Politik
Trumps gescheiterter Coup war kein Scherz
Staatsstreich
Ein Kommentar von Giorgio Cremaschi, Ex-Generalsekretär der italienischen Metallgewerkschaft FIOM
9.01.2021 | Die Bilder vom Sturm aufs Kapitol in Washington sind um die Welt gegangen. Wie sind die Geschehnisse einzuordnen? War das ein Staatsstreich, innerstaatlicher Terrorismus, wie die Bürgermeisterin der Hauptstadt sagt, oder lediglich eine Aktion aufgestachelter Trump-Anhänger, die zwischen Fiktion und Realität nicht mehr unterscheiden können und überforderten Sicherheitskräften gegenüberstanden? Giorgio Cremaschi meint, dass Trump eine lange vorbereiteten Staatsstreich organisiert hat, der «hätte erfolgreich sein können, aber ihm fehlte dann die Unterstützung, mit der er gerechnet hat″. Wenn Trump nicht im Gefängnis lande, werde «sein Coup weitergehen und die US-Politik bestimmen»:
Putschversuch
Wenn man die Hörner sieht und das Gebrüll von Jack Angeli hört, dem Possenreißer, der aussah, als wäre er gerade von einem Fest der Lega in Pontida (Anm.: Pontida ist ein Dorf in der Nähe von Bergamo, in der die rechtsextremistische Lega ihr jährliches Fest abhält) auf dem Capitol Hill angekommen, könnte man glauben, dass der Angriff auf den US-Kongress eine Posse war, gemäß der Definition, mit der Faschisten ihre Gewalttaten oft verharmlosen. In Wirklichkeit gab es einen Putschversuch, der von Donald Trump gefördert, organisiert und geleitet wurde.
Der Putsch scheiterte und wird damit der Lächerlichkeit preisgegeben, wie es 1970 in Italien mit dem Putschversuch von Junio Valerio Borghese geschah. Oder 1981 mit der Besetzung der spanischen Cortes durch Colonel Tejero. Oder jüngst mit der Selbstproklamation von Guaido als Präsident von Venezuela.
Wenn Putsche scheitern, neigt man dazu, an der Zurechnungsfähigkeit ihrer Befürworter zu zweifeln: Wie konnten sie ernsthaft denken, dass sie es durchziehen könnten? Aber das ist nur eine Nachbetrachtung, andere Putsche haben Erfolg und oft ist ihr Weg derselbe wie derjenige, der für diejenigen, die sie gefördert haben, erfolglos endet.
Subversive Aktion
Donald Trump plante eine subversive Aktion mit einem präzisen Ziel. Wir hörten die Tonaufnahme seines Gesprächs mit dem Staatssekretär von Georgia, den er drohend um ein paar tausend Stimmen bat, um das Wahlergebnis des Staates zu kippen. Wie viele Hunderte von Telefonaten und Treffen hat der Präsident der Vereinigten Staaten mit Politikern, Beamten, Militärs, Polizisten, Geheimagenten geführt, um Unterstützung zu erhalten? Und warum hatten so viele ehemalige Verteidigungsminister das Bedürfnis, an das Militär zu appellieren, sich aus dem Geschehen herauszuhalten, während Trumps Stab das Kriegsrecht ausrief? Und taten die Proud Boys und andere bewaffnete faschistische Banden, die den Kongress stürmten, dies spontan, ohne direkten Kontakt mit Abgesandten des Präsidenten? Und sympathisierten die Polizeibeamten, die sie in den sogenannten Tempel der amerikanischen Demokratie hineinließen, mit den Demonstranten nur aus allgemeinem Rassismus heraus, oder waren sie dazu angewiesen?
Präziser Plan
Es ist klar, dass es kein Zufall war, der die Besetzung des US-Parlaments ausgelöst hat, sondern ein präziser Plan des Präsidenten.
Trump hatte die Blockade der Ratifizierung der Wahl organisiert. Das war die Aufgabe der Demonstranten in Washington, wie es auch der Präsident in seiner Erklärung verkündet hatte. Die Vertagung der Ratifizierung hätte notwendigerweise mit anderen Ereignissen zusammenfallen müssen, die dazu beigetragen hätten, die Präsidentschaftswahl in einigen Staaten ungültig zu machen. Und an diesem Punkt wäre eine Pattsituation entstanden, in der die Beschlüsse einiger Bundesstaatenparlamente mit republikanischen Mehrheiten die Volksabstimmung gekippt hätten. An dieser Stelle hätte dann der Oberste Gerichtshof, in dem Trump mit seinen letzten Ernennungen eine klare rechte Mehrheit aufgebaut hatte, zugunsten des in der Wahl unterlegenen Präsidenten intervenieren können.
Politische Fantasie?
Nicht wirklich. Im Jahr 2000 hatte Al Gore eine halbe Million Stimmen mehr erhalten als Bush junior und die großen Wähler waren fast gleichauf. Florida würde entscheidend sein, und nach einem langen Rechtsstreit, bei dem der Oberste Gerichtshof Gores Antrag auf Neuauszählung der Stimmen ablehnte, sprach die dortige Staatssekretärin Katherine Harris, eine rechtsextreme Republikanerin, Bush die entscheidenden 25 Wahlmänner zu, bei einer Differenz von 537 Wählerstimmen. Al Gore wurde dann vom gesamten Machtsystem, einschließlich dessen, was wir den tiefen Staat nennen, überredet, alle Anfechtungen aufzugeben und ein freundliches Gesicht zu einem üblen Spiel zu machen.
Diejenigen, die Trump jetzt zum Fremdkörper in der lupenreinen US-Demokratie erklären, vergessen, dass das präsidiale Wahlsystem, in dem das Prinzip «ein Kopf – eine Stimme» negiert wird und in dem begrenzte Veränderungen von Stimmen in kleinen Staaten Millionen von Stimmen in größeren Staaten aufwiegen, von Natur aus zur Verfälschung und Verzerrung der Abstimmung der Bevölkerung neigt. Biden erhielt über 7 Millionen mehr Stimmen als Trump, aber es hätte nur 150.000 Stimmen gebraucht, um in den Swing States den Sieger zu wechseln, und der Republikaner wäre Präsident geblieben. Das US-Wahlsystem ist von Natur aus betrügerisch und staatsstreichartig, weit davon entfernt, ein Hort der Demokratie zu sein.
Glücksspiel
Trump hat also ein Glücksspiel in einem System versucht, in dem er hätte erfolgreich sein können, aber ihm fehlte dann die Unterstützung, mit der er gerechnet hat. Borgheses Faschisten waren bis zur Waffenkammer des Innenministeriums vorgedrungen, bevor sie von den Gegenbefehlen zur Flucht aufgefordert wurden, weil die erwarteten Panzer nicht kamen. Das gleiche Schicksal ereilte Tejero in Spanien, der das Parlament als Geisel hielt, aber nachdem ihm die von den wichtigsten militärischen Abteilungen versprochene Unterstützung nicht eintraf, kapitulieren musste. Und Guaidó wartet immer noch auf die US-Militärintervention, die ihm Pompeo und Trump zugesichert hatten.
Staatsstreiche können scheitern, weil ein Teil der Akteure im entscheidenden Moment seine Pläne ändert und einen Rückzieher macht. Aber das bedeutet nicht, dass diese Pläne nicht gemacht wurden.
Trump hat seinen Coup schon lange vorbereitet, seit er erkannt hat, dass sein katastrophaler Umgang mit Covid ihn die Wahl kosten könnte.
Und nun stehen die Vereinigten Staaten an einem Scheideweg. Entweder gehen Trump und seine Clique für den Rest ihres Lebens ins Gefängnis und alle, die an dem Putschkomplott beteiligt waren, werden ermittelt und bestraft. Und es beginnt ein echter Prozess der radikal-demokratischen Erneuerung des rassistische Machtsystem, das denjenigen, die gegen die Polizeimorde protestieren, die Nationalgarde entgegenstellt und den faschistischen Rassisten, die das Parlament stürmen, mit den Wächtern des Kapitols entgegentritt.
Faschistische, bewaffnete Sturmabteilungen
Oder in den USA wird Trump und alles, wofür er steht, geschätzt als der extreme Ausdruck eines ungerechten und kranken Systems. Und der Putschismus des Präsidenten und seine Organisation der faschistischen, bewaffneten Sturmabteilungen wird ein fester Bestandteil der Politik in den USA werden; und sie explizit bedingen wie in Brasilien oder Guatemala.
Die USA stehen an einem Scheideweg ihrer Geschichte, und die schlimmsten Gegner einer wahren Demokratie dort sind genau die Fanatiker der «amerikanischen Demokratie», die heute ihre verletzte Heiligkeit verkünden, während sie sagen sollten, dass Trump und sein gescheiterter faschistischer Putsch nur ein Produkt davon sind.
PS. Heute verurteilt Trump mit der für Faschisten typischen Skrupellosigkeit und Feigheit die Demonstranten, die seine Aufträge ausgeführt haben. … Dies bestätigt, dass, wenn er nicht im Gefängnis landet, er und sein Coup weitergehen und die US-Politik bestimmen werden.
Aus dem Italienischen, Quelle und Übersetzung: kommunisten.de
MSNBC Video: «Aufruhr am Capitol war schlimmer als wir dachten»