Politik
Der 175. Verhandlungstag im Münchner NSU-Prozess
Die Keupstraße in München
20. Januar 2015, der 175. Verhandlungstag im Münchner NSU-Prozess.
Eine Reihe von Anschlagsopfern aus der Köln-Mülheimer Keupstraße werden heute und in den folgenden Tagen befragt. Viele Menschen wollen die Verhandlung in dem bunkerartigen Raum A 101 des Justizzentrums verfolgen, der Andrang ist groß. Die Zuschauertribüne hat nur 68 Plätze, Journalisten ist die Hälfte davon vorbehalten. Kein Platz bleibt unbesetzt. Wer rein kommen will, muss früh aufstehen. Seit 6.00 Uhr warten in der Kälte die Eltern von Sandro D., die Mutter von Melih K. trifft später ein. Die Freunde Sandro D. und Melih K. sind seinerzeit schwer verletzt worden. Ihre Aussagen sind auf den Vormittag terminiert.
Neun Busse, allein drei aus Köln, sind nachts durchgefahren. Einige hundert Menschen wollen an den Aktionen vor dem Justizzentrum teilnehmen. Sie tummeln sich vor dem Lautsprecherwagen und den Pavillons, Plakate, Transparente, Berichte, Musik sind vorbereitet. Kutlu Yurtseven (Microphone Mafia), selbst Anwohner auf der Keupstraße, rappt. Und er moderiert die Vorstellung von »Keupstraße ist überall«. Erst 2013 gegründet, achtet die Initiative sorgsam darauf, eine feste Verbindung mit den Anwohnern herzustellen. Mitat Özdemir ist einer von ihnen.
Nachmittags wächst die Menge. Schließlich bewegen sich 1400 Menschen in einem Demonstrationszug zum Sendlinger Tor. Vorneweg Transparente: »Keupstraße ist überall«, »NSU-Terror. Staat und Nazis Hand in Hand«. Darum geht es heute: Die Betroffenen sollen nicht allein gelassen werden. Und immer wieder wird die Frage gestellt: Wieviel Staat steckt im NSU?
Am 9. Juni 2004, um 15.56 Uhr, war die Bombe mit 700 zwölf Zentimeter langen Nägeln in der Keupstraße vor dem Friseurladen explodiert. 22 Menschen wurden verletzt.
Sandro D. und Melih K. hatten sich an diesem sonnigen Nachmittag, nichts Böses ahnend, einen Imbiss besorgt. Just als Melih in seinen Döner beißen will, zieht ihm die Detonation die Beine weg. Er bleibt blutend liegen, mit neun Nägeln im Leib und Hunderten von Glassplittern im Gesicht. Helfer löschen den brennenden Haarschopf.
Sandro flüchtet instinktiv durch den Qualm hindurch zur anderen Straßenseite auf eine Stufe im Hauseingang. Ihn haben vier Nägel getroffen. Er ruft nach seinem Freund, kann aber die Antwort nicht hören. Er ist taub und nimmt die Szene wie einen Stummfilm wahr.
Melih sagt zum Richter: »Knall, Licht aus, auf einmal bist Du in Texas.«
Beide werden noch am selben Tag notoperiert, bleiben tagelang auf der Intensivstation. Polizei verhindert den Kontakt der Freunde untereinander, denn sie sind verdächtig. Noch auf der Intensivstation werden sie verhört. Hatten sie das Fahrrad vor dem Laden abgestellt? Ging die Bombe womöglich zu früh los? Wollten sie Schutzgeld erpressen?
Im diesem Fall hätte der Täter den Friseur doch wohl persönlich angegriffen, statt die ganze Straße zu zerstören, sagt Melih. Den Anschlag müssen Nazis verübt haben, Ausländerhasser. »Um darauf zu kommen, muss man kein Ermittler sein!« Beifall von der Zuschauertribüne. Den unterbricht Richter Götzl: »Sie hören nur zu!« ordnet er an.
Aber in dieser Minute blitzt Erkenntnis auf, wo sich sonst detailgenaue und ausführliche Darstellungen teppichartig über die Wahrnehmung legen. Es klären sich Fragen, die alle im Saal, aber auch draußen, bewegen. Unschredderbare Fragen:
Warum war der Verfassungsschutzagent Temme am Tatort in Kassel? Welches Interesse hatte der Verfassungsschutz an der Aktenvernichtung? Was wusste der Verfassungsschutz? Welche beiden Zivilbeamten verfolgten unmittelbar nach der Tat das Geschehen in der Keupstraße? Wieso wurden die Videoaufnahmen erst nach dem November 2011 ausgewertet? Wer war der Täter in der Kölner Probsteigasse? Wieviele Täter waren es in Heilbronn? Wer gehörte zum Netzwerk des NSU? Und: Wer gehört noch heute dazu? Warum haben am Tag des Anschlags die Innenminister faschistische Motive bestritten?
Sieben Jahre lang wurden die Anwohner der Keupstraße von den Behörden verdächtigt, den Anschlag selbst verübt zu haben. Man machte die Opfer zu Tätern. Jahrelang gab es Verhöre, wurde Misstrauen gesät, aber Rechtsterrorismus ausgeschlossen.
Die Bombe detonierte an jenem Tag um 15.56 Uhr. Zwei Stunden danach berichtete dpa. Schon der zweite Satz behauptete, es gebe »derzeit keine Anzeichen für einen terroristischen Hintergrund«. Noch um 17.09 Uhr hatte das Landeskriminalamt an das Düsseldorfer Innenministerium gemeldet, dass der Anschlag als »terroristische Gewaltkriminalität« einzustufen sei. Um 17.25 Uhr erreichte das LKA-Lagezentrum NRW-Innenminister Fritz Behrens. Nur 11 Minuten später, um 17.36 Uhr, weist das Innenministerium das Landeskriminalamt an, aus dem Schriftverkehr den Begriff »terroristischer Anschlag« zu streichen.
Text: Klaus Stein
Foto: Gustl Ballin
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