Betrieb & Gewerkschaft
Das Schweinesystem
Schlachthöfe sind Corona-Hotspots
18.06.2020: Ob Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg, Niedersachsen oder Bayern: Deutschlands Schlachthöfe sind Corona-Hotspots. Kaum einen Monat nach den Corona-Ausbrüchen in verschiedenen Schlachthöfen quer durchs Land, gibt es den nächsten Hotspot in der Branche. Beim Marktführer Tönnies sind am Stammsitz in Rheda-Wiedenbrück in Ostwestfalen mehr als 65 Prozent der Beschäftigten im Bereich Schweineschlachtung mit dem Coronavirus infiziert.
Etwas mehr als 1.000 Beschäftigten der gigantischen Fleischfabrik, in der täglich um die 20.000 Schweine geschlachtet und verarbeitet werden, wurden am Dienstag durch den Kreis Gütersloh getestet. Die Testergebnisse sind ein Schock: Am Mittwochabend wurde bekannt, dass mindesten 657 Beschäftigte infiziert sind. In der Folge wurde der Betrieb heruntergefahren, 7.000 Menschen in Quarantäne geschickt, alle Schulen und Kitas bis zu den Sommerferien wieder geschlossen, Sportvereine stellen das Training ein, Postfilialen machen den Schalter zu.
Landrat Sven-Georg Adenauer (CDU) und Tönnies versuchen, die Beschäftigten für den Corona-Ausbruch verantwortlich zu machen. Die Hälfte der fast 7.000 Tönnies-Beschäftigten in Rheda-Wiedenbrück seien vor allem osteuropäische Werkvertragsarbeiter. Viele von ihnen seien offenbar sofort nach der Öffnung der innereuropäischen Grenzen zu ihren Familien nach Hause gefahren und mit dem Virus zurückgekommen, so Adenauer gegenüber dem «Westfalen-Blatt».
Isabella Eckerle, Leiterin der Forschungsgruppe Emerging Viruses in der Abteilung für Infektionskrankheiten der Universität Genf sagte dazu, ein Wochenendbesuch könne keine so große Anzahl an Neuansteckungen erklären, da die Inkubationszeit viel länger sei. Der Massenausbruch weise auf ein «unbemerktes, schon länger vor sich gehendes Superspreading Event» hin.
«Das hat mit der Unterbringung von Menschen in Unterkünften und Arbeitsbedingungen in Betrieben zu tun.»
Armin Laschet (CDU)
Mit dieser Aussage setzt er sich von seiner vorherigen Aussage ab, in der er ebenfalls den Arbeiter*innen die Schuld für den erneuten Ausbruch zugeschoben hatte: «Weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt», so Laschet.
Werkverträge
Ein großer Teil der Beschäftigten in den Schlachthöfen sind Arbeitsmigrant*innen, die über Subunternehmen angeheuert werden. Die meisten dieser Menschen kommen aus Osteuropa, vor allem Rumänien und Bulgarien. Meist sind sie über Werkverträge beschäftigt. Das heißt, sie werden für die «Herstellung eines Werks» bezahlt – am Zerlegeband in der Fleischfabrik oft nur für einen bestimmten immer wiederkehrenden Schnitt am Tierkörper. Aber sie gehören nicht zum Unternehmen. 1.200 bis 1.500 Euro verdienen die meisten der osteuropäischen Wanderarbeiter*innen. Tarifverträge gelten nicht, Überstunden werden nicht bezahlt. Eigentlich gilt für die Beschäftigten in der Fleischindustrie der gesetzliche Mindestlohn von 9,35 Euro – aber nicht für Werksvertragler*innen.
Offiziell ist etwa die Hälfte der rund 130.000 Arbeiter*Innen im Fleischsektor über Werkverträge beschäftigt. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) geht jedoch von deutlich höheren Zahlen aus. Sie schätzt, dass etwa 80 Prozent in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt werden. Manche der Arbeiter*innen bleiben ein paar Monate, andere über Jahre, teils mit Unterbrechungen. Durch die Simulation als Werkvertrag werden die Arbeiter*innen im Vergleich zur Leiharbeit noch weiter entrechtet und verbilligt. Beispielsweise das Recht von Leiharbeitern, nach 9 Monaten dauerhaft und zu besseren tariflichen Bedingungen angestellt zu werden – dieses Recht wird durch die betrügerischen Werkverträge vorenthalten.
Fleischunternehmen lagern Verantwortung aus
Die Fleischunternehmen lagern nicht nur die Arbeit, sondern auch jede Verantwortung bequem an Subunternehmen aus, sagt NGG-Vize Freddy Adjan. Die Corona-Fälle seien «trauriges Resultat des extremen Preisdrucks beim Fleisch».
So wie an den Zerlegefließbändern «Abstand halten» kaum möglich ist, so ist es auch außerhalb der Betriebes. Untergebracht sind die Arbeiter*innen üblicherweise in Wohngemeinschaften, teils in Drei- oder Vier-Zimmer-Wohnungen, mancherorts gibt es aber auch beengte Sammelunterkünfte – meist zu Wuchermieten. Für ein Bett im 6- oder 8-Bettzimmer, auch schon mal mit Doppelstockbetten, werden zwischen 150 und 300 Euro pro Monat verlangt. Die zieht der Werkvertragsvermittler – er ist oft in Tateinheit auch der Vermieter – vom Lohn ab. Und zur Schicht werden sie in vollgestopften Minibussen transportiert. Die Arbeiterinnen und Arbeiter werden in Arbeitsbedingungen und unzumutbare Wohnverhältnisse gezwungen, die mit einem hohen Ansteckungsrisiko verbunden sind und nur wenig Schutzmöglichkeiten bieten, wenn einmal eine Infektion auftritt.
«Wir haben es mit verantwortungslosen Konzernen zu tun, die ihren Profit über die Gesundheit der Menschen stellen, die für sie arbeiten müssen.»
Freddy Adja, stellvertretender Vorsitzender der
Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG),
Auszug aus einem Interview mit Freddy Adja über die Zustände in deutschen Schlachthöfen.
Frage: Seit den Corona-Ausbrüchen in mehreren Schlachtbetrieben werden die Arbeits- und Wohnbedingungen der Beschäftigten wie auch Werkverträge als eine extrem prekäre Form der Beschäftigung erneut scharf kritisiert. Sie dürften wenig überrascht sein, dass sich dort die Infektionen häufen.
Freddy Adja: Die Menschen kommen mit einem Werkvertrag in der Tasche nach Deutschland, werden in Massenunterkünften untergebracht und leisten für den Mindestlohn über ein paar Wochen oder Monate härteste Arbeit in den Schlachthöfen. Nach Schichtende werden sie mit Minibussen in Unterkünfte gebracht, wo sie auf engstem Raum übernachten. Sie sind schlicht und ergreifend nicht in der Lage, irgendwelche Sicherheitsabstände einzuhalten. Eine normale Wohnung zu bekommen, ist für die Menschen mit ihren geringen Einkommen nicht möglich. Sie müssen nehmen, was sie kriegen, und das ist meist schlecht und überteuert. Die Ausgrenzung der Menschen, die ohnehin schon oft wie Fremdkörper in den Gemeinden leben müssen, wird nun noch schlimmer werden, die Ausgrenzung vermutlich zunehmen. Das ist meine Befürchtung.
Frage: Ich stelle mir Schlafsäle mit Stockbetten vor.
Freddy Adja: Das ist so. Häufig werden Sammelunterkünfte angemietet, alte Kasernen oder leerstehende Wohn- und Bürogebäude. Die Subunternehmen, die beispielsweise den Auftrag über 10.000 Schweinehälften haben und dafür Arbeitskräfte nach Deutschland holen, treten dann auch als Vermieter auf. Oder die Gebäude werden von wieder anderen Subunternehmen angemietet und an die Beschäftigten weitervermietet - zu horrenden Preisen. Ich habe von Fällen gehört, in denen die Menschen sich in Schichten eine Matratze teilen und dafür 200 Euro im Monat bezahlen müssen. Die Kette von Subunternehmen und Fremdfirmen ist aus unserer Sicht eines der Grundübel in der Branche. Hier muss die Politik dringend tätig werden.
«Es ist eher verwunderlich, dass es so lange gut gegangen ist»
neues deutschland, 16.05.2020
Lohndumping und gnadenlose Ausbeutung
Der Erfolg des «deutschen Schweinesystems» besteht in der Kombination von technischer Effizienz, Lohndumping und gnadenloser Ausbeutung. Aus diesem Grund verlegten ausländische Schlachtkonzerne wie Danish Crown aus Dänemark und Vion aus den Niederlanden Betriebe nach Deutschland, um mithilfe der noch heftigeren Ausbeutung ausländischer Arbeiter*innen das Billigfleisch europa- und weltweit exportieren zu können.
«Es handelt sich nicht um einzelne schwarze Schafe, sondern um ein krankes System. Tierleid, Ausbeutung und unhygienische Zustände sind die extremen Folgen der Billigfleisch-Industrie.»
Stephanie Töwe, Landwirtschaftsexpertin bei Greenpeace
Vier Konzerne
Der deutsche Markt ist fest in der Hand von vier Konzernen. Beim Schwein etwa, dem meistgegessenen Fleisch, töten und zerlegen vier Großunternehmen fast zwei Drittel aller rund 55 Millionen Tiere, die hier jährlich geschlachtet werden. Es sind:
- die Tönnies-Gruppe, mit einem Marktanteil von 20 Prozent,
16.000 Beschäftigten und 7,3 Milliarden Euro Umsatz, - Westfleisch
- sowie die deutschen Ableger des Vion-Konzerns aus den Niederlanden
- und von Danish Crown aus Dänemark.
Schluss mit Werksverträgen!
Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) verlangt ein umgehendes Verbot von Werkverträgen in der Fleischbranche. «Diesem kranken System» muss nun endlich ein Ende gemacht werden, sagt NGG-Vizechef Freddy Adjan. Das von der Bundesregierung beschlossene Verbot von Werkverträgen in der Fleischindustrie müsse jetzt schnell «ohne Abstriche im Gesetzgebungsverfahren umgesetzt» werden.
Nachdem vor einem Monat die plötzlich bekannt gewordenen hohen Corona-Infektionsraten in den Schlachthöfen zum «Skandal» geworden waren, hatte Bundesarbeitsminister Heil versprochen, in der Fleischindustrie «aufzuräumen». Es solle keine Werkverträge mehr geben und sogar auch keine Leiharbeit mehr. Nach mehreren Verzögerungen verabschiedete das Bundeskabinett Ende Mai das «Arbeitsschutzprogramm für die Fleischwirtschaft«. Dieses sieht vor, dass Schlachten und Verarbeitung von Fleisch nur noch von Arbeitnehmer*innen des eigenen Betriebes zulässig sein soll.
Stellvertretend für das «Schweinesystem» weist die Hauptgeschäftsführerin des Verbandes der Fleischwirtschaft, Heike Harstick, die Forderungen nach härteren Auflagen zurück. Wenn das Werksvertragssystem abgeschafft werde oder wenn etwa die Einzelunterbringung von Arbeiter*innen vorgeschrieben und damit höhere Wohnungsmieten verursacht würden, seien viele Betriebe nicht mehr wettbewerbsfähig. Teile der Branche würden dann abwandern. «Aus unserer Sicht sind nicht vor allem die Arbeitsbedingungen Schuld an den Corona-Ausbrüchen», so die Verbandschefin.
Das Herz des EU-Binnenmarktes ist eine grundlegend ungleiche Arbeitsteilung, die hunderttausende osteuropäische Arbeiterinnen und Arbeiter für einen Hungerlohn vertreibt.
… Dieses fluide Netzwerk von Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeitern, die ihrer Rechte beraubt und von Arbeiterinnenorganisationen abgeschnitten sind, reicht über die Landwirtschaft hinaus und hinein in die Sorgearbeit, das Transportwesen, das Baugewerbe, die Gastronomie, das Gaststättengewerbe und den Tourismus.
Migrantinnen und Migranten wurden doppelt getroffen, als sich das Virus in westlichen Ländern auszubreiten begann, insbesondere in Italien und Spanien, wo die meisten Rumäninnen und Rumänen arbeiten. Als die Lockdowns die Wirtschaft zum Stillstand brachten, wurden die meisten von ihnen entlassen. Sie mussten zurückziehen nach Rumänien und dem Minimum an sozialer Zugehörigkeit, was immer sie dort noch hatten. Im Westen wurden sie ausgeschlossen als überflüssige und wegwerfbare Arbeiterinnen und Arbeiter, die nicht für Sozialleistungen oder andere Formen von Sozialversicherung berechtigt sind. Daheim wurden sie als Träger einer tödlichen Krankheit ausgegrenzt– nicht nur wegen des Virus, sondern auch aufgrund ihres Status als arbeitslose und ungeschützte Arbeiterinnen und Arbeiter, die ein schon fragiles und auseinanderbröckelndes Sozialsystem zusätzlich belasten.
Hier tritt der Gesellschaftsvertrag im Herzen der EU deutlich zutage: Länder des Zentrums häufen Profite an, die durch billige osteuropäische Arbeitskräfte produziert werden, während die meisten Kosten auf sie und ihre Heimatländer abgewälzt werden. Anhand dieser Verhältnisse erübrigt sich jeder weitere Kommentar zur hohlen Natur der «europäischen Solidarität«.
Die gegenwärtige Situation hat weder mit dem Coronavirus begonnen, noch ist sie lediglich ein Detail im größeren Beziehungsgeflecht innerhalb der EU. Sie bildet ein strukturelles Element der Funktionsweise des europäischen Kapitalismus. Tatsächlich hält sie die Union zusammen und ist der Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit vieler Wirtschaftsbranchen wie etwa der Pflege, der Industrie und des Tourismus. Es ist daher umso perverser, dass dieses ausbeuterische Verhältnis oft als Privileg für Osteuropäerinnen und Osteuropäer dargestellt wird, das sie dankbar begrüßen sollen. ...
aus Jacobin, 18.5.2020: «Rumänen opfern sich für deutschen Spargel»
Quelle: kommunisten.de
Symbolfoto aus WDR-Video
- Reporter Oliver Köhler zum Corona-Ausbruch bei Tönnies.
WDR Aktuelle Stunde 19.06.2020 | Verfügbar bis 26.06.2020 - Wo steckt das Tönnies-Fleisch drin?