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Georg Fülberth – Wirtschaftskrisen als Jungbrunnen des Kapitalismus

Alle bisherigen Wirtschaftskrisen waren Jungbrunnen des Kapitalismus – auch diese?

Porträt: Georg Fülberth.

 

  • Die gegenwärtige Krise hat häufig einen falschen Namen, und sie wird auch falsch datiert.
  • Man spricht von der Euro-Krise, und das klingt nach Währungskrise.
  • Davon kann aber im Grunde nicht die Rede sein. Der Euro ist ökonomisch stabil nach innen und nach außen:
    Nach innen: die Inflationsrate ist nach wie vor gering.
    Nach außen: es gibt keinen Absturz des Euro im Verhältnis zu Dollar, Yen oder anderen Währungen.

 

Man mag von einer politischen Euro-Krise sprechen, also davon, ob auf Dauer alle die 17 Länder, die gegenwärtig den Euro haben, ihn behalten werden. Aber: Falls eines von ihnen oder auch einige ausscheiden werden, dann würde der Euro der Rest-Eurozone noch härter werden. Er würde aufwerten. Allerdings würde dann das deutsche Exportmodell zusammenbrechen. Das ist des Pudels Kern bei den derzeitigen leidenschaftlichen Bekenntnissen zu Europa in der Bundesregierung und im größten Teil der veröffentlichten Meinung.

 

Im ökonomischen Sinn aber gibt es gegenwärtig keine Euro-Krise.

Was wäre dann aber der korrekte Name der Krise? Die Antwort auf diese Frage schiebe ich jetzt noch ein wenig auf und komme zunächst zur Datierung.

 

Wann ist diese Krise denn eigentlich ausgebrochen? Es gibt verschiedene Vorschläge, und jeder ist mit einem anderen Jahr verbunden:

 

  • Erstens: 2007: Die von den USA ausgehende Hypothekenkrise.
  • Zweitens: 2008: Bankenkrise und staatliche Bankenrettung.
  • Drittens: 2009: Krise der so genannten Realwirtschaft.
  • Viertens: 2011: Krise der Staatsfinanzen infolge der Bankenrettung und der Konjunkturprogramme während der Krise der Realwirtschaft.
  • Fünftens: Ebenfalls 2011: Zweite Bankenkrise infolge der Krise der Staatsfinanzen.

 

Meine These lautet, und damit komme ich zur Namensgebung:

Diese insgesamt fünf Krisen sind Sekundärkrisen einer anderen, früheren und in ihren Auswirkungen größeren Krise. Es handelt sich um eine Systemische Überakkumulationskrise. Der Begriff klingt nicht sehr pressewirksam, aber man kann ihn erklären.

 

Die Systemische Überakkumulationskrise, auf die es mir ankommt, wurde nicht 2007 ausgelöst, nicht 2008, nicht 2009 und auch nicht 2011. Sie war 1975. Die Weltwirtschaftskrise von 1975 war die Mutter der heutigen Krisen.

 

Um das zu erklären, müssen wir unterscheiden zwischen zyklischen und systemischen Krisen.

Eine zyklische Krise, im Schnitt alle zehn Jahre, ist nichts anderes als die Bereinigung von Überkapazitäten, die sich in einem Boom aufbauen. Dann kommt eben ein in der Regel kurzer Abschwung.

 

Systemische Krisen heißen systemisch, weil es in ihnen nicht mit einem kurzen Abschwung getan ist, sondern weil in ihnen der Kapitalismus seinen Charakter ändert, ohne aufzuhören, Kapitalismus zu sein. Das ist dann, um es mit einem Buchtitel von Elmar Altvater zu sagen, »Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen«. Danach kam in der bisherigen Geschichte dann eben ein anderer, ein neuer Kapitalismus.

 

Um systemische Überakkumulationskrisen handelt es sich, weil in ihnen sichtbar wird, dass zu viel Kapital in den bisherigen Industriezweigen angesammelt ist, das dort nicht mehr genug Profit bringt und sich deshalb neue Anlagesphären sucht. Das ist etwas Anderes als die zyklische Krise, in der in der Regel nur die Lager geräumt werden und anschließend das Gleiche produziert wird wie vorher auch.

 

In der Geschichte des Kapitalismus gab es bisher vier solche Systemische Überakkumulationskrisen: 1873, 1929, 1975 und 2007 bis heute. In den ersten drei Fällen haben die Krisen zur Erneuerung und Dynamisierung des Kapitalismus geführt. Nach der ersten – 1873 – ging der Kapitalismus der freien Konkurrenz in den Organisierten Kapitalismus und Imperialismus über, nach 1929 folgte der staatsinterventionistische – oder auch staatsmonopolistische – Kapitalismus mit seinen verschiedenen Varianten: Faschismus, Kriegsökonomie, keynesianischer Wohlfahrtsstaat. Ihn löste nach 1975 der finanzmarktgetriebene Kapitalismus – einige sprechen auch vom Neoliberalismus – ab. Über die vierte Krise reden wir heute.

 

Zwischen der Krise von 1975 und der heutigen besteht folgender Zusammenhang:

Die Weltwirtschaftskrise 1975 war das Ende einer Periode, die nach dem Zweiten Weltkrieg begann und in der große Profite erzielt werden konnten durch hohen, nachfrage-, nämlich zahlungsfähigen Massenkonsum sowie nachfragestarke staatliche (einschließlich der kommunalen) Infrastrukturpolitik. Es herrschte annähernde Vollbeschäftigung, die von den Unternehmern als Überbeschäftigung bezeichnet wurde. Der Organisationsgrad der Gewerkschaften in den am meisten entwickelten kapitalistischen Ländern war hoch. Ein so genanntes profit-squeeze, eine Profitklemme, bestand zwar noch nicht, aber sie wurde eher herbeigeredet in einem Moment, in dem eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit zugunsten des Kapitals möglich wurde.

 

Diese Möglichkeit ergab sich

1. durch die Ausnutzung der Dritten Industriellen Revolution (Informationstechnologie), die grundsätzlich zwei Möglichkeiten eröffnete:

 

  • Senkung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich. Dieser Kampf wurde von den Gewerkschaften geführt und nach anfänglichen Erfolgen schließlich – wenngleich hoffentlich nicht unwiderruflich – verloren.
  • Ergebnis dieser Niederlage der Gewerkschaften ist Massenarbeitslosigkeit, die die Gewerkschaften zusätzlich schwächt, als Wende in der Mitte der siebziger Jahre.

 

2. Durchsetzung eines neuen Wirtschaftsstils:

  • Vorrang der Geldwertstabilität vor der Beschäftigung (Monetarismus)
  • Drosselung der staatlichen Investitionstätigkeit
  • Abzug von Kapital aus der Produktion in die Zirkulation, in der es sich für einige Zeit spekulativ vermehrt. Im Ergebnis schwoll die Finanzdienstleistungsindustrie an. Da Kapital aber nicht auf Dauer in der Zirkulationssphäre verbleiben kann – denn nur in der Produktion wird letztlich Mehrwert geschaffen –, musste die Blase schließlich platzen: ab 2007.

 

Nun wird nach der Regulierung der Finanzmärkte gerufen. Damit die Konzepte nicht zu kurz greifen, muss zunächst noch auf die Politik des ausschlaggebenden Sektors der Kapitalistenklasse eingegangen werden.

 

Dieser ausschlaggebende Sektor besteht nicht mehr – wie zwischen 1945 und 1975 – aus den Big Bosses, den Managern der produzierenden Großkonzerne, die mit den Spitzen des Staatsapparats kooperieren, sondern aus den Spitzen der Finanzdienstleistungsbranche. Ihre Strategien waren bisher:

 

  • Spekulation
  • Druck auf die produzierenden Unternehmen und deren Belegschaften durch Ankauf, Zerschlagung, Outsourcing, Weiterverkauf, Entlassungen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Lohndämpfung und
  • Druck auf den Staat und die öffentlich-rechtlichen Systeme sozialer Sicherung: Privatisierungen, Senkung der Steuern und Leistungen der Öffentlichen Hand.

 

(So haben wir es von Jörg Huffschmid gelernt.)

 

Selbstverständlich war auch das nur in Kooperation mit den staatlichen Spitzen möglich, aber das Verhältnis von Koch und Kellner war nun klarer.

 

Die gegenwärtige Krise mag dazu führen, dass der Finanzsektor tatsächlich stärker reguliert wird. Es fragt sich aber, in wessen Interesse? Denkbar ist durchaus, dass die Spekulation eingedämmt, zugleich aber der Druck auf die Belegschaften der Unternehmen und auf die Öffentliche Hand erhöht wird.

 

Wenn wir jetzt zum Schluss über Alternativen reden, dann ist diese Gefahr zu berücksichtigen und an zweierlei zu denken:

Gewiss kann beim Finanzsektor angesetzt werden, nicht aber im Stil des Brüsseler angeblichen Rettungsgipfels von Oktober 2011. Der wurde zunächst ja sehr gefeiert: Erlass von fünfzig Prozent der griechischen Staatsschulden. Angeblich habe die deutsche Bundeskanzlerin dem »International Institut of Finance« (IIF) – das ist die Lobby der 400 größten Geldhäuser, Chef: Josef Ackermann – einen solchen Verzicht abgerungen. In Wirklichkeit hätten die Banken ihr Geld ohnehin nicht mehr wiederbekommen, also abschreiben müssen. Jetzt haben sie sich das durch eine staatliche Garantie für dreißig Prozent ihrer Rest-Außenstände vergolden lassen. Damit wurde abgewendet, dass sie diese zweite Hälfte auch noch verloren geben müssten.

 

Rein marktwirtschaftlich fragt man sich ohnehin, was diese staatliche Retterei überhaupt soll. Wenn die Banken darauf spekuliert haben, dass sie z.B. an den kreditfinanzierten deutschen Waffenlieferungen für Griechenland kräftig verdienen, dann ist das doch ihr Problem, wenn sie sich verzockt haben. Die negativen Folgen für sie wären ein erster Beitrag zur ohnehin fälligen Schrumpfung der Finanzdienstleistungsbrache und ihrer Stutzung auf die Funktionen, die Sparkassen und Genossenschaftsbanken heute schon haben. Soweit da und dort eine Bank aufgefangen werden muss, sollte dies nur bei Überschreibung ihrer Aktien in Höhe der Refinanzierungsmittel an die Staaten, Gemeinden und andere Öffentliche Hände der EU, die dadurch Eigentümer dieser Institute würden, geschehen.

 

Das ist aber nur die eine, die aktuelle, den Finanzsektor betreffende Seite. Hinzukommen müssen die langfristigen Lösungen auf anderen Feldern:

  • Eine grundsätzlich neue Steuerpolitik mit steiler Progression. Die Mittel, die bisher in der Spekulation landeten, müssen vorher abgeschöpft werden.
  • Ausbau der öffentlichen Infrastruktur aus den Mitteln, die auf diese Weise hereinkommen.
  • Ent-Privatisierung der Systeme der sozialen Sicherung durch eine allgemein verbindliche Bürgerversicherung für Gesundheit, Rente, Arbeitslosigkeit und Pflege bei progressiver Einzahlung nach Einkommen und Vermögen.
  • Eine Arbeitszeit- und Lohnpolitik (die unter den Bedingungen der Tarifhoheit nicht eine in erster Linie staatliche sein kann) entlang der Vorschläge von Heinz J. Bontrup und Mohssen Massarath: Neuaufnahme des Kampfes um Senkung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich.

 

In einem solchen Kontext ist es auch wieder sinnvoll, von Europa zu sprechen: als einem Regulationsraum, für den das Gerede von einer Globalisierung, die unvermeidlich zu Lohn-, Infrastruktur- und Sozialdumping führen müsse, ins Leere geht.

 

Nun möchte ich noch etwas zu den interessanten Vorschlägen von Heinz Dieterich und Peter Fleissner für einen Sozialismus des 20. Jahrhunderts sagen. Bahn brechend ist hier ja das Buch »Alternativen aus dem Rechner« von Paul W. Cockschott und Allin Cottrell. Es zeigt, wie mithilfe moderner Computer-Technologie die angebliche Überlegenheit der Marktwirtschaft über die der Planwirtschaft ins Reich der Fabel verwiesen werden kann. Theoretisch hat bereits 1908 Enrico Barone bewiesen, dass eine sozialistische Wirtschaft solche Koordinierungsleistungen erbringen kann. Bei Cockshott/Cottrell sehen wir, dass heute auch die dafür notwendige Technik bereitsteht.

 

Eric Hobsbawm berichtet in seinem Buch »Das Zeitalter der Extreme«, wie Oskar Lange, der sich über dieses Problem mit F.A. von Hayek auseinandergesetzt hatte, auf seinem Sterbebett noch einmal davon sprach: »Aber wenn ich so zurückdenke, frage ich mich immer wieder: Hat es eine Alternative zu dem wahllosen, brutalen und im Grunde völlig planlosen Vorwärtssturm des ersten Fünfjahrplans gegeben? Ich wollte, ich könnte die Frage bejahen, aber das kann ich nicht. Ich weiß einfach keine Antwort.« Hobsbawms eigene Erwägung hierzu lautet: Die Möglichkeit einer anderen sozialistischen Wirtschaft zu demonstrieren heiße nicht, »dass sie die Menschen auch tatsächlich bevorzugen würden.« Und ich selbst füge hinzu: selbst wenn die Menschen dies wollen, stellt sich als Nächstes die Frage, ob sie die von ihnen gewünschte Lösung auch durchsetzen können. Das ist die Machtfrage, mit der die Eigentumsfrage beantwortet werden muss. Erst danach können die »Alternativen aus dem Rechner« genutzt werden. Aber der Mut für den so schwierigen ersten Schritt stellt sich leichter ein, wenn gezeigt werden kann, dass der zweite überhaupt möglich ist. Das ist das Verdienst von Cockshott, Cottrell, Dieterich, Fleissner und anderen.

 

Georg Fülberth, 29.10.2011, Beitrag auf der Konferenz »Sozialismus im 21. Jahrhundert«, Berlin

Quelle: http://www.sabine-wils.eu/georg-fuelberth.php
Hervorhebungen durch die Redaktion

Foto: Sven Teschke / Lizenz: Creative Commons CC-by-sa-3.0 de
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