Kultur
«Ästhetik des Widerstands»
Kunstwerke in Peter Weiss' «Ästhetik des Widerstands»
Verborgene geschichtliche Erinnerungsspuren
Den folgenden Text hat Klaus Stein im Rahmen einer Tagung der Marx-Engels-Stiftung und der Marxistischen Abendschule (MASCH) zum Thema:
(Wieder-) begegnung mit Peter Weiss und seinem Werk
am 5. November 2016 im Bürgerhaus Hamburg-Wilhelmsburg vorgetragen.
Bilder vom Entsetzen und Aufbegehren in der Ästhetik des Widerstands.
Wie lassen sich die in Kunstwerken verborgenen geschichtlichen Erinnerungsspuren vergegenwärtigen?
In der Zeit, als Peter Weiss seinen Roman schrieb, glaubten wir an einen revolutionären Aufschwung. Es schien in den siebziger Jahren trotz des Putsches in Chile im September 1973 weltweit der Sozialismus an Gewicht und Ausstrahlung zu gewinnen. Antikoloniale Bewegungen konnten mit Unterstützung des sozialistischen Weltsystems rechnen. Der Vietnamkrieg mobilisierte weltweit Proteste. Der Sieg der Befreiungskräfte Vietnams datiert von 1975. Schon im April 1974 hatten die Portugiesen zusammen mit dem Militär die faschistische Regierung abgeschüttelt. Im Juli 1974 verschwand die griechische Junta. In Spanien machte der Tod Francos im November 1975 den Weg frei für parlamentarische Verhältnisse.
Just in dieser Zeit trägt Peter Weiss die menschliche Geschichte als «eine einzige Folge von Entsetzen und Aufbegehren» vor (Ästhetik des Widerstands, Band I, Seite 73). Dem Andrängen der Leibeigenen, der Geknechteten, der Lohndiener sei immer wieder mit neuen Waffen begegnet worden. Je größer die Wucht der Notwehr, desto umfassender die Vernichtungsschläge (ÄdW, I S. 72).
Die Verringerung sowjetischer Waffenlieferungen an die spanische Republik, der Verzicht der in Frankreich neu gebildeten Volksfrontregierung Blums auf jede weitere Unterstützung sowie entscheidende militärische Niederlagen gegen Franco fallen zeitlich zusammen mit den Moskauer Prozessen, namentlich mit der Verurteilung und Hinrichtung von Bucharin am 13. März 1938. (I S. 304)
Kämpfer der republikanischen Armee und Interbrigadisten werden in der Folge zu Flüchtlingen.
Und es geht so weiter. Der Roman handelt von der Schwäche des Widerstands gegen den Faschismus und dessen Unaufhaltsamkeit angesichts der Uneinigkeit der Gegenkräfte. Er kulminiert in den industriellen Massenmorden und der Katastrophe des zweiten Weltkriegs.
In diese Vorgänge sind Schilderungen von Werken der Literatur und bildenden Kunst eingefügt. Sie werden erörtert, gedeutet. Aber zusammen mit dem globalen Blick auf die politischen Ereignisse der Jahre 1936 bis 1945 dehnen sie das Handlungsfeld des Romans in eine riesige historische Dimension.
Zwei Haltungen stehen sich gegenüber. Die einzige Freiheit, die es gäbe, sei die Freiheit der Kunst. Als Linos, der Lehrer, Herakles das weismachen will, zieht der ihm den Hut so hart über die Augen, dass ihm das Nasenbein bricht (I S. 20). Die Musen, Töchter der Mnemosyne, habe er schon früher verprügelt (I S. 20). Andrerseits sagt Heilmann, dass Werke wie jene, die aus Pergamon stammen, immer wieder neu ausgelegt werden müssten, bis eine Umkehrung gewonnen wäre und die Erdgeborenen aus Finsternis und Sklaverei erwachten und sich in ihrem wahren Aussehn zeigten (I S. 53).
Einige der im Roman vorkommenden Bilder will ich heute vorstellen und nach Möglichkeit um Erkenntnisse ergänzen, die Peter Weiss liegen gelassen hat.
Unvermeidlich: «Das Floß der Medusa» von Géricault (1791-1824). Das Thema war so brisant, dass der Maler, als er es für den Salon einreichte, das Bild als Scène d'un naufrage, als Szene eines Schiffbruchs betitelte. Die Medusa ist ein weibliches Ungeheuer. Wer ihr Haupt samt Schlangenhaar erblickt, erstarrt zu Stein. So die Sage, die hier zum Casino-Witz wird.
Die Fregatte dieses Namens, ein hochmodernes Kriegsschiff, erst 1810 gebaut, sollte im Jahr 1816 Ärzte, Soldaten und anderes Personal zur vormaligen und jetzt wieder französischen Handelsniederlassung auf der Insel Saint Louis bringen. Der Wiener Kongress hatte die Kolonie dem restaurierten Königreich Frankreich unter Ludwig XVIII. zugesprochen.
Der Kapitän Chaumarey war erst kürzlich aus der Emigration zurückgekehrt. Ein Repräsentant des Adels. Seinem Stand entsprechend war er ebenso wie die Schiffsoffiziere der feudalen Restauration politisch verpflichtet. Es wird vom Übermaß an Arroganz und entsprechendem Mangel an Kompetenz berichtet. Diese Männer sind von den feudalen Zuständen der vorrevolutionären Zeit geprägt. Das ist fast dreißig Jahre her. Ihre Unfähigkeit lag auf der Hand. Wiederholte Warnungen vor den Untiefen an der Westküste Afrikas prallten ab. Sie wussten es besser.
Vor allem hätten sie die gefährliche Arguin-Sandbank in einem weit in den Atlantik reichenden Bogen umfahren müssen. Denn die Sandbank reicht 30 Seemeilen ins Meer hinein. Die Sahara berührt an dieser Stelle die Küste. Es herrscht zudem ein steter und kräftiger auflandiger Wind, weil heiße Luftmassen aufsteigen und kühle über dem Meer ansaugen.
Prompt läuft hier die Medusa in der Nacht des 2. Juli auf, bricht auseinander und sinkt. Rettungsboote fassen nur 250 der 400 Passagiere. Ein Floß, das noch gezimmert werden kann, bleibt ohne Steuerung. Zunächst schwimmt es im Schlepptau der Rettungsboote. Dann lässt der Kapitän die Verbindungstaue kappen. So treibt das Floß richtungslos auf die See hinaus, während sich andere, darunter die höheren Offiziersränge, in den Booten in Sicherheit bringen können. Der Proviant ist bald verbraucht. Nach einigen Tagen erzwingt der Hunger Kannibalismus. Die Kranken werden ertränkt. 140 Menschen sterben. 15 überleben. Nach 13 Tagen sichten sie die Rettung, ein Schiff am Horizont, die Brigg Argus. Dieser Moment wird von Géricault dargestellt.
Ende 1817 veröffentlichen zwei der Rückkehrer einen Bericht. Der Skandal schlägt in ganz Europa Wellen. Marineminister Vicomte Du Bouchage wird entlassen, Kapitän Chaumarey kommt drei Jahre hinter Gitter.
Wo ist der Betrachter? Der Horizont stimmt sicher mit dem perspektivischen Konstruktionshorizont überein. Das ist aber nur überprüfbar, soweit sich passende Fluchtlinien finden lassen. Die suggerieren uns eine waagerechte Lage des Floßes. Allerdings ist der Betrachter durch die schiere Größe des Bildes – es ist 4,91 Meter hoch und 7,16 Meter breit – ganz irreal unterhalb dieses Horizontes plaziert. Er befindet sich mit den Schiffbrüchigen in einem Wellental. Das kleine Segel zieht das Floß in Richtung Küste, während die Rettung von rechts herbeizuwinken versucht wird. Die Lichtführung ist nur wenig widersprüchlich, verstärkt aber durch die starken Hell-Dunkel-Kontraste die dramatischen Effekte der Szene. Die wichtigste Kompositionslinie führt von unten links im leichten Bogen nach oben rechts bis zu dem Winkenden, um dann steil abzufallen. Sie wird von einer Gegendiagonale gekreuzt. Weitere Diagonale dynamisieren das Bildgefüge, in der Fläche wie im Bildraum, sie suggerieren heftige Bewegung. Die ursprünglichen Farbkontraste sind kaum noch zu erschließen. Géricault benutzte für das Riesenformat billige Asphaltfarben (II S. 21), die innerhalb von wenigen Jahren nachdunkelten und die intensiven Farbstudien des Künstlers an Leichen entwerten. Allein schon Licht und Schatten, der Wechsel von Hell und Dunkel, charakterisieren den Appellcharakter dieses Bildes. Kontraste zielen zwecks Erregung auf unser Gemüt, wie die Widersprüche von Ruhe und heftiger Bewegung, von schicksalsergebenem Dahindämmern und plötzlichem Durchbruch der Hoffnung.
Das Floß der Medusa zeigt keine allgemeine Menschheitsmetapher, sondern eine dramatisch aufgeladene, wenig realistische, an klassizistische Darstellungskonventionen gebundene, politisch umso eindeutigere Anklage gegen die vom Wiener Kongress aufgezwungene Restauration feudaler Machtverhältnisse und ihre Folgen. Mein Freund Samba aus dem Senegal indes, vormals Sklave der französischen Basket-Ball-Liga, Flüchtling in Neapel, jetzt Koch in Berlin, würde das Bild aus einem etwas anderen Blickwinkel bewerten. (I S. 343-350, II S. 7-33, S. 41, S. 120f.)
Das Floß der Medusa und das berühmte Bild von Eugène Delacroix (1798-1863) «Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden (Der 28. Juli 1830)» von 1831 (260 mal 305 Zentimeter, Öl auf Leinwand, Louvre, Paris) verbinden etliche formale Bezüge.
Der Bourbonenthron hatte 1814 nur mit Zugeständnissen in Form einer Verfassung, einer Charta, wiedereingerichtet werden können. Ludwig XVIII. hielt noch die Machtbalance mit dem Großbürgertum. Sein Bruder und Nachfolger im Jahr 1824, Karl X., vermochte das nicht mehr. Die Ordonnanzen vom 26. Juli 1830 sahen die Aufhebung der Reste von Pressefreiheit vor, die Verringerung der Abgeordnetenzahl, die Auflösung der soeben gewählten, von der liberalen Opposition beherrschten Kammer und die faktische Einschränkung des Stimmrechts des Besitzbürgertums. Die folgende Empörung fegte ihn innerhalb von drei Tagen vom Thron. Gerade noch rechtzeitig konnte er nach England fliehen.
Der Betrachter steht nicht ganz frontal der Barrikadenszene gegenüber, vielmehr leicht links davon. So funktioniert noch der Appell zum Anschluss an die Aufständischen.
Liberale Abgeordnete, Vertreter des Bürgertums finden sich weder auf der Straße noch auf dem Bild von Delacorix. Umso mehr beteiligen sie sich an der folgenden Übernahme der Macht. Der «Bürgerkönig» Louis Philippe, aus einer bourbonischen Nebenlinie stammend, übernimmt die Krone und ordnet sich und seine Politik den Interessen des Großbürgertums unter. Das führt zu einer Debatte der nachrevolutionären Kräfte über die soziale und politische Zuordnung der Akteure. Wem gehörte die Julirevolution?
Entsprechend unterschiedlich schreiben die Kritiker über das Bild von Delacroix. Das Adelsblatt «Gazette de France»: «Diese Massaker, diese Plünderungen, diese abscheulichen Gestalten...» (6. Mai 1831). Die republikanische La Tribune am 17. Mai 1831: «Nein, unsere Julikämpfer hatten gewiß nicht diese scheußlichen Gesichter, diese schrecklichen Phsysiognomien!» Im übrigen waren sich aber die Linken einig darin, dass «es einfach das schönste Bild des Salons» sei. Heinrich Heine, kürzlich erst in Paris angekommen, schrieb: «ein großer Gedanke hat diese gemeinen Leute, diese Crapüle, geadelt und geheiligt und die entschlafene Würde in ihrer Seele wieder aufgeweckt.» Nicos Hadjinicolaou referiert in seiner Monographie (Die Freiheit führt das Volk von Eugène Delacroix. Sinn und Gegensinn, Dresden 1991, S. 52 ff.) die zeitgenössischen Kritiken. Er bestreitet, ausdrücklich auch gegen Peter Weiss gerichtet, dass sich der Künstler hier selbst dargestellt habe. (ebenda, S. 129). Vielmehr handele es sich um Delacroix' Freund Etienne Arago, seinerzeit Direktor eines Vaudeville-Theaters, Autor von Komödien, später Bürgermeister von Paris und Kustos des Musée du Luxembourg.
Bezeichnenderweise erwarb das Innenministerium das Bild. Preis 3000 Francs. Nur wenige Monate war es im Musée du Luxembourg zu sehen. Schon 1833 verschwand es im Magazin, um nach der Februarrevolution ab 1849 gerade mal zwei Jahre lang dem Publikum zur Verfügung zu stehen. Das Kaiserreich entsorgte es wieder in den Keller. Nur während der Weltausstellung 1855 kam es wieder ans Licht. Dauerhaft ausgestellt wird es seit dem Tod des Künstlers 1863, zunächst im Musée du Luxembourg und später im Louvre.
«Das Massaker von Chios» (1824) von Delacroix ist ein Bild, das sich mit den Absichten der Regierung in Einklang bringen ließ (4,17 mal 3,54 Meter, Öl auf Leinwand, Louvre, Paris). (I S. 347)
Der Befreiungskrieg der Griechen gegen die osmanische Herrschaft dauerte von 1821 bis 1829 und endete nach kriegsentscheidender Unterstützung der Großmächte Russland, England und Frankreich siegreich. Allerdings sorgte insbesondere England dafür, dass diese nationale Befreiung politisch und sozial nicht im Sinne einer bürgerlichen Revolution ausuferte. Griechenland kam auf diese Weise an einen König bayrischen Geblüts. Es handelte sich um Otto, den minderjährigen Sohn von König Ludwig I.
Dem Massaker auf der Insel Chios fielen im Jahre 1824 einige Zehntausend Menschen zum Opfer oder wurden in die Sklaverei entführt. In Europa fand dieses Ereignis eine starke Resonanz und trug zum Erstarken einer philhellenischen (griechenfreundlichen) Bewegung bei.
Delacroix appelliert auch hier an die Gefühle des Betrachters. Die Opfer werden hell angestrahlt, während die osmanischen Täter und Bewacher unter Mißachtung der Beleuchtungsregeln in parteilichem Schatten stehen. Auch die Betrachterhöhe ist widersprüchlich. Wir stehen offenkundig auf demselben Boden wie die griechischen Gefangenen, dennoch liegt der Horizont weit über deren Köpfen, damit wir auf die Kämpfe und ihre Wirkungen in der Tiefe der Landschaft aufmerksam werden. Nicht zuletzt sorgt die Anordnung der Figuren für mitleidige Emotionen des Publikums, die damals regierungsseitig zur Propaganda genutzt wurden. Lethargie und heftige Aktion. Wenn man sich probeweise mal vorstellt, der Betrachter stünde etwas abseits rechts oder links, erkennt man die pressekonferenztaugliche Anordnung der Figuren.
Bei weniger heroischen Ereignissen mangelt es an Bildzeugnissen. Eins stammt von Jean-Louis Ernest Meissonier (1815 – 1891), Titel: «Barrikade, Rue de la Mortellerie, Juni 1848» (1848-1850) (29 mal 22 Zentimeter, Öl auf Leinwand, Louvre). Es liegen einige Tote in einer Gasse neben Pflastersteinen. (II S. 40)
Sie sind Opfer der Junieereignisse 1848. Die Februarrevolution hatte das Regime von «Birne» Louis-Philippe beendet. 18 Jahre nach der Julirevolution war die Arbeiterklasse schon erheblich zahlreicher beteiligt und meldete ihre Anspüche an. Es ging um Arbeitsplätze. Es entstanden sogenannte Nationalwerkstätten, durch die Arbeiter vorwiegend mit Straßenbau beschäftigt wurden. Derartige Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurden der Bourgeoisie aber bald zu teuer. Die Provisorische Regierung kündigte von heute auf morgen. Im Vertrauen auf ihre im Februar erprobte Kraft gingen die Arbeiter unverzüglich auf die Barrikaden. Das war am 22. Juni 1848 und dauerte vier Tage. Die Gegenseite war gut vorbereitet. Der Aufstand wurde von Einheiten der französischen Armee und der Nationalgarde blutig niedergeschlagen. Die Zahl der getöteten Arbeiter wird auf 5000 geschätzt, 1500 davon wurden ohne Prozess erschossen, 25.000 inhaftiert, 11.000 wurden zu Gefängnis verurteilt oder in eine der überseeischen Kolonien deportiert.
Gustave Courbet (1819-1877) hat das Bild «Die Steinklopfer» 1849 gemalt. (159 mal 259 Zentimeter, Öl auf Leinwand, Gemäldegalerie Dresden. Das Bild ist durch den Krieg verlorengegangen.) (I S. 60 f.)
Die Gesichter der beiden Straßenarbeiter sind verdeckt: ein Hinweis darauf, dass hier nicht Individuen, sondern Vertreter ihres Standes dargestellt werden. Von nur geringem Belang ist der Hintergrund; der Mittelgrund ist durch die Böschung verdeckt. Wie vor einer Folie sehen wir einen kompositionell gestützten Bewegungsablauf. Bemerkenswert sind einige Disproportionen bei den beiden Figuren, Widersprüche der Betrachterhöhe und der Lichtführung. Sie entziehen sich einer Deutung, so dass in diesem Falle angenommen werden kann, dass sie fahrlässig entstanden sind.
Dieses Bild darf als realistisch bezeichnet werden, in dem Sinne, dass Tatsachen, die bislang als nicht kunstwürdig galten, Eingang in die Bildmotive finden. Entsprechend empört waren auch die Reaktionen des Pariser Kunstpublikums, zumal ein Jahr nach den Juni-Ereignissen in Paris an das Leben, das diese verachteten Kreaturen zu fristen hatten, allzu deutlich erinnert wurde. Körperliche Arbeit und Arbeiter galten der immer noch herrschenden idealistischen Kunstauffassung als roh und nicht kunstwürdig, zumal Arbeiter nicht erst 1848 in der Februarrevolution lange fällige soziale Ansprüche hatten geltend machen können. Diese Ansprüche waren nicht geeignet, in den herrschenden bürgerlichen Kreisen Entzücken auszulösen.
Keine Fregatte, sondern eine Galeone sehen wir auf dem Bild von Pieter Bruegel, d. Ä. (1525-1569) «Der Sturz des Ikarus» von 1568 (74 mal 112 Zentimeter, Öl auf Leinwand, Musees Royaux des Beaux-Arts, Brüssel) (I S. 174)
Daidalos war Künstler und ein hervorragender Handwerker. Aus Neid wollte er seinen begabten Neffen Perdix (Rebhuhn) töten und stieß ihn von einer Klippe. Athene rettete Perdix. Daidalos wurde verbannt und Sklave des König Minos auf Kreta. Um von dort zu fliehen, konstruierte er für sich und seinen Sohn Ikaros Flügel aus Wachs und Federn. Den Sohn warnte er: Er solle nicht zu tief fliegen, vielmehr vermeiden, dass sich Wassertropfen in den Federn fingen und die schwer gewordenen Flügel ihn ins Wasser zögen, aber auch nicht zu hoch steigen wegen der Gefahr, dass die Sonne das Wachs schmelze, die Federn löse und ihn in die Tiefe stürze. Ikaros hält sich nicht daran. In seinem Übermut gerät er zu nahe an die Sonne. Dass er ins Wasser stürzt, fällt im Bild kaum auf. Man muss die Geschichte kennen. Sie wird von Ovid in den Metamorphosen erzählt, wörtlich schreibt der römische Dichter: «hos aliquis tremula dum captat harundine pisces, aut pastor baculo stivave innixus arator vidit et obstipuit, quique aethera carpere possent, credidit esse deos.» (VIII, 217-220) «Mancher, der mit schwankender Angelrute fischte, mancher Hirte, der sich auf seinen Stab, manch ein Bauer, der sich auf den Pflug stützte, erblickte die beiden, staunte und hielt sie für Götter, da sie die hohe Luft durchqueren konnten.»
So wird eine Geschichte, die urspünglich einen sorgsamen Umgang mit der Technik empfiehlt, schon bei Ovid mit einer Warnung vor gotteslästerlichem Übermut versehen und dieser ins Verhältnis zur Genügsamkeit des Fischers, des Hirten und des Bauern gesetzt. Etwa nach der Moral: «Schuster bleib bei deinen Leisten». Das Schiff, neben dem Ikarus ins Wasser eintaucht, lässt Peter Weiss unerwähnt. Auch bei Ovid kommt es nicht vor. Das fällt auf. Die Galeone ist den Zeitgenossen aber vertraut. Es handelt sich um den seinerzeit modernsten Schiffstyp. Hochsehtüchtig und atlantikerprobt. Damit wurden Billigprodukte nach Afrika, Sklaven von Afrika nach Amerika und von dort schließlich Gold, Gewürze und andere Kostbarkeiten nach Europa gebracht.
Portugal und Spanien teilten sich auf der Grundlage des Vertrags von Tordesillas von 1494 die amerikanischen Eroberungen. Die Indianer genannten Bewohner wurden dezimiert, ausgerottet, durch Sklaven ersetzt. Bruegels Kritik, der zeitgenössische Bezug ist ebenso ablesbar wie im Bild «Turmbau zu Babel» von 1563. (114 mal 155 Zentimeter, Öl auf Eichenholz, Kunsthistorisches Museum Wien) (I S. 174)
Die alttestamentarische Geschichte vom Turmbau zu Babel (Genesis 11, 1-9) erklärt den Umstand, dass sich die Menschheit unterschiedlicher Sprachen bedient, als göttliche Strafe gegen die Sünde, mittels eines himmelhohen Turms gottähnlich werden zu wollen. Der Maler erzählt hier nicht etwa nur von der Hybris der Menschen allgemein und erklärt so die «Sprachverwirrung», sondern er macht einen Herrscher für diese Handlungen verantwortlich. Wir sehen diesen, den biblischen Nebukadnezar, im Vordergrund. Es werden ihm dort die Fortschritte der Arbeit gezeigt. Den Hintergrund bildet eine flache flämische Küstenlandschaft.
Interessant ist die detailgenaue Wiedergabe von Arbeitsgeräten und Maschinen.
Solche Türme standen in Mesopotamien, dem Land «zwischen den Strömen» Euphrat und Tigris auf dem Gebiet des heutigen Irak und Syriens. Zikkurat war die Bezeichnung dafür. Der in Babylon hieß Etemenanki, wurde vom assyrischen König Sanharib im Jahre 689 vor unserer Zeitrechnung zerstört und von Nebukadnezar wieder aufgebaut. Die Türme konnten bis zu 100 Meter hoch sein. Der babylonische maß 91,5 Meter. Da die Grundlage der Zikkurate im wesentlichen aus Lehmziegeln bestand, nur die Außenwände aus gebrannten Tonziegeln, war ihr Bestand nie von langer Dauer. Immer wieder mussten sie erneuert werden.
Die biblisch bezeugten Erfahrungen der Bewohner Palästinas mit Nebukadnezar beziehen sich auf ihre Gefangenschaft in Babylon nach der Eroberung von Jerusalem Anfang des 6. vorchristlichen Jahrhunderts.
Herodot wird gegen 460 v.u.Z. Babylon besucht haben. Er ist möglicherweise auch die literarische Quelle für den flämischen Maler Bruegel gewesen (Historien, Buch 1, 181-183). Denn er spricht von 8 Stufen und einer Treppe ringsum.
Das Bild entstand im Jahr 1563. Im selben Jahr wurden auch die Arbeiten am Escorial bei Madrid mit seinen 2000 Gemächern, 3000 Türen und 2673 Fenstern, 16 Höfen, 12 Kreuzgängen, 88 Brunnen und 86 Treppenaufgängen begonnen. Der Bau hat eine Gesamtgrundfläche von 33.000 Quadratmeter. Nur der Vatikanpalast war größer.
Sowohl im «Ikarussturz» wie im «Turmbau» werden die sozialen und politischen Spannungen spürbar, die damals die spanischen Niederlande prägten und zunächst als religiöse Auseinandersetzungen wahrgenommen wurden. Auf der einen Seite stärkte das Konzil von Trient (von 1545 bis 1563) die Gegenreformation. Auf der anderen Seite kam es im Jahr 1566 zum Bildersturm. Das verarmte städtische Volk stürmte die Kirchen mit ihrem reichen Schmuck und zerstörte ihn. Das habsburgische Spanien unter Philipp II. reagierte mit Härte. Bedenkenlos ging die Inquisition gegen protestantische Calvinisten und andere «Ketzer» vor.
Auch «Der bethlehemitische Kindermord» vom selben Maler (1565, I S. 174) protestiert gegen ein zeitgenössisches Massaker spanischer Truppen in einem flämischen Dorf.
Die Scheiterhaufen für Egmont und Hoorn am 5. Juni 1568 wurden zum Fanal des Aufstands. Der achtzigjährige Krieg begann und endete mit der Sezession, dem «Abfall der Niederlande», der faktischen Trennung von sieben Provinzen im Jahre 1609, völkerrechtlich verbindlich mit dem Friedensvertrag von Münster und Osnabrück im Jahre 1648. Seitdem sind die Niederlande ein souveräner Staat. Der achtzigjährige Krieg entpuppte sich als bürgerliche Revolution. Wo vormals der Adel herrschte, hatten jetzt die Kaufleute das Sagen. Für alle, die sich der Inquisition entziehen konnten, eine Zuflucht: Wissenschaftler und Philosophen konnten hier ihrem Tagwerk unbehelligt nachgehen.
Ein anderer Effekt ist das Sinken des Horizontes. Bruegels Horizonte sind noch hoch, der Betrachter, namentlich als Auftraggeber oder Kunde, blickt auf einfache Leute herab, während die Landschaftsmaler der befreiten Niederlande in der Regel den Betrachter auf die Höhe der Figuren bringen. Die Künstler produzieren arbeitsteiliger und billiger. Kleine Bilder für kleine Leute. Und sie konkurrieren untereinander auf einem krisenanfälligen Markt.
Das Land konnte sich befreien, nachdem im Sommer 1588 die spanische Kriegsflotte durch holländische und britische Schiffe, deren weiter reichende Kanonen sowie einen widrigen Sturm dezimiert und im April 1607 vollständig vernichtet worden war. Als Nebeneffekt entstanden zwei weltumspannende Kolonialreiche. Den Niederländern gilt das 17. als das Goldene Jahrhundert.
Liebe Freunde,
es gibt eine Wikipedia-Seite1, auf der die Werke namentlich der bildenden Kunst und der Literatur, welche in der Ästhetik des Widerstands Erwähnung finden, aufgelistet sind.
Über 100 sollen es sein. Sie werden mit unterschiedlicher Sorgfalt diskutiert, untersucht und bewertet. Ausführlich sind der Pergamon-Fries, das Floß der Medusa, Picassos Guernica erörtert. Über andere gibt es sehr viel weniger Text, manche werden nur erwähnt, bei anderen wird ein Kenner merken, wovon die Rede ist, etwa bei Poussins «Et in Arcadia ego» (I S. 86; II S. 31). Die Auswahl ist nicht immer begründet, häufig scheint es die unmittelbare und zufällige Anmutung, die die Anregungen sortiert. Wie überhaupt die Aneignungsform problematisch erscheint. Ich nehme damit einen Einwand von Klaus Herding auf («Arbeit am Bild als Widerstandsleistung» in: Die Ästhetik des Widerstands, hrsg. von Alexander Stephan, Ffm 1983), wenn er die emotionale Durchdringung des vergangenen Ereignisses und der historisch gewordenen Kunstform anspricht (S. 254). Sie sei Weiss' eigentliches Anliegen und bleibe doch problematisch. Herding: «Einmal scheint es so, als sei die Historizität der Form (z.B. der akademische Körperklassizismus und der chaotische Verfall der romantischen Raumauffassung im Floßbild) kein Aneignungshindernis, als könne der Autor die Form, unmittelbarer noch als den Vorgang, in die eigene Gefühlswelt holen; unterschiedslos betroffen scheint er von Pergamon, Brueghel, Géricault oder Picasso zu sein. Dann wieder wirken die Emotionen ‹hinzugefügt› – unvermeidbar, wird doch der Vorgang des Begreifens vor dem Empfinden mehrfach betont (siehe I S. 42)..»
Derartige Unmittelbarkeit ist so trügerisch wie der Begriff eines «Selbst»:
«Alle unsere Bemühungen um Befreiung waren bedingt vom Versuch, die Vorherrschaft der Autorität abzuwerfen und endlich dorthin zu gelangen, wo wir selbst zu urteilen und zu bestimmen hatten.»
«Unsere Organisationen sind wie Erdschichten, die abgehoben werden müssen, damit wir uns selbst finden können.»
«Dass alles, was uns vorgesetzt wird, noch so richtig sein kann, und dass es doch falsch ist, solange es nicht von uns, von mir selbst kommt.» (I S. 227)
Nun zum letzten Bild. Für Peter Weiss stellt es die Verherrlichung schwülstiger Pracht dar (I 356). Es handelt sich um «Das Ballsouper» (1878) von Adolph Menzel (71 mal 90 Zentimeter, Öl auf Leinwand, Nationalgalerie Berlin).
Wahrscheinlich sehen wir in das (heute wieder erstehende) Berliner Stadtschloss, in dem sich vornehme Gäste tummeln, Aristokraten und Militärs. Rechts balancieren die Damen die Teller auf den Schößen, links mühen sich die Herren ab, Etikette und Bedürfnis miteinander zu vereinbaren. Die Bankettakrobatik erfordert das gleichzeitige Halten von Teller, Besteck und Glas, während der Dreispitz zwischen die Knie geklemmt wird. Dem einen oder anderen mag dabei noch etwas Konversation gelingen.
Das Bild ist mit Goldschmuck, Kerzenlicht der Hänge- und Standleuchter so überladen wie mit der Darstellung von Einzelheiten, die sich erst auf den zweiten Blick samt der ironischen Distanz der Darstellung erschließen. Mit Bedacht hat der kleinwüchsige Maler einen Betrachterstandpunkt oberhalb des Publikums gewählt. So lässt sich die zumindest zeitweilige Unzuständigkeit seiner Figuren für private wie öffentliche Angelegenheiten beobachten.
Text: Klaus Stein
Bilder: wikipedia
Gemeinfrei
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- Programm: «zum 100. geburtstag (8.11.1916) (wieder-) begegnung mit Peter Weiss und seinem Werk» (pdf)