Partei

EU und Euro

Auf dem Maiempfang der DKP Rheinland-Westfalen in Leverkusen am 29.4.2012 sprach Gastredner Georg Polikeit (ehemaliger Chefredakteur der UZ) zum Thema

»Die Krise in der EU – Wie stark sind die Kräfte des Widerstandes?«

Porträt Georg Polikeit

Wer den vorherr­schen­den Zei­tun­gen oder dem Fern­sehen glaubt, konnte in den letzten Wochen leicht zu dem Eindruck kommen, dass die Euro-Krise vorbei sei.

Aber das war natürlich die übliche Täuschung im herr­schen­den Medien­betrieb – wie aktuell die in den letzten Tagen neu akut gewor­dene Wirtschafts- und Finanz­krise in Spanien beweist.

In der franzö­sischen Tageszeitung »Le Monde« fand ich kürzlich einen Artikel von zwei französischen Finanz­markt­ex­per­ten, den ich ganz interessant fand. Die schrieben da, der im März von 25 EU-Staaten unterzeichnete »Fiskalpakt« habe die Krise der Eurozone nicht geregelt, weil er die tiefe Ursache dieser Krise nicht angehe. Diese liege nämlich in den »strukturellen Ungleich­gewichten der Leistungs­bilanz« zwischen den Euro-Staaten.

Die Staatsschuldenkrise sei nicht die Ursache der Finanzkrise, sondern ihre Folge. Und die von der EU verordnete allgemeine Sparzwang­politik bringe das Risiko mit sich, »die Euro-Zone in ein verlorenes Jahrzehnt der Rezession zu drängen, bis sie unter dem Druck von sozialen Revolten gegen das Joch des Sparzwangs implodiert«.

Ich meine, damit haben diese Finanzexperten recht – auch wenn sie vermutlich keine Marxisten sind.

Die hohen Schulden der Euro-Staaten sind in der Tat nicht die Ursache, sondern die Folge der Krise. Allerdings nicht nur einer reinen Finanzkrise, sondern der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise, die 2008/2009 ihren ersten Höhepunkt hatte, aber auch heute noch immer nicht vorbei ist.

In der Politischen Resolution des letzten DKP-Parteitags wurde diese Krise im Oktober 2010 als eine systembedingte tiefe Krise des neoliberalen finanz­dominierten Wachstumsmodells des heutigen Kapitalismus eingeschätzt.

Die Realität seitdem hat diese Einschätzung bestätigt.

Die Euro-Krise ist keine isolierte europäische Krise – und auch nicht nur die Folge von Konstruktionsfehlern bei der Gründung der Währungsunion, wie Frau Merkel immer wieder sagt – wie es manchmal aber auch in Texten linker Autoren zu lesen ist.

Schon gar nicht sind diese Krise und die hohen Staatsschulden eine Folge dessen, dass die Völker »über ihre Verhältnisse gelebt« hätten.

Über die Verhältnisse leben in der EU nur die großen Konzerne, Banken und Finanzunternehmen, die nun schon seit Jahrzehnten absolut unverhältnismäßig hohe Gewinne einfahren.

Zu den Hauptursachen der Euro-Krise gehört in der Tat die ungleichmäßige ökonomische Entwicklung der verschiedenen EU-Staaten. Vor allem das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen exportstarken Staaten wie Deutschland auf der einen und den ökonomisch schwächeren Staaten im südlichen, aber auch im östlichen und südöstlichen Europa auf der anderen Seite.

Diese ungleichmäßige Entwicklung ist durch die Schaffung des Europäischen Binnenmarkts und durch die Einführung des Euro nicht abgeschwächt, sondern erheblich verstärkt worden.

Aber ungleichmäßige wirtschaftliche Entwicklung einzelner Staaten und Regionen gehört zu den Grundgesetzen der kapitalistischen Ökonomie, ist also systembedingt.

Recht haben die eingangs erwähnten französischen Autoren auch mit der Feststellung, dass die »verallgemeinerte Sparzwangpolitik«, die insbesondere von der deutschen Kanzlerin Merkel im Verein mit dem französischen Noch-Staatschef Sarkozy durchgesetzt wurde, die betroffenen Staaten immer tiefer in die Rezession und damit in die Krise hinein gedrängt hat. Nach Griechenland ist derzeit gerade Spanien ein treffendes Beispiel.

Mittlerweile wird selbst in den oberen Rängen der EU immer klarer, dass mit diesen neoliberalen Spar- und Privatisierungskonzepten die Wirtschaft der betroffenen Staaten buchstäblich kaputt gespart wird und die Euro-Krise damit tatsächlich nicht zu bewältigen ist.

Nach offiziellen Angaben des Statistischen Dienstes der EU sind zur Zeit in den Euro-Staaten so viele Menschen arbeitslos wie noch nie seit der Einführung des Euro. Das ist ein absoluter Rekord.

Jeder fünfte Jugendliche unter 25 Jahren in der EU ist ohne Job.

Angesichts der anhaltenden Krisenprobleme und der damit zugleich auch größer gewordenen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der führenden EU-Kreise wurde in letzter Zeit von verschiedenen Seiten immer wieder ein baldiges Platzen der Währungsunion und ein Ende des Euro vorhergesagt. Auch von linken und der DKP nahestehenden oder ihr angehörenden Autoren.

Dafür gibt es meiner Meinung nach eine Reihe von guten Gründen. Die bisherigen Krisen­bewältigungs­rezepte haben nicht funktioniert. Es gibt Indizien, dass auch in verschiedenen anderen Euro-Staaten bald neue akute Krisenprobleme auftreten könnten, die mit den bisherigen Mitteln und Methoden immer weniger zu bewältigen sein dürften.

Dennoch möchte ich auch hier wiederholen, was ich in jüngster Zeit schon an verschiedenen anderen Stellen gesagt habe. Nämlich dass man meiner Ansicht nach mit solchen Vorhersagen äußerst vorsichtig und zurückhaltend umgehen sollte.

Wenn wir uns nämlich ansehen, was die EU-Oberen derzeit tatsächlich als konkrete Politik betreiben, können wir nur feststellen, dass ihre strategische Hauptorientierung zweifellos darauf ausgerichtet ist, die Währungsunion und den Euro unter allen Umständen zu erhalten und zu sanieren. Auch Griechenland soll unbedingt in der Eurozone gehalten werden, wie Frau Merkel immer wieder erklärte.

Das führt zu der Frage: Warum halten die führenden EU-Kreise mit so großer Hartnäckigkeit an der Währungsunion und am Euro fest? Warum soll trotz durchaus einflussreicher Gegenstimmen auch Griechenland unbedingt im Euro bleiben?

Ich denke, das entscheidendes Motiv dafür ist die Überlegung, dass andernfalls ein »Dominoeffekt« eintreten würde und ein Prozess des zunehmenden Zerbröckelns der EU als Ganzes die Folge wäre.

Das aber würde die eigenständige weltpolitische Rolle, die sich die führenden EU-Kreise mit der Gründung der EU und danach mit der Einführung des Euro zum Ziel gesetzt haben, stark beschädigen und auf Dauer unmöglich machen.

Die in der EU tonangebenden Kreise haben aufgrund der Krise keineswegs auf die Ambition verzichtet, die EU sowohl ökonomisch wie politisch und militärisch zu einem eigenständigen »global player« zu machen. Gerade weil sie an diesem Ziel festhalten, versuchen sie, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Währungsunion zu erhalten und gleichzeitig die Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten der EU gegenüber den Mitgliedsstaaten weiter auszubauen.

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat im September 2011 in einem Thesenpapier betont, dass die deutsche Industrie »größtes Interesse am Erhalt des Euro sowie am Fortbestand und der Weiterentwicklung der Europäischen Union« hat. Die Schuldenkrise müsse als »Chance« begriffen werden, jetzt »langfristig notwendige Weichenstellungen endlich anzupacken«.

Damit hat der BDI meiner Meinung nach die strategischen Interessen der führenden Kapitalkreise Deutschlands genau beschrieben. Denn die heutige Rolle des deutschen Kapitals und des deutschen Staates in der Welt ist untrennbar mit der Existenz der EU und dem Euro verbunden. Darauf verzichten zu müssen, wäre für die globalpolitischen Interessen des deutschen Kapitals sehr schädlich und ist daher für die derzeitigen Macher der deutschen Politik nicht vorstellbar.

Dementsprechend werden unter deutscher Führung in der EU schon seit einiger Zeit enorme Anstrengungen unternommen, um die vom BDI geforderten »notwendigen Weichenstellungen« in den EU-Strukturen in die Praxis umzusetzen.

Der im März beschlossene sogenannte Fiskalpakt war da nur der jüngste Schritt in diese Richtung. Mit ihm wurden alle teilnehmenden EUStaaten verpflichtet, eine »Schuldenbremse« nach deutschem Vorbild einzuführen. Alle übernehmen damit die Verpflichtung, künftig nur noch ausgeglichene Haushalte zu verabschieden. Bereits bei einem strukturellen Defizit von 0,5 Prozent soll ein automatischer Korrekturmechanismus greifen, der von den nationalen Parlamenten nicht aufgehalten werden kann.

Aber der Fiskalpakt war nur einer von mehreren Bausteinen, die in den letzten zwei Jahren in diese Richtung neu installiert worden sind.

Zuvor war im letzten Jahr das sogenannte »Europäischen Semester« eingeführt worden, das in diesem Frühjahr zum zweiten Mal praktiziert wird. Mit ihm werden die EU-Staaten verpflichtet, ihre jährlichen Haushaltspläne, bevor sie dem eigenen nationalen Parlament vorgelegt werden, bei der EU-Kommission zur Kontrolle und Begutachtung vorzulegen.

Eng damit verknüpft ist der »Euro-Plus-Pakt«, mit dem die Mitgliedsstaaten verpflichtet wurden, jedes Jahr »Reformpläne« zur »Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit« bei der EU-Kommission vorzulegen.

Schließlich gibt es seit dem letzten Herbst den sogenannten »Six-pack« mit sechs neuen EU-Verordnungen, die die »Durchgriffsrechte« der EU- und Euro-Zentralinstanzen gegenüber den Mitgliedsstaaten verstärkt haben.

Zusammengefasst lässt sich meiner Ansicht nach durchaus sagen, dass die Mitgliedsstaaten damit erheblich schärfer als bisher an die Kandare genommen und einer stärkeren wirtschaftspolitischen Steuerung durch die EU- bzw. Euro-Zentralen unterworfen werden. Unter der Bezeichnung »europäische Wirtschaftsregierung« erreichen die Machtbefugnisse der EU- und Euro-Zentrale gegenüber den Mitgliedsstaaten eine neue Qualität.

Damit bestätigt sich, was wir 2006 in unserem Parteiprogramm festgestellt haben, nämlich dass die wirtschaftliche und politische Dynamik die EU dazu drängen, »sich den Kern eines supranationalen Staatsapparats zu verschaffen«.

Es muss aber hervorgehoben werden: Das Ziel aller dieser Maßnahmen ist nicht allein die »Rettung des Euro« und die Sanierung der »Schuldenstaaten«. Es geht vielmehr darum, diesen Schuldenabbau in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken.

Abbau der Staatsschulden – das wäre ja auch über eine höhere Besteuerung der Reichen und vor allem der riesigen Profite der Finanzkonzerne und anderer Großunternehmen möglich.

Aber der EU-erzwungene Schuldenabbau geht genau in die entgegengesetzte Richtung.

Es geht darum, in der gesamten EU – nicht nur in den Schuldenstaaten, sondern in allen EU-Staaten – eine Wirtschafts-, Haushalts- und Sozialpolitik durchzusetzen, die noch schärfer als bisher an den neoliberalen Wirtschaftsdoktrinen orientiert ist.

Es geht um die Abwälzung der Krisenlasten von den eigentlichen Verursachern auf die große Mehrheit der Bevölkerung in allen EU-Staaten. Und damit um eine weitere grundsätzliche Veränderung der Verteilungsrelationen des produzierten Reichtums zugunsten des Kapitals und zu Ungunsten der abhängig Beschäftig­ten. Also um das Herabdrücken des Preises der Ware Arbeitskraft in allen EU-Staaten auf ein weitaus niedrigeres Niveau als bisher.

In letzter Zeit ist auch von Merkel und anderen führenden EU-Politikern immer häufiger zu hören, dass Schuldenabbau allein nicht ausreiche. Es müsse auch für mehr Wirtschaftswachstum und eine »Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit« durch »strukturelle Reformen« in den EU-Staaten gesorgt werden.

Was damit gemeint ist, muss man sich genau ansehen.

Unter anderem wird in entsprechenden EU-Papieren ein von der EU-Zentrale organisierter ständiger Vergleich der Lohnstückkosten in den einzelnen EU-Staaten befürwortet. Das heißt, EU-weit soll Druck auf die Löhne gemacht werden durch ständige Hinweise auf das niedrigere Lohnniveau in den Nachbarstaaten oder anderen Teilen der Welt.

Zu den empfohlenen »strukturellen Reformen« gehört neben dem Abbau des Kündigungsschutzes auch die Überprüfung der geltenden »Lohnfindungsmechanismen«. »Lohnfindungsmechanismen« – das ist ein anderes Wort für das Tarifverhandlungen und Tarifverträge. In allen EU-Staaten soll damit eine grundsätzliche Korrektur des bisherigen Tarifrechts in Richtung einer generellen »Flexibilisierung« der Tarifverträge durch die allgemeine Einführung von betrieblichen Öffnungsklauseln durchgesetzt werden.

Immer wieder als Richtlinien genannt werden in den EU-Texten ferner die generelle Erhöhung der Altersgrenzen für den Rentenbezug, die Überprüfung der »finanziellen Tragfähigkeit« des Gesundheitswesens, natürlich mit dem Ziel der weiteren Kostensenkung, die Reduzierung von Leistungen an Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger u.a.m.

Mit dem Ausbau der EU-Kompetenzen auf wirtschafts-, finanz- und zunehmend auch auf sozialpolitischem Gebiet verbunden ist die weitere Aushöhlung und Einschränkung der nationalen Souveränitätsrechte und damit ein Abbau der Demokratie.

Das Haushaltsrecht der nationalen Parlamente, das Kernstück des bürgerlichen Parlamentarismus wird ausgehebelt, weil die nationalen Parlamente nur noch Haushalte beschließen können, die zuvor von der EU kontrolliert und genehmigt worden sind.

Auch die Entsendung von EU-Sparkommissaren in einzelne Staaten mit Kontroll- und Entscheidungsvollmacht gegenüber den jeweiligen gewählten nationalen Regierungen gehört weiter zu den Überlegungen und Vorhaben der EU-Zentrale. Am Beispiel Griechenland und Italien war zu besichtigen, wie die führenden EU-Kreise sogar die Ablösung ganzer Regierungen und deren Ersetzung durch ihnen gefälligere Regierungschefs und Regierungskoalitionen betrieben haben.

Zu den Umbaumaßnahmen im Namen der Krisenbewältigung gehört auch die stärkere Unterteilung und damit Spaltung der EU in zwei unterschiedlich eng integrierte Gruppen: das mächtige »Kerneuropa« mit Deutschland und Frankreich als »hartem Kern«, und die seinen Interessen untergeordnete Peripherie. Die Euro-Zone bekommt mit einem eigenen Präsidenten und regelmäßigen eigenen Spitzentreffen neben den bisherigen EU-Strukturen eine eigenständige Beschlussstruktur und damit ein stärkeres Eigenleben als EU-Führungszentrum. Zugleich verfestigt sich damit natürlich auch die dominante Stellung Deutschlands innerhalb der EU.

Nun kann man natürlich sagen, dass alle diese Maßnahmen letztlich nicht in der Lage sein werden, die systembedingten kapitalistischen Widersprüche, die der Euro-Krise zugrunde liegen, zu bewältigen. Das stimmt.

Trotzdem sollten wir uns meiner Meinung nach aber nicht darauf einstellen, dass der Euro und die Währungsunion oder die EU als Ganzes über kurz oder lang gewissermaßen von selbst zusammenbrechen werden.

Bei aller grundsätzlichen Unlösbarkeit der Widersprüche im Rahmen des Kapitalismus sollten wir die Möglichkeit und vor allem die politische Entschlossenheit der Herrschenden, die Krisenprobleme im Interesse der Profite des Finanzkapitals und der Weltmachtrolle der EU wenigstens zeitweise wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen, nicht unterschätzen.

Wir sollten dabei auch bedenken, dass es nicht nur Krisenverlierer, sondern auch Krisengewinner gibt. Etwa die Banken, Finanzkonzerne und Hedgefonds haben gerade in und mit der Krise gute Geschäfte gemacht. Für diese Kreise ist die »Überwindung der Krise« also gar nicht so dringend.

Die entscheidende Frage bleibt deshalb meiner Meinung nach weiterhin, wie lange es den Herrschenden noch gelingen kann, die Lasten der Krise trotz aller gewachsenen Gegenwehr letztlich doch auf die Bevölkerung abzuwälzen. Wie lange lässt sich der Ausbruch von sozialen und politischen Konflikten in Europa, die die Macht des Kapitals und seiner Regierungen tatsächlich bedrohen könnten, noch verhindern?

Damit bin ich beim zweiten Teil meines Themas, nämlich der Frage nach den Kräften des Widerstands. Ich kann es hier nur noch kurz streifen.

Der Wiederstand ist europaweit in der letzten Zeit zweifellos erheblich gewachsen. Davon zeugen die großen Kampfaktionen in Griechenland, die wiederholten Generalstreiks in Portugal, Spanien, Belgien und viele tausend kleinere Widerstandsaktionen in anderen Staaten – und aller Voraussicht nach auch übermorgen neue große Mai-Kundgebungen der Gewerkschaften in ganz Europa.

Aber zugleich müssen wir doch wohl auch feststellen, dass durchschlagende Erfolge mit diesen Widerstandsaktionen bisher noch nirgendwo erreicht worden sind. Von dem Punkt, dass die Eurozone unter dem Druck von sozialen Revolten gegen das Joch des Sparzwangs implodiert, wie die eingangs erwähnten Finanzexperten befürchteten, sind wir offensichtlich noch ein ganzes Stück entfernt.

Trotz aller den Völkern aufgebürdeten »Opfer« herrscht neben der Wut und dem Zorn gleichzeitig vielfach doch noch weiterhin die Tendenz, sich mit den abgepressten Krisenopfern letztlich abzufinden. Nicht zuletzt auch deshalb, weil viele unzufriedene Menschen immer noch glauben, dass die Vorstellungen der Linken von einer Alternative zum gegenwärtigen Kurs nicht realistisch und nicht durchsetzbar seien.

Das verweist uns darauf, dass nicht nur die objektive Verschärfung der sozialen Gegensätze, sondern vor allem die Entwicklung des subjektiven Faktors, des Kampfwillens und des Bewusstseins der Betroffenen entscheidend ist.

Wie also kön­nen die Kräfte formiert werden, die dieser Situation ein Ende machen und tatsächlich eine andere Entwicklungsrichtung in EU-Europa durchsetzen können? Das ist aus in meiner Sicht die entscheidende Frage, vor der wir stehen.

Dazu gehört auch die Frage, welche Alternative zur gegenwärtigen EU-Politik wir denn vorschlagen.

Häufig anzutreffen ist die Vorstellung, dass ein Austritt aus der EU und die Wiedereinführung nationaler Währungen der richtige Ausweg wäre.

Ich wiederhole dazu, dass dies aus meiner Sicht kein geeigneter und auch kein realistischer Ausweg aus der Situation ist. In manchen Peripherie­staaten der EU mag das auch von progressiven Kräften anders gesehen werden. Aber unter den gegebenen Kräfte­verhält­nis­sen in Deutschland und in den anderen Kern­staaten der EU ist die Vorstellung von einer Überwindung der Euro-Krise durch die Rückkehr zu den früheren Nationalstaaten und zur nationalen Währungshoheit meiner Meinung nach in der gegenwärtigen Situation nicht nur unrealistisch, sondern auch falsch und politisch reaktionär.

Weshalb sollte die Rückkehr zur nationalen Währungshoheit ein Fortschritt sein, wenn es sich nur um eine Rückkehr zu den alten imperialistischen Nationalstaaten handelt, wie es sie vor der Einführung des Euro gab? Damit kämen wir doch nur vom Regen in die Traufe – weil die ökonomische und politische Macht in den glechen Händen bliebe.

Natürlich lässt sich theoretisch auch eine Situation denken, in der massive Volksbewegungen zu einer tiefgehenden Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse geführt haben, sodass es sich dann nicht mehr um eine Rückkehr zu den alten Verhältnissen handelt, sondern eine echte politische Wende durchgesetzt werden kann, mit der die Macht des Finanzkapitals eingeschränkt und der Weg zu einer progressiven Entwicklung geöffnet werden kann.

Aber eine solche Situation zeichnet sich meiner Ansicht nach derzeit leider nirgendwo ab – zumindest nicht in den EU-Kernstaaten.

Und würde eine solche Situation entstehen, wäre es meiner Meinung nach in dem heute gegebenen wirtschaftlichen und politischen Kontext relativ unwahrscheinlich, dass sich dies isoliert nur in einem einzigen EU-Staat vollzieht. Wahrscheinlicher und vor allem wünschenswerter, auf jeden Fall erfolgversprechender wäre es, wenn sich im Verlauf großer kämpferischer Auseinander­setzungen in mehreren EU-Staaten parallel ein solcher politischer Umschwung ergäbe.

Aber wenn dies der Fall wäre, würde für die Länder, in denen eine solche Entwicklung durchgesetzt werden kann, sofort wieder die Notwendigkeit entstehen, sich ebenfalls auf europäischer Ebene zusammenzuschließen und gewisse europäische Strukturen zu schaffen, wie dies auch in Lateinamerika zu sehen war.

Doch derzeit stehen wir nicht an diesem Punkt, jedenfalls nicht in Deutschland und auch nicht in Frankreich oder Spanien, ich glaube, auch nicht in Portugal oder Griechenland.

Deshalb muss es nach meiner Ansicht darum gehen, nach wie vor den Kampf gegen die imperialistische EU-Politik auf allen Ebenen weiter zu entwickeln und für demokratische und soziale Reformen progressiven Inhalts zu kämpfen, und zwar sowohl auf der lokalen und regionalen wie auf der nationalstaatlichen und auf der europäischen Ebene.

Die gegenwärtige Krise könnte dazu verführen, sich ganz auf die Propagierung der Erkenntnis zu konzentrieren, dass der Kapitalismus prinzipiell unfähig ist, die in ihm ausbrechenden Krisenprozesse zu bewältigen, und dass deshalb nur der Sozialismus der einzig richtige Ausweg ist.

Das ist abstrakt richtig. Ich würde es aber in der heute gegebenen konkreten Situation dennoch für eine fehlerhafte Verengung unserer politischen Orientierung halten.

Gerade heute entstehen angesichts der Krisenerfahrungen, die die Menschen selbst machen, neue Möglichkeiten des Zusammen­wirkens mit Menschen, die von unseren Vorstellungen, was die Zukunft angeht, vielleicht noch weit entfernt sind, die aber schon erkennen, dass Eingriffe in die Macht des Kapitals, vor allem der Banken und Finanzkonzerne erforderlich sind. Vom Sozialismus haben sie möglicherweise nur die falsche Vorstellung im Kopf, dass es sich um einen gescheiterten geschichtlichen Versuch handelt, der nicht wiederholt werden sollte. Damit dürfen wir uns natürlich nicht abfinden. Aber in den Vordergrund unseres Verhaltens gegenüber diesen Menschen müssen wir doch das gemeinsame Interesse an jenen Forderungen stellen, die sie selbst für richtig halten und für deren Verwirklichung sie bereit sind, sich zu engagieren. Also Forderungen nach einer anderen Politik, nach einer anderen Entwicklungs­richtung in Deutschland und in der EU, nach einem anderen, sozialen, ökologisch und frieden­sorien­tierten Europa.

Deshalb erscheint es mir gerade jetzt wichtig, daran festzuhalten, dass wir in unserem Parteiprogramm eine strategische Orientierung beschlossen haben, die nicht allein den Gegensatz Kapitalismus – Sozialismus in den Vordergrund stellt, sondern Vorstellungen von einem Übergangsprozess entwickelt, mit denen letztlich der Weg zu einem neuen Anlauf zum Sozialismus geöffnet werden kann.

Unsere strategische Orientierung für die gegenwärtige Kampfetappe heißt Kampf um die Durchsetzung einer Wende zu sozialem und demokratischem Fortschritt. In der Resolution des 19. Parteitags wurde gesagt: »Ein Politikwechsel ist nur möglich, wenn sich dafür Bündnisse, Allianzen verschiedener sozialer und gesellschaftlicher Kräfte, in denen die Arbeiterklasse die entscheidende Kraft sein muss, formieren«.

Dies ist gerade im Zeichen der Krise meiner Meinung nach die richtige strategische Orientierung. An ihrer Umsetzung mit der notwendigen Hartnäckigkeit und Geduld, aber auch mit dem notwendigen Realismus und mit der notwendigen Offenheit gegen andere, nicht unserer Weltanschauung und unseren Vorstellungen vom Sozialismus zuneigenden Menschen zu arbeiten – das ist nach meiner Ansicht immer noch die entscheidende Aufgabe, die sich derzeit für die DKP ergibt.