Politik

Keine »Schule für alle« in NRW

Das Schulsystem bleibt mehrgliedrig. Raus zum Bildungs­streik am 17. November!

Plakat. Stilisierte Demonstranten auf gelbem Grund: »Wir machen weiter! Für einen heißen Herbst! Bildungsstreik 2011«.

 

Die Fraktionen von CDU, SPD und Grünen haben am 9. September 2011, einen Gesetz­entwurf in den Land­tag von NRW ein­ge­bracht. Es han­delt sich um das 6. Schul­rechts­än­de­rungs­ge­setz, das mit den Stim­men dieser großen Bil­dungs­koa­li­tion im Ok­to­ber in 2. und 3. Le­sung ver­ab­schie­det werden soll. Vor­aus­ge­gan­gen waren Gesprä­che, die am 19. Juli 2011 »Gemein­same Leit­li­nien von CDU, SPD und Bünd­nis 90/DIE GRÜ­NEN für die Gestal­tung des Schul­sys­tems in Nord­rhein-West­falen« erbrachten. Es heißt darin: »Der Schüler­rück­gang und das ver­än­der­te Eltern­wahl­ver­hal­ten zwin­gen zu Ver­än­de­run­gen der Schul­struk­tur. Trotz guter Arbeit wird die Haupt­schule viel­fach nicht mehr angenommen.

 

Sie spiegelt daher den Ver­fas­sungs­an­spruch nicht mehr wider. Die Haupt­schul­ga­ran­tie der Ver­fas­sung wird daher ge­stri­chen. Statt­des­sen wird ein­ge­fügt: ›Das Land gewähr­leis­tet in allen Lan­des­tei­len ein aus­rei­chen­des und viel­fäl­ti­ges öffent­li­ches Bil­dungs- und Schul­we­sen, das ein geglie­der­tes Schul­sys­tem, inte­grier­te Schul­for­men sowie weitere andere Schul­formen umfasst.‹ Von Landes­seite wird keine Schul­form abgeschafft.«

 

 

Aus der Begründung des Gesetzentwurfs:

 

Diese Feststellungen werden in der Begrün­dung des Gesetz­ent­wurfs mit Zahlen unterfüttert:

»Im allgemein bildenden Bereich ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den Jahren 1970 bis 2010 um 335.444 auf 2.148.539 (- 13,5 %) gesunken.  Nach der aktuellen Schüler­zahl­prog­nose wird sich dieser Trend weiter fort­set­zen. Im Schul­jahr 2029/30 werden vor­aus­sicht­lich 366.889 weniger Schülerin­nen und Schüler eine all­gemein bil­dende Schu­le besu­chen als im Schuljahr 2010/11 (- 17,1 %).

[…]

Handlungsbedarf ergibt sich nicht nur aus der demo­gra­fi­schen Ent­wick­lung, sondern auch auf­grund der sich wandeln­den Schul­ab­schluss­orien­tie­rung der Eltern, die den Bil­dungs­weg für ihre Kinder länger offen halten wollen und für ihre Kinder in der Ten­denz ver­stärkt Schul­for­men wäh­len, die zu Ab­schlüs­sen mit mehr Berech­ti­gun­gen füh­ren. Dies zeigen die Über­gangs­quo­ten in die Schul­for­men der Sekun­dar­stufe I: Wechselten im Schul­jahr 1970/71 noch 55,9 % der Schülerin­nen und Schüler nach der vierten Grund­schul­klas­se in eine Haupt­schule, so waren es im Schul­jahr 2010/11 nur noch 12,3 %. Dem­ge­gen­über haben andere Schul­for­men stei­gen­de Über­gangs­quo­ten zu ver­zeich­nen. Beson­ders hohe Zuwächse in Über­gangs­quo­ten ver­zeich­ne­ten die Gesamt­schule (von 1,2 % im Schuljahr 1970/71 auf 18,9 % im Schul­jahr 2010/11) und das Gym­na­sium (von 23,8 % im Schul­jahr 1970/71 auf 39,5 % im Schul­jahr 2010/11).«

 

Hauptschulen sollen verschwinden

Des weiteren wird in der Begründung zum Gesetz­ent­wurf dar­ge­stellt, dass mitt­ler­weile die Haupt­schulen fast zur Hälfte gerade noch einzü­gig geführt werden können und damit nicht mehr die Voraus­set­zun­gen für einen geord­ne­ten Schul­be­trieb erfül­len. Der Aus­nahme­fall werde in der Rea­li­tät zum Regelfall.

 

Kurz gesagt, die CDU gibt angesichts der Sach­zwän­ge mit ihrer Unter­schrift zu diesem Ent­wurf ihre Posi­tion zur Haupt­schule auf. Sie garan­tiert sie nicht mehr, sorgt indes nach diesem schein­baren Zu­ge­ständ­nis für die Bestands­ga­ran­tie des Gymnasiums.

 

Ihren Mitgliedern kann sie die Zustimmung so verkaufen (CDU NRW, 20.7.2011):

  1. Das vielfältige gegliederte Schulsystem wird in der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen verankert. Damit gibt es eine verfassungsrechtliche und politische Sicherung des gegliederten Schulsystems.
  2. Das gegliederte Schulsystem bleibt damit schulische Wirklichkeit in NRW, es wird keine bewährte Schulform abgeschafft.
  3. Das ist die politische und verfassungsrechtliche Absage an die Einheitsschule, damit wird es keine Einheitsschule in Nordrhein-Westfalen geben.
  4. Es wird auch keine Gemeinschaftsschule in Nordrhein-Westfalen geben.
  5. Wir schaffen stattdessen etwas Neues: eine Sekundarschule. Die Sekundarschule führt keine Oberstufe: Das stärkt Gymnasium und Realschule. Die Sekundarschule führt sowohl zur Ausbildungsreife als auch zur Oberstufenreife. Die zweite Fremdsprache in der Klasse 6 ist fakultativ…

 

Die Fraktionen von SPD und Grünen dürfen im Gegenzug erwarten, dass die CDU ihrem Gesetzentwurf zur Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen zustimmen wird. Der lautet:

»Um eine Weiter­ent­wick­lung der nord­rhein-west­fä­li­schen Schul­struk­tur als Reak­tion auf die verän­derte Lebens­wirk­lich­keit zu er­leich­tern, wird die insti­tu­tio­nel­le Garan­tie der Haupt­schule auf­ge­ge­ben. Der über­kom­mene Begriff der Volks­schule wird aus der Landes­ver­fas­sung ent­fernt. Bestim­mungen in Kir­chen­ver­trä­gen bleiben unverändert.«

 

Künftig ein fünfgliedriges Schulsystem

Bisher verfügt Nordrhein-Westfalen über ein in Wirk­lich­keit vier­glied­riges Schul­wesen in der Sekun­dar­stufe I (Klassen 5 bis 10): Haupt­schule, Real­schule, Gym­na­sium und Gesamt­schule. Jetzt können, müssen aber nicht, Sekun­dar­schulen einge­führt werden. Sekundar­schu­len ersetzen künftig Haupt- und Real­schu­len, aber in der Regel erst, sobald deren Be­stand durch geringe Schü­ler­zah­len gefähr­det ist. So, wie die Gesamt­schule der­einst das drei­glied­rige Schul­sys­tem ersetzen sollte und zur vierten Schul­form wurde, bekom­men wir jetzt eine fünfte. Ironisch könnte man sagen, damit wird das Schul­wesen einer womög­lich neuen Mannig­fal­tig­keit gerecht, wie es die Landes­ver­fas­sung in Artikel 10,1 fordert:

»Die Gliederung des Schulwesens wird durch die Man­nig­fal­tig­keit der Lebens- und Berufs­auf­ga­ben bestimmt. Für die Auf­nahme in eine Schule sind Anlage und Nei­gung des Kin­des maß­ge­bend, nicht die wirt­schaft­liche Lage und die gesell­schaft­liche Stel­lung der Eltern.« Just die Rea­li­sie­rung des zweiten Satzes wird aber verweigert.

 

Kein Lehrerstellenabbau

Immerhin scheint günstig, dass der Schüler­rück­gang nicht dazu genutzt werden soll, Lehrer­stel­len ab­zu­bauen. So wird das Gesetz sogar einer For­de­rung der PDL gerecht. Die neue Sekun­dar­schule soll Klas­sen­stär­ken von 25 Schü­lerInnen auf­wei­sen. Für Gym­na­sien und Gesamt­schulen – gegen­wär­tig noch mit 28 Schü­lerIn­nen pro Klasse – wird eine Reduk­tion der Klas­sen­stär­ken auf 26 ver­spro­chen. Daraus folgt nach der Berech­nung der drei Frak­tio­nen bis 2015 ein Mehr­be­darf von 750 Lehrer­stel­len. Bis 2020 wären weitere 1750 neue Stel­len fäl­lig. Ob der­ar­tige Stel­len auch be­setzt werden, steht auf einem ande­ren Blatt.

 

Schon in diesem Schul­jahr sind nach Anga­ben des Minis­te­riums knapp 900 der 155 000 Lehrer­stel­len in NRW zum Schul­jah­res­beginn nicht be­setzt. Die Schüler­zahl ist um 19 000 auf 2,73 Millionen weiter gesun­ken und wird 2015 bei 2,5 Mil­lio­nen lie­gen. Diese so genann­ten Demo­gra­phie­ge­win­ne sol­len aber nicht zu Stel­len­ab­bau führen, son­dern hel­fen, das Ganz­tags­an­ge­bot auszubauen.

 Bildungsstreik 2010: »Eine Schule für alle« – Forderung nach Abschaffung des europaweit einzigartigen Selektionssystems.

 

Die anstößige Fassung des Lan­des­per­so­nal­ver­tre­tungs­ge­set­zes (LPVG) vom Okto­ber 2007 hat die neue Re­gie­rung im Juli dieses Jahres revi­die­ren kön­nen. Nach jetzt wieder mög­li­chen Frei­stel­lun­gen von Per­so­nal­rä­ten wird es wei­tere Stel­len in An­spruch nehmen. Zudem ist eine Stun­den­ent­las­tung von Rek­toren an den Grund­schulen vor­ge­sehen. Das hat vor allem den Grund, dass sich die Grund­schul­lehre­rInnen ange­sichts der Arbeits­be­las­tung dazu nicht mehr bewerben mochten und folg­lich viele der Rek­to­ren­stel­len va­kant blieben.

 

Den Erhalt des Lehrerstellenvolumens darf man wohl als Fortschritt deuten, genauso wie die Abschaffung der Kopfnoten, die Wieder­ein­füh­rung der Drit­tel­pa­ri­tät in den Schulkonferenzen und die Abschaffung der Studiengebühren. Ohne Bildungsstreiks der beiden letzten Jahre hätte es diese Zugeständnisse nicht gegeben.

 

Ende der Bildungsmisere?

Von einem Ende der Bildungs­mise­re kann aber nicht ge­spro­chen wer­den. Selbst die vor­ge­se­he­nen Sekun­dar­schu­len müs­sen in einer Art Häuser­kampf Gemein­de für Gemein­de erst durch­ge­setzt werden. Sie kon­kur­rie­ren zudem mit den Gesamt­schu­len und natür­lich mit den Gymnasien.

 

Ein bezeichnendes Detail: zur Errich­tung einer Sekun­dar­schu­le sind drei Züge nötig, also drei Ein­gangs­klas­sen (§ 82,5 des neuen Schul­ge­set­zes). Aber eine Gesamt­schule wird nur ein­ge­rich­tet, wenn mindes­tens vier Züge zu­stande kom­men (§ 82,8 des neuen Schul­gesetzes).

 

Von der Schule für alle sind wir weit entfernt. Aber davon war im Land­tags­wahl­kampf 2010 bei Grünen und SPD auch nicht die Rede. Die SPD war da ganz allge­mein geblie­ben: »Stolz. Auf ein NRW mit besse­rer Bil­dung für alle« Und auf den Pla­ka­ten der Grünen war schon mal zu lesen: »Mehr Geld in Bil­dung statt in Banken« »A, B, CDU und raus bist du«. Die Grünen verspra­chen »eine Schule, die alle för­dert«. Und bei der Vor­stel­lung des Pla­kats sagte Spit­zen­kan­di­da­tin Sylvia Löhr­mann, dass die Grünen länge­res gemein­sames Lernen mög­lich machen wol­len. Dieses Ver­spre­chen ist gebro­chen. Denn tat­säch­lich wird jetzt wie künf­tig in NRW mit Ab­schluss der vier­ten Klas­se so­zial und eth­nisch selektiert.

Bildungsstreik 2010: Besetzung der Kölner SPD-Parteizentrale.

 

Nun ist die Mehrgliedrigkeit des Schulwesens ist nicht die ein­zige Ur­sa­che der Bil­dungs­mi­se­re. Stoff, den zu lernen Schüle­rInnen am Gym­nasium vor­her neun Jahre Zeit hat­ten, muss nun in acht Jah­ren bewäl­tigt werden. Gerade mal 13 Gym­na­sien haben sich anders ent­schie­den. Der Pauk­druck ver­schärft die so­zia­le Aus­lese. Ihm halten selbst­ver­ständ­lich sol­che Schüle­rInnen eher stand, deren Eltern Nach­hil­fe­stun­den be­zah­len kön­nen, wenn sie nicht über­haupt ihre Kinder lieber auf Pri­vat­schu­len schi­cken. Kinder von Hartz-IV-Empfän­gern schei­tern schon an der mangeln­den Lern­mit­tel­frei­heit und ande­ren Kos­ten, die die Schule ver­langt. Das so genann­te Bil­dungs­paket, mit dem diesem Um­stand angeb­lich abge­hol­fen werden soll, erfor­dert einen unglaub­lich büro­kra­ti­schen Sla­lom durch feind­se­li­ge Ämter, an dem viele Eltern schei­tern. Nach wie vor bil­det die wachsen­de Kinder­ar­mut eine Bildungsschranke.

 

Für eine demokratische Allgemeinbildung

Viel zu wenig wird über die Unter­richts­in­hal­te gespro­chen. Sie werden nicht zu­letzt im Zuge des Zen­tral­abi­turs redu­ziert, frag­men­tiert, nor­miert. In den bil­dungs­po­li­ti­schen For­de­run­gen der bei­den DKP-Bezirke in NRW orien­tie­ren wir auf eine demo­kra­ti­sche All­ge­mein­bil­dung. Ihre Konkre­ti­sie­rung ist eine gewal­tige Auf­gabe. Aber sie gehört auf die Ta­ges­ord­nung der Schüler- und Studentenbewegung.

 

Solidarisch mit dem Bildungsstreik am 17. November

Immerhin fordert die Schüler­bewegung, die für den 17. Novem­ber wieder einen Bil­dungs­streik orga­ni­siert: »Stoppt die Kriegs­pro­pa­gan­da – Bundes­wehr raus aus den Schulen!«.

 

Auch die übrigen Forderungen sind vernünf­tig und die rich­ti­ge Ant­wort auf die Bil­dungs­mi­sere und die Beto­nie­rung des bür­ger­lichen Bil­dungs­pri­vi­legs. Sie lauten:

 

  • Weg mit dem gegliederten Schulsystem – Eine Schule für alle!
  • Mehr LehrerInnen – kleinere Klassen mit maximal 20 Schülern!
  • Für die Neueinstellung von 100.000 LehrerInnen bundesweit!
  • Weg mit der Schulzeitverkürzung (G8)!
  • Bildung muss von Anfang bis Ende kostenlos sein! – Kein Kopiergeld! Kein Büchergeld!
  • Kostenloses Mittagessen!
  • Mehr Geld für die Bildung statt für Banken und Konzerne!
  • Volles Aktions- und Streikrecht für SchülerInnen, Studierende, Azubis und LehrerInnen!

 

Für diese Forderungen wird am 15. November 2011 bundes­weit infor­miert und mobi­li­siert. Die SDAJ wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Und die DKP soli­da­risch helfen.

 

 

Klaus Stein
Fotos: Arbeiterfotografie


Bildungspolitische Forderungen der DKP für NRW (pdf 104 kByte)

Aufruf zum Bildungsstreik am 17.11.2011 (pdf 19 kByte)