Betrieb & Gewerkschaft

«45 Jahre Radikalenerlass»

"</p

GEW-Tagung
«45 Jahre Radikalenerlass»

Das Ungetüm ist mittlerweile 45 Jahre alt. Linke, angeblich auch rechte Radikale sollten damit vom öffentlichen Dienst fern gehalten werden. Es folgte die Regelanfrage. Der Verfassungsschutz (VS) überprüfte Millionen Menschen. Es kam zu Tausenden von Anhörungen und Einstellungsverweigerungen. Häufig traf es Lehrer. Gegen die Berufverbote entwickelte sich eine Massenbewegung. Die Empörung erfasste KollegInnen, Schüler und Eltern betroffener Schulen. Zahlreiche Konferenzen und Demonstrationen, bundesweit und regional, getragen von 350 gut vernetzten örtlichen Bürgerinitiativen, sorgten für Öffentlichkeit und solidarische Resonanz. Tatsächlich konnte die Berufsverbotspolitik eingedämmt werden. Allein Bremen und Niedersachsen haben sie ausdrücklich beendet.

In Bayern dagegen erneuert der Verfassungsschutz jährlich seine Liste mit angeblich verfassungsfeindlichen Organisationen. Sie wird den Bewerbern vorgelegt, damit sie bekennen, ob sie einer der genannten Organisation angehören, darunter Linkspartei, die VVN, selbstverständlich SDAJ und DKP. 

Zunächst sind es die Berufsverbotsbetroffenen selbst, die dafür sorgten, dass dieses Thema wieder auf die Tagesordnung kommt. Sie fordern ihre Rehabilitierung, seit einigen Jahren mit Unterstützung der Gewerkschaften, namentlich der GEW.

Am vergangenen Samstag tagte die Lehrergewerkschaft zum Thema „45 Jahre ‚Radikalenerlass‘ in Kassel: „Aus der Geschichte lernen – Betroffene rehabilitieren – Zivilcourage stärken – politische Bildung aufwerten!“  GEW-Vorsitzende Marlis Tepe macht klar, dass sich der sogenannte Radikalenerlass formal gegen Links- und Rechtsextremisten gerichtet habe, praktisch aber politisch Aktive des linken Spektrums getroffen habe. „Es wird Zeit, das Berufsverbotsthema politisch und wissenschaftlich aufzuarbeiten. Politische und juristische Fehlentscheidungen, die im Zuge dieser Arbeiten festgestellt werden, müssen in Vorschlägen für Rehabilitationsmaßnahmen und Entschädigungsleistungen münden. Das ist ein wichtiger und notwendiger Beitrag zur Stärkung der Demokratie und der demokratischen Kultur.“

Sie verweist auf das positive Beispiel des Landes Niedersachsen. 

Es referierte sodann etwa 180 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, darunter eine Reihe ergrauter Häupter von Betroffenen, Dr. Dominik Rigoll vom Zentrum für zeithistorische Forschung, Potsdam, zum Thema „Von der Entnazifizierung zum Radikalenerlass“. Es war ganz häufig das alte, oft noch durch NSDAP-Mitgliedschaft belastete Personal, das mittels der Gewährbietungsformel DKP-Mitglieder und andere Linke auszusondern hatte. Rigoll zitiert Hans Josef Horchem, 1969 bis 1981 Chef des Hamburger VS: „Die politische Wirksamkeit von Abwehrmaßnahmen ist nicht an der perfektionistischen Erfassung sämtlicher Anhänger radikaler Organisationen zu messen, sondern an der Signalwirkung, die ein entschlossener Kurs der politischen Führungsinstanzen auf alle diejenigen hat, die schon mit der Mentalreservation (= stiller Vorbehalt) umgehen, nach ihrer Einstellung in den öffentlichen Dienst dem kommunistischen Weg zu folgen. Zudem wird ein solcher Kurs bei den Anhängern der Neuen Linken im Ergebnis die Position der integrationsbereiten Kräfte stärken.“ (6. Dezember 1971).

Silvia Gingold, Tochter des Widerstandskämpfers Peter Gingold, schildert ihre vergeblichen Versuche, die anhaltende Beobachtung durch den VS juristisch abzuwehren. Die Speicherung ihrer Daten, befand das Kasseler Verwaltungsgericht am 19. September, sei von Anfang an rechtmäßig gewesen. Offenkundig machte sich das Gericht die Auffassung des Verfassungsschutzes zu eigen. Der hatte den „Schwur von Buchenwald“ dem sich die VVN verpflichtet fühlt, als Beleg für „verfassungsfeindliche Bestrebungen“ herangezogen. Und das in Kassel, einer Stadt, in der offenbar wurde, wie sehr der VS in NSU-Morde verstrickt ist!

Kerem Schamberger war für die Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft der LMU, der Uni München, vorgeschlagen. Im Juli hatte er den genannten Fragebogen wahrheitgemäß auszufüllen. Kerem ist unter anderem Mitglied der DKP und der VVN. Aber der VS ließ sich Zeit, der Einstellungstermin 1. Oktober verstrich. Erst als Kerem in die Öffentlichkeit geht, erfolgt eine umgehende Reaktion des VS. Die LMU entscheidet indes kurz vor Weihnachten, Kerem einzustellen. 

Jutta Rübke, vormals Mitglied des Landtags, Funktionärin von Verdi, spricht als „Niedersächsische Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Schicksale der von Berufsverboten betroffenen Personen“.  Dieser Tätigkeit geht sie weisungsfrei seit dem 1. Februar 2017 nach. Es sind manchmal ungeahnte Einblicke, die ihr nun gewährt werden. Jutta Rübke geht davon aus, dass sie auch weiterhin, unter den Bedingungen einer neuen Regierung in Niedersachsen, ihrer Arbeit nachgehen kann. Auf den Schlußbericht dürfen wir gespannt sein.

Danach teilt sich die Versammlung in Gruppen nach Bundesländern, um sich über die fälligen GEW-Aktivitäten zur Rehabilitierung der Betoffenen zu verständigen, aber auch über „Berufsverbote in der Türkei und Solidarität mit türkischen Kolleg*innen.“ Gäste sind hier Dr. Latife Akyüz von der Goethe Universität Frankfurt und Academics for Peace sowie Sakine Esen Yilmaz, ehemalige Generalsekretärin der Eğitim Sen, der Gewerkschaft, mit der die GEW enge Kontakte pflegt.

Die Schlussrunde erörtert „Berufsverbote und ziviler Ungehorsam“ als Thema für politische Bildung. Prof. Dr. David Salomon, Uni Hildesheim, stellt der offiziellen Jubel- und Erfolgsgeschichte der Bundesrepubik eine Verfolgungs- und Repressionsgeschichte gegenüber. Erinnert an das Schicksal und die Tätigkeit von Fritz Bauer. Davin Salomon möchte Irritation erreichen, namentlich nennt er den unhaltbaren Begriff Verfassungsfeindlichkeit, den schon der Kasseler Jurist Peter Römer zerzaust habe. 

Marlis Tepe wendet sich zuletzt gegen die Versuche des VS, Formen demokratischen Engagement zu diskreditieren. Angesichts des aktuellen politischen und gesellschaftlichen Rechtsrucks und der Diskussion, wieder eine Extremismusklausel einzuführen, bekomme die Auseinandersetzung mit der verdrängten Geschichte und Gegenwart für politische Bildung, zivilgesellschaftliches Engagement und Demokratieentwicklung erhebliches Gewicht.

Text und Foto: Klaus Stein