Frauen

Gräfin Anita und ihre Millionen

In Erinnerung an Ruth Kellner, 1928 – 2012, ein Beitrag von ihr aus der Rubrik »Die Frau in unserer Zeit« aus dem Jahr 1970

Porträt Ruth Kellner.

 

Gräfin Anita und ihre Millionen

Sie gehört nicht zu den Adels­krei­sen, die Woche für Woche die bunten Blät­ter mit rühr­seligen Geschich­ten deutscher Blau­blüter, Prin­zen, Fürstin­nen und Baro­nes­sen füllen. Die Gräfin ist beschei­den in ihrem Anspruch auf Pub­licity. Sie hat sie nicht nötig, denn – auch ohne große Öffentlichkeit sprießen die Aktiengewinne dieser Dame wie Bambusschößlinge.

Anita de Zichy-Thys­sen, Erbin August Thys­sens, Besit­zerin von 40 Pro­zent Atien­kapital des Thys­sen-Kon­zerns, kas­siert. Steuer­hinter­zieher en gros und Bank­räuber sind Waisen­kna­ben gegen diese mil­liar­den­schwe­re Dame. Wäh­rend sie in den argen­ti­ni­schen Pam­pas ihre Krähen­füße pflegt, steckt die Gräfin Anita stünd­lich 22 000 Mark ein. Das ist ein Jahres­ein­kom­men von schlich­ten 45 Mil­lio­nen.

Und wie kommt die Dame an diese Mil­lio­nen? lmmer­hin eine berech­tigte Frage, wo sie doch nicht die einzige ihrer Gat­tung ist und gegen­wärtig alle über die not­wen­dige Vermö­gens­bil­dung für die Mil­lio­nen Lohn- und Gehalts­empfän­ger sprechen. Also arbei­ten tut sie nicht. Sie lebt, durch Ozeane von den Thys­sen-Schorn­stei­nen getrennt, im sonni­gen Argen­tinien. 1968 wurde sie letzt­mals für den Kon­zern hand­greif­lich tätig, indem sie ein Schiff mit Sekt taufte. Seit­her ward sie nicht mehr gesehen, und doch haben sich ihre Jahres­gewin­ne mehr als verdoppelt.

Wie das kommt? Ganz ein­fach, die Gräfin lässt, gemäß bewähr­ter Tradi­tion des Thys­sen-Ge­schlechts, andere für sich arbei­ten. Und nicht nur das. Thys­sen verdien­te am ersten Welt­krieg. – Thys­sen verdien­te am zwei­ten Welt­krieg. Thys­sen verdient heute am Bau von Minen­such­boo­ten und Kampfflugzeugen.

Jede Band­arbeiterin, jede Putz­frau, jede Steno­typistin leistet in einer Stunde mehr als diese Frau in ihrem ganzen Leben. 10 312 Arbei­ter und Ange­stellte des Thys­sen-Kon­zerns, die im Durch­schnitt zwölf­hundert Mark im Monat verdie­nen, sichern der Milliar­dä­rin ein Monats­einkom­men von drei­mil­lio­nen­sieben­hundert­und­fünf­zig Mark.

Was den Arbeiter­familien jetzt als Spar­groschen, genannt Vermö­gens­bildung, zuge­stan­den wurde, ist noch nicht einmal soviel wie die Grä­fin in einer Minu­te ab­schöpft. 26 Mark im Monat machen 1 872 Mark in sechs Jah­ren für die Arbei­ter. Die Grä­fin bekommt allein 22 000 Mark in einer Stunde.

Die Mil­lio­nen der Grä­fin Anita? – Es sind nicht ihre Mil­lio­nen. Es sind die Mil­lio­nen derer, die dafür gear­beitet haben. Leute wie Anita de Zichy-Thys­sen sind Schma­rotzer. Es geht nicht nur ohne sie, ohne sie geht es besser für die Mil­lio­nen arbeitender Menschen.

UZ 23. Mai 1970


Ein Vorgang beispielloser Unverschämtheit (Der Spiegel 8/1988)