbeitnehmer-Überlassung haben.

Allein auf rechtlichem Wege jedoch lässt sich die Lage der Prekären nicht grundlegend verbessern. Deshalb wird die namenlose industrielle Reservearmee wohl noch einige Zeit das bleiben, was Breitscheidel »das Phantom der neuen Arbeitswelt« nennt.

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  • Was Markus Breitscheidel als Leiharbeiter erlebte, dokumentierte der WDR in der Sendereihe die story: Leiharbeit undercover – Mein heimliches Leben in deutschen Fabriken. Ein Film von Julia Friedrichs, (gesendet: 27. Oktober 2008 im Ersten).
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