Politik
Griechenland, Syriza und die EU-Troika
Wer rettet hier eigentlich wen?
Einige Anmerkungen zur gegenwärtigen Lage und Krisenentwicklung
Klaus Stein und Wolfgang
Reinicke-Abel
Veranstaltung der DKP Wuppertal 26. August 2015
In der Handlungsorientierung des Bezirks stellen wir fest, dass die Hypertrophie des Finanzsektors die konjunkturelle Erholung verhindert. Im Februar berichtete die Presse von einer Untersuchung von McKinsey, nach der die Schulden der 47 reichsten Länder insgesamt 175 Billionen Euro betragen. Eine Summe, die dreimal so hoch ist wie ihre Wirtschaftsleistung.
Sie repräsentiert vor allem Vermögensansprüche von Gläubigern, die eine entsprechende Verzinsung und Tilgung erwarten. Diese Schulden bzw. Vermögensansprüche werden nicht weniger, sondern wachsen. McKinsey untersucht sie auf Dollar-Basis. Von 142 Billionen Dollar im Jahr 2007 sind sie auf 199 Billionen Dollar im Jahr 2014 geschnellt, von 269 % im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf 286 %. Von den 199 Billionen Dollar entfallen 40 Billionen auf Privathaushalte, 56 auf Unternehmen, 58 auf Regierungen, 45 auf Finanzinstitute. An den Zahlen von McKinsey ist nachzuweisen, dass insbesondere die Finanzinstitute der USA (um 24 %) und Deutschlands (um 16 %) sich ihrer faulen Kredite haben entledigen können, indem sie sie auf den Fiskus überwälzten.
Griechenland ist mit 317 % des BIP verschuldet und steht damit hinter Portugal, Belgien und den Niederlanden an siebter Stelle, es folgen Frankreich und Italien. USA steht mit 233 % auf Platz 16, die Bundesrepublik mit 188 % auf Platz 24 der 47 reichsten Länder.
Aber auch in Griechenland kommt der Trick mit der Abwälzung der privaten Schulden auf den Fiskus zur Anwendung. Die faulen Kredite der Banken werden verstaatlicht, in unserem Fall weitgehend europäisiert. Insofern konnte Schäuble und die Finanzwelt ganz gelassen um die Schulden Griechenlands pokern. Im schlimmsten Fall zahlt die Öffentliche Hand. Privates Kapital ist raus aus dem Risiko, beutet im Gegenteil durch die freigiebige Politik der EZB noch die Risiken aus.
Schon am 10. Januar, noch vor den griechischen Wahlen, konnte die FAZ ihre Leser beruhigen: »Die Gesamtschuld Griechenlands liegt derzeit bei rund 320 Milliarden Euro. Davon befinden sich 260 Milliarden Euro, also 80 Prozent, in der Hand öffentlicher Gläubiger.«
Um Banken vor dem Bankrott zu bewahren, kauft die EZB unbegrenzt Staatsanleihen überschuldeter Staaten auf. Monat für Monat werden dafür 60 Mrd Euro ausgegeben. Jetzt sammeln sich die faulen Papiere bei den öffentlichen Finanzinstituten Europas. Der Bankenstressbericht der EZB vom Ende November 2014 zählte schon faule Papiere in Höhe von 879 Mrd Euro, 9 % des BIP der gesamten Eurozone. Die Geldschwemme hält die Zinsen niedrig und den Euro billig. Das soll die Konjunktur ans Laufen bringen. Aber das Geld wird nicht in die Produktion investiert, weil sich mit der Herstellung von Waren zu wenig verdienen läßt. Vage droht eine Zinserhöhung der FED, der Notenbank der USA. Sie sollte schon im September kommen, angesichts der chinesischen Flaute indes wird von einer Verschiebung auf einen Dezembertermin gesprochen. Tatsächlich würde eine Zinserhörung weitreichende Folgen, nicht nur für überschuldete Städte und Gemeinden haben. Das Gegenteil eines Schuldenschnitts. Die Schulden würden erst recht uneinbringlich werden.
Dabei ist die organisierte Vernichtung von Kapital in Form von Schuldenschnitten angesagt, aber unter den Bedingungen imperialistischer Konkurrenz nicht zu erwarten, allenfalls zu erkämpfen.
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle auf eine bemerkenswerte Differenz von EU-Kommission und EZB auf der einen Seite und IWF auf der anderen Seite aufmerksam machen.
Im folgenden stütze ich mich auf einen Bericht der Kölnischen Rundschau vom 18. August, also vom Dienstag letzter Woche. Unter der Überschrift »Missionarische Zwangsjacke« wird über die Geschichte und Rolle des IWF geschireben. »Wer Geld brauchte, bekam es. Erst später schuf man das Instrument, das im Fall Griechenland für so viel Diskussionen sorgte: die Konditionalität. Wer frisches Kapital beim IWF mit Hauptsitz in Washington beantragte, mußte gleichzeitig innenpolitische Reformen und marktwirtschaftliche Liberalisierung versprechen. Aus der uneigennützigen Hilfe für notleidende Länder war eine missionarische Zwangsjacke zur Demokratisierung und ökonomischen Liberalisierung geworden.
Dabei bleiben die Summen, die man in Washington zu verteilen hat, weit hinter den Beträgen zurück, die Europa zugunsten Athens aufgebracht hat: Derzeit kann der IWF über 294 Milliarden Euro verfügen, weiter 464 Milliarden sind kurzfristig über Darlehen aktivierbar. Dabei handelt es sich um Einzahlungen der Mitglieder – allen voran der USA, die 17,7 Prozent der Einlagen überweisen. Das der IWF die Gelder nur verwaltet, besteht er bei Hilfsprogrammen auf einem wichtigen Zusatz in den Verträgen: Washingtons Darlehen müssen bevorzugt bedient werden. Das rückt Lagardes jüngste Forderungen nach einem Schuldenschnitt in ein fahles Licht.« Die KR schließt mit der Feststellung, dass im Falle eines Schuldenschnitts Athen die bisher ausgezahlten 19 Mrd Euro aus Washington trotzdem abstottern müßte und das zu deutlich schlechteren Bedingungen, nämlich zu 3,6 % statt zu 1,35 % Zinsen, die bei den europäischen Gläubigern fällig wären.
Wir erinnern uns auch an die Verhandlungen der Tsipras-Regierung mit der Troika. Es war Lagarde, die den Ende Juni erreichten Kompromiss scheitern ließ. Auf das folgende Diktat reagierte Tsipras mit dem Referendum.
Liebe Genossinnen und Genossen,
der Krieg ist ebenfalls eine organisierte Form der Kapitalvernichtung, die dazu noch für die Herrschenden den Vorteil der Systemstabilisierung hat. Kriege sind also eher zu erwarten als vereinbarte Schuldenschnitte. Der 1. September sollte ein Anlass sein, darauf aufmerksam zu machen und sich an den fälligen Friedensaktivitäten zu beteiligen, ebenso wie der 3. Oktober, wo wieder eine Aktion in Kalkar ansteht.
Liebe Genossinnen und Genossen,
es bläht sich der Finanzmarkt. Die Blasen werden irgendwann aus geringfügigem und zufälligem Anlass platzen.
Am vergangenen Samstag warnte die FAZ auf ihrer Wirschaftsseite: »Chinas Konjunktur belastet die Börsenkurse. Die Kursverluste an den Märkten setzen sich fort. Immer mehr wird die Wachstumsschwäche in China zur Bedrohung für die Weltwirtschaft.« Im Text wird festgestellt, dass der Dax im Verlauf dieser Woche um 6,5 % gesunken ist und damit die Kursverluste der vergangenen Woche fortgesetzt hat. Insbesondere Autowerte waren davon betroffen. Auch Rainer Rupp schrieb am selben Tag in der jW über die gegenwärtige wirtschaftliche Lage. Titel: »Eine Minute vor Zwölf. Billige Rohstoffe, extreme Verschuldung, kollabierende Finanzmärkte: Die neoliberale Globalisierung ist in die eigene Falle geraten.«
Tatsächlich sackten vorgestern, Montag, den 24. August, nicht nur die chinesischen Börsenwerte in den Keller, der Dax geriet unter den Wert von 10 000, auch dem Dow Jones ging es schlecht. Gestern erholte sich der Dax wieder, heute lag er nur noch knapp unter dem Wert von 10 000. Zwar wird nicht mehr wie am Montag vor Panik gewarnt, aber ein Handelsblattkommentar von heute zeigt eher Ratlosigkeit über die Entwicklung. Allgemein werden die bisherigen Kurse als übertrieben wahrgenommen, als Wirkung des billigen Geldes.
Die kurzfristigen Verwertungsinteressen heftig konkurrierenden fiktiven Kapitals richten sich diametral gegen die Lebensgrundlagen des griechischen Volkes. Hier waltet indes kein ökonomischer Sachzwang. Es wird ein mörderisches Exempel statuiert. Widerstand gegen die Austeritätspolitik von EU, IWF und EZB soll mit Blick auf wachsenden Widerstand in Spanien, Portugal, Italien, Frankreich als aussichtslos erfahren werden. Und diese Lektion wird auch unserer Arbeiterklasse erteilt.
Dr. Giannis, Professor Uni Leipzig, kennzeichnete die Lage so (ND, 30. Juli 2015): »Mehr als drei der insgesamt rund 11 Millionen Griechen sind momentan ohne Krankenversicherung und also ohne Zugang zu medizinischen Leistungen und Medikamenten. 3,8 Millionen Griechen leben an der Armutsgrenze mit rund 430 Euro pro Monat und weitere 2,5 Millionen unterhalb derselben. Letztere versuchen mit durchschnittlich 230 Euro pro Monat zu leben und überleben. Das bedeutet: Rund 60 Prozent der griechischen Bevölkerung leben in Armut oder an der Grenze derselben.« Tatsächlich schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 21.600 Euro im Jahre 2008 auf 16.300 Euro im Jahr 2014. Das verfügbare Einkommen ist von 2008 bis 2013 um 40 Prozent gesunken.
Wovon leben eigentlich die Griechen? (Die folgenden Zahlen sind veraltet, allenfalls bezüglich der Größenordnung von Belang. Wolfgang trägt gleich aktuellere vor.
Der Primärsektor inklusive der Landwirtschaft schafft 6,4 % des BIP, 22 Prozent des Ausfuhr sind Agrarprodukte. Die Industrie schafft 22,2 % des BIP, hauptsächlich kleine und mittelständische Industrie. Sie bringt es auf 59 % des Exports.)
Der größte Bereich ist der Dienstleistungssektor mit 70 %. Selbstverständlich gehört dazu der Tourismus, vor allem verbirgt sich dahinter die Schiffahrt. Ich habe nicht herausbekommen können, wie hoch der Anteil der griechischen Schiffahrt am BIP des Landes ist. Es dürfte auch schwer sein, hier eine echte Zahl zu bekommen – denn 69 % der Tonnage sind ausgeflaggt. 4000 Schiffe werden von griechischen Reedern kontrolliert, das entspricht 20 % der gesamten internationalen Seefahrt. Griechenlands Handelsflotte ist die größte der Welt. So schreibt die TAZ am 11. Juli. Allein im Krisenjahr 2010, als das Land erstmals unter den Eurorettungsschirm schlüpfte, sei die Flotte um über 13 Prozent gewachsen. Und sie wachse weiter. Aktuell hätten Griechenlands Reeder über 250 Riesenpötte vornehmlich bei Werften in Südkorea und China geordert. Nummer eins seien griechische Reeder mit weitem Abstand vor allem im lukrativen Tankergeschäft: Jedes fünfte Schiff, das Rohöl oder Erdgas über die Weltmeere transportiert, gehöre einem Griechen. Sie zahlen aber so gut wie keine Steuern. Die geringfügige Tonnagesteuer beträgt nur wenige Cent pro 100 Tonnen Ladung. Als Abgeltungssteuer befreit sie aber alle anderen Einkünfte aus Schiffahrtsgeschäften von sonstigen Zahlungen an den Fiskus, einschließlich der Gewinne aus Schiffsveräußerungen. Intzeidis-Consulting nennt noch andere Zahlen: Danach besteht die griechische Handelsflotte Ende April 2014 aus 4894 Schiffen mit einer Leistungskraft von 290 Millionen Tonnen Tragfähigkeit. Und sie nennt auch die Namen der Reeder. Jannis Aggelikousos steht auf Platz 1, verfügt über 114 Schiffe mit einer Tonnage von 20 Millionen, es folgt der Reeder Jorgos Oikonomou mit 16 Mio Tonnen, Angeliki Frankou und Jorgos Prokopiou mit mit jeweils etwa 12 Mio Tonnen. Die TAZ ließ sich ihre Informationen über die Steuerfreiheit vom griechischen Generalkonsulat in Hamburg bestätigen. Die maritime Wirtschaft in Deutschland und der EU betrachte die Tonnagesteuer – wie weitere Zuwendungen des Staates – als Lebensgrundlage in der extrem zyklischen Schifffahrt und als angemessenen Ausgleich zur öffentlichen Förderung in Korea, Japan oder China. Kritiker sähen in der Nullsteuer eine milliardenschwere Subvention. Zu diesen Kritikern gehört offenbar nicht die Troika, denn hätten wir je von ihrer Forderung nach Besteuerung der griechischen Reeder gehört? Stattdessen sollen Häfen und Airports versilbert werden. Aber man hört über die fällige Besteuerung der Handelsschifffahrt überhaupt wenig. Unsere Medien schweigen dazu. Aber ich kenne auch keine Äußerung aus Griechenland, selbst von den linken Parteien nicht. Hier wird eine ökonomische Tatsache, vor allem aber ein Herrschaftsverhältnis ausgeblendet.
Ähnlich sachte wie mit den Reedern, den griechischen Oligarchen, geht das Finanzkapital mit denen aus der Ukraine um. Aber damit sind die Gemeinsamkeiten schon am Ende. Die mit Faschisten durchsetzte Regierung ist gegenüber EU und USA sehr gefügig. Die Ukraine wird wegen ihrer Schulden nicht unter Druck gesetzt, im Gegenteil. Sie erhält endlos Kredite und Waffenhilfe. Es geht um Kriegsvorbereitung. Ende Juni beschlossen die NATO-Verteidigungsminister die Aufstockung der Eingreiftruppe Response Force von 13 000 auf 40 000 Mann, ihre gegen Russland gerichtete Speerspitze mit 5000 Soldaten, derzeit von der Bundesrepublik und den Niederlanden geführt, soll innerhalb von wenigen Tagen im Krisengebiet einsatzbereit sein. Die Lagerung von schwerem Militärgerät in Estland, Lettland und Litauen sowie in Polen, Rumänien und Bulgarien geplant. Stoltenberg, der NATO-Generalsekretär, drängt auf die Erhöhung der Verteidigungsaufgaben. Auf der NATO-Beratung Ende Juni ging es auch um die »Anpassung« der NATO-Nuklearstrategie. Drei Wochen vorher hat Poroschenko ein Gesetz verabschieden lassen. Es betrifft »die Bedingungen der Streitkräfte anderer Staaten auf dem Territorium der Ukraine«. In Artikel 4 heißt es: »Potentielle Träger von Kernwaffen und anderen Arten von Massenvernichtungswaffen werden nach internationalen Abkommen der Ukraine für eine Stationierung auf Zeit in der Ukraine erlaubt, sofern die geeignete Steuerung hinsichtlich der Stationierung auf dem Territorium der Ukraine durch die Ukraine selbst gesichert ist.« (nach Ralph Hartmann im »Ossietzky« 16/2015)
In der UZ vom Freitag (21. August 2015) zitiert Nina Hager eine Analyse, nach der die Manöver der NATO und die Russlands zunehmen. Im Mai gab es eine zweiwöchige NATO-Luftwaffenüberung am Polarkreis mit 100 Flugzeugen und 4000 Soldaten. Ihr antwortete Russland mit einer Übung am Ural und in Westsibirien, für die 250 Flugzeuge und 12000 Soldaten mobilisiert wurden. Am 31. August beginnt das NATO-Marinemanöver »Sea Breeze« im Schwarzen Meer. Die Russen bereiten sich auf eine Antwort namens »Center« vor. Derartige Aktivitäten zählt ein Dossier des »European Leadership Network« (ELN, Sitz London) auf. Die NATO nahm dazu Stellung und behauptete, dass die Analyse in irreführender Weise NATO-Manöver mit denen Russlands gleichsetzen würde. Das ELN stellt aber fest, dass beide Seiten mit Blick auf die Fähigkeiten der jeweils anderen Seite und vermutlich sogar mit Kriegsszenarien im Hinterkopf trainierten.
Pünktlich für mein Referat bringt die FAZ von heute, 26. August, die folgende Nachricht:
»Mit Privatgläubigern Ukraine kurz vor dem Schuldenschnitt«
Die privaten Gläubiger wollen der Ukraine wohl ein Fünftel ihrer Schulden erlassen. Damit kommen sie der Regierung weiter entgegen.
Die pleitebedrohte Ukraine und ihre Privatgläubiger stehen Medienberichten zufolge kurz vor einer Einigung auf einen erheblichen Schuldenschnitt. Die wichtigsten nichtöffentlichen Geldgeber hätten angeboten, Kiew 20 Prozent des Nominalwertes ihrer Kredite zu erlassen, berichtete das »Wall Street Journal« am Dienstag. Die Gruppe hält fast die Hälfte des Schuldenberges von 19 Milliarden Dollar (16,5 Milliarden Euro), um den es in den Verhandlungen geht.
Kiew hatte zunächst einen Verzicht von 40 Prozent gefordert. Vergangene Woche hatten der Fonds Franklin Templeton und drei weitere Institutionen lediglich Erleichterungen von fünf bis zehn Prozent angeboten, und auch das nur zu strikten Bedingungen. Der Ausgang der zähen Verhandlungen war am Dienstag offenbar noch nicht klar: »Die Verhandlungen gehen weiter, alle Optionen für die Ukraine bleiben auf dem Tisch«, verlautete aus eingeweihten Kreisen.
Die ursprüngliche Forderung Kiews hätte dem vom Konflikt im Osten und einer drastischen Währungsabwertung gebeutelten Land Einsparungen von 15,3 Milliarden Dollar in den kommenden vier Jahren ermöglicht. Die Einsparungen werden von den westlichen Partnern und vom Internationalen Währungsfonds (IWF) im Gegenzug für ein Hilfspaket von 40 Milliarden Dollar verlangt. Kiew kann derzeit nur mit größter Mühe seine Verbindlichkeiten bedienen.«
Bezeichnenderweise gibt es in der Online-Ausgabe der FAZ dann einen Link (»Mehr zum Thema«) zu dem Artikel »Deutsche Rüstungshersteller profitieren von Ukraine-Krise«.
Diese Information war als kleiner Artikel im Wirtschaftsteil versteckt, aber auch die anderen Nachrichten über die Ukraine finden in unseren Medien mittlerweile nur noch geringe Aufmerksamkeit. Demgegenüber fällt auf, wie umfangreich über Flüchtlinge berichtet wird. Als Problem erscheint allenfalls, wie in der Nachbarschaft der Unterkünfte die Flüchtlinge aufgenommen werden. Es ist aber schon zu ahnen, in welche Richtung die Aufmerksamkeit des Publikums gelenkt wird – weniger auf die Ursachen der Flucht, etwa auf den Zusammenhang mit deutschen Rüstungsexporten oder auf die militärische und politische Unterstützung der imperialistischen Aggressionen gegenüber Syrien, Libyen und überhaupt dem Nahen Osten. Der von der neoliberalen Freihandelspoltik verursachte Hunger kommt nicht in den Blick. Aber es macht sich immer mehr Rassismus breit. Brände und Nazi-Krawalle häufen sich. Am 15. August warben 12 Republikaner für ihren OB-Kandidaten auf dem Kölner Heumarkt unter einem Transparent mit der Losung: »Für Kitas ist kein Geld mehr da, das kriegen Asylbetrüger aus Afrika.« Etwa 150 Antifaschisten hielten dagegen, immerhin.
Klaus Stein
Kriselnde Volkswirtschaften
»Meine Großmutter, die von der schwäbischen Alb stammt, pflegte zu sagen: Gutmütigkeit kommt kurz vor der Liederlichkeit«, so Schäuble in einem Spiegel-Interview. »Es gibt eine Art von Großzügigkeit, die ganz schnell das Gegenteil von dem bewirken kann, was beabsichtigt ist.«
Doch sind kriselnde Volkswirtschaften nicht mit schwäbischen Haushalten zu vergleichen. Ökonomen sind sich einig, dass Griechenland die Krise nur dann überwinden kann, wenn die Wirtschaft wächst und dabei Arbeitsplätze geschaffen werden. Und dafür braucht es Investitionen. Private werden nur angesichts von Gewinnerwartungen erfolgen, in der Krise also nicht. Es wären folglich öffentliche vonnöten, solche in Infrastruktur, Gesundheitswesen, Bildung. Das Gegenteil betreibt die Troika.
Wie sieht es aber mit der mittelfristigen Perspektive aus?
Zunächst ein Blick zurück. Die griechische Wirtschaftsstruktur hat sich in den letzten 20 Jahren stark geändert. Zwischen 1995 und 2007 ist die griechische Wirtschaft massiv gewachsen. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs in dieser Zeit auf preisveränderungsbereinigter Basis um 55 Prozent; es lag 2007auf einem Niveau von 155 Prozent, wenn wir 1996 gleich 100 setzen. In der Krise seit 2009 ist die Wirtschaftsleistung drastisch eingebrochen. Sie ist heute etwa dort, wo sie vor 15 Jahren im Jahr des Beitritts zur Eurozone lag. Es waren die Austeritätsprogramme neben dem hohen Schuldendienst, die zu diesen massiven BIP-Einbruch bewirkten.
Der größte Teil der »Bruttowertschöpfung« entfällt in Griechenland – wie anderswo – auf die Dienstleistungsbereiche. Ohne Tourismus und Schifffahrt geht nichts. Das bedeutet aber nicht, dass die klassischen Sektoren unwichtig sind, im Gegenteil. Der Anteil der Landwirtschaft von 1995 bis 2007 ging von 8 auf 3 Prozent zurück; er liegt heute stabil bei 4 Prozent. Der Anteil der Industrie sank von 15 Prozent im Jahr 1995 auf 13 Prozent im Jahr 1998 und hielt sich seither etwa auf diesem Niveau, 2014 waren es 12 Prozent. Die massive Strukturkrise der griechischen Industrie lag in den frühen neunziger Jahren. Die Hoffnungen auf den Euro-Beitritt waren nicht zuletzt eine Reaktion auf diese Krise. Die Konjunkturschwankungen seither zeichnen sich in einem Bereich deutlich ab: im Baugewerbe. Mitte der 1990er Jahre brachte es dieser auf einen 6-Prozent-Anteil. 2004 waren es dann satte 9 Prozent. 2014 waren es nur noch knapp 2 Prozent der Bruttowertschöpfung.
Deutlich zugenommen hat die Importabhängigkeit des Landes. 1995 importierte Griechenland Waren und Dienstleistungen im Umfang von 22 Prozent des BIP. Schon im Jahr 2000 – mit der Aussicht auf den Euro-Beitritt zum 1. Januar 2001 – waren es 35 Prozent. Dabei ist es seither im wesentlichen geblieben. (Allerdings liegt damit die griechische Importquote immer noch unter dem EU-Durchschnitt (42,9 %) und deutlich unter dem Durchschnitt von anderen Peripherieländern wie Portugal (39,4 %) , Rumänien (41,1 %) oder Bulgarien (67,9 %).)
Die Exporte konnten mit den wachsenden Importen nicht Schritt halten. Das größte Defizit im Außenhandel entfiel auf die Jahre von Boom und Crash: 2007 bis 2010. Zusammengerechnet entstanden im griechischen Außenhandel von 1995 bis heute Defizite, und damit Auslandsschulden, in einer Höhe von 314 Milliarden Euro. Mehr als zwei Drittel davon bildeten sich zwischen dem Eurobeitritt und Ende 2010.
Für wirkliche Veränderungen wären umfangreiche Investitionen nötig. Teil der Brüsseler Vereinbarung vom 12. Juli ist es, den Zugang Griechenlands zu EU-Fördermitteln im Umfang von 35 Milliarden Euro zu erleichtern. Was bedeutet das? Im Jahr 2008 betrugen die Investitionen in Griechenland 57,5 Milliarden Euro. In 2014 – dem Jahr des von Brüssel hoch gelobten realen Wachstums – waren es knapp 21 Milliarden. Die angekündigten Fördermittel entsprechen also noch nicht einmal dem Rückgang der Investitionen in einem Jahr. Und die versprochenen 35 Milliarden werden, bestenfalls verteilt auf mehrere Jahre, ausgezahlt. Weitreichende Veränderungen der griechischen Wirtschaft sind mit solchen Mitteln nicht zu erwarten.
Ein fester Platz am Rand des Eurosystems – mehr versprechen die Eliten in Berlin, Paris und Brüssel der griechischen Bevölkerung nicht.
Allerdings bedeutet das neue Austeritätsprogramm, das mit der Vereinbarung vom 13. Juli aufgezwungen wird, die Fortsetzung der bisherigen Austeritätsprogramme. Deren Folgen sind bekannt und wurden beschrieben. Noch höhere Verbrauchersteuern – mit einem allgemeinen Mehrwertsteuersatz von 23 Prozent, was EU-Rekord ist – und nochmaligen Rentenkürzungen (die Möglichkeit von Frühverrentungen werden komplett abgeschafft) müssen die Binnennachfrage zumindest auf mittlere Frist erneut senken. Die Mehrwertsteuererhöhungen bei Restaurants und die Beseitigung der Steuervergünstigungen für die griechischen Inseln werden die wichtige Tourismus-Branche schädigen und die Vorteile der Konkurrenz – z.B. in der Türkei – vergrößern. Die Rückführung der Steuervorteile in der verbliebenen Landwirtschaft wird die wichtige Belebung derselben verhindern. Die Aussichten sind alles andere als rosig.
Was sind die Alternativen?
Wenn die Fortsetzung der neoliberalen und ungleichen Entwicklung so gut wie sicher ist und ein Zerbrechen der Währungsunion daher eine erhebliche Wahrscheinlichkeit hat, zumindest erneute schwere Krisen und Verwerfungen zu erwarten sind, wäre es fahrlässig für die Linken, sich konzeptionell und politisch nicht darauf vorzubereiten.
Es muss also deutlich gemacht werden, dass eine grundsätzliche Alternative zum bestehenden Euro-System notwendig ist. Und es müssen Vorstellungen dazu zu entwickelt werden. Eine Alternative, die wieder Perspektiven für eine demokratische, soziale und gesteuerte Entwicklung in den einzelnen Staaten und im europäischen Rahmen eröffnen könnte. Dies schließt Möglichkeiten zum Ausscheiden von Staaten oder Staatenblöcken aus dem Euro-System und zum Übergang zu einem neuen Europäischen Währungssystem ein. In diesem könnten die Währungen einzelner Staaten oder durch eine gemeinsame Währung und Wirtschaftsentwicklung verbundener Staatenverbünde kontrolliert auf – und abgewertet werden und die Staaten könnten nötigenfalls auch den Kapitalverkehr beschränken, um ihre Binnenwirtschaft zu schützen und zu entwickeln.1
Es ist klar, dass solch ein Übergang schwierig wäre, aber er wäre eine bessere Möglichkeit als ein unvorbereitetes chaotisches Zerbrechen des Euro-Raums. Es wäre auch die Alternative zu einem mit zunehmend autoritären und unsozialen Maßnahmen und Regeln erpresster Zusammenhalt des Euro-Raums im Interesse insbesondere der deutschen Exportindustrie und des europäischen Finanzkapitals, denn in diesem Rahmen wäre eine andere als die neoliberale Politik auch für die Zukunft praktisch unmöglich.
Das bedeutet nicht, einen einseitigen Exit einzelner Staaten aus dem Euro, sondern es muss ein neues Währungs – und Geldsystem gefordert werden. Dies kann auch die Möglichkeit einschließen, den Euro und den Euro-Raum zu erhalten. Es würde jedoch eine grundlegende Umgestaltung des Euro-Systems erfordern. Die Europäische Zentralbank muss demokratischer Kontrolle unterworfen und zur Unterstützung einer auf Vollbeschäftigung und sozial-ökologische Ziele gerichteten Wirtschafts-politik verpflichtet werden. Sie muss als Gläubiger der letzten Instanz fungieren und auch monetäre Staatsfinanzierung betreiben dürfen. Auch die »systemrelevanten Banken« und möglichst der gesamte Finanzsektor sind demokratischer Kontrolle zu unterstellen. Also eine Entwicklung in Richtung einer europäischen Wirtschaftsdemokratie. Eine weitere Stärkung der Kompetenzen der EU und der EZB zur Steuerung der Wirtschafts – und Finanzpolitik der Einzelstaaten würde dagegen zu einer fortschreitenden Verfestigung und Vertiefung neoliberaler Politik führen und die Demokratie und Spielräume sozialer Politik in den einzelnen Staaten immer weiter einschränken.
Eine Beendigung des bestehenden autoritären Euro-Regimes reicht für eine demokratische und soziale Alternative aber nicht aus. Die EU selbst ist mittlerweile in ihren rechtlichen Grundlagen so verfestigt wie ein strukturell neoliberal-kapitalistisches System. Deshalb müsste es eine umfassende Neugestaltung mit einer neuen Verfassung geben, die in den Mitgliedstaaten in Volksabstimmungen beschlossen werden müsste. Die real existierende EU ist weder ein Friedensprojekt noch ein Wohlstandsprojekt oder ein Sozialmodell. Ein demokratisches, anderes Europa müsste in weitem Maße das Gegenteil der bestehenden EU sein: Statt der Freiheiten des Kapitals auf dem Binnenmarkt müssen demokratische und soziale Grundrechte Vorrang haben. Statt Liberalisierung muss es um Demokratisierung und soziale Steuerung der Ökonomie und der gesellschaftlichen Lebensweise gehen. In allen Bereichen sind die einzelstaatlichen, regionalen und kommunalen Regelungsmöglichkeiten zu sichern, damit sich die gesellschaftlichen Lebensweisen in Europa in ihrer Unterschiedlichkeit entfalten können. Mit einem rückwärtsgewandten oder gegen andere gerichteten Nationalismus hat das nichts zu tun.
Wir müssen eine ernsthafte Debatte über eine veränderte Haltung und Politik gegenüber der EU und dem Euro führen. Die Eurokrise hat den Beleg dafür erbracht, dass die EU-Verträge nicht für ein demokratisches, soziales, ökologisches und friedliches Europa taugen, sondern ganz im Gegenteil zur Verschärfung der Krise beitragen. Die Europäische Union braucht einen Neustart mit einer vollständigen Revision jener primärrechtlichen Grundelemente der EU, die militaristisch, undemokratisch und neoliberal sind. Diese Positionen müssen in den Mittelpunkt der europapolitischen Diskussion gestellt werden. Die EU – und Euro-Kritik und die Notwendigkeit grundsätzlicher Alternativen zur herrschenden Politik in der EU, zum Euro-Regime und zur real existierenden EU, verbunden mit der Ablehnung von Freihandelsabkommen wie TTIP, CETA und TISA muss als ein zentrales Element des politischen Profils entwickelt und kommuniziert werden. Der hohe politische Stellenwert ergibt sich aus der zentralen Rolle der EU und des Euro zur Durchsetzung neoliberaler Formierung auch gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung und nimmt damit eine Schlüsselrolle ein.
Bisher wurde die europäische Integration in Form der EU und des Euro von der Europäischen Linkspartei (ELP) und besonders von den Gewerkschaften2 bei aller Kritik im Einzelnen insgesamt positiv betrachtet und mitgetragen. Dabei hat die ELP große Probleme, sich klar gegen den Verfassungsentwurf der EU auszusprechen. Nur mürrisch geht sie auf die Notwendigkeit ein, in der Öffentlichkeit eine wirkliche Analyse der EU als einer sozioökonomisch-politischen Formation (die es in den Mitgliedsparteien durchaus gibt) vorzulegen. Aber ohne sie gibt es weder Strategie noch Alternative. Daher haben die Protagonisten der ELP, die offiziell gegen die Verfassung sind, dies weder in die Statuten noch ins Manifest geschrieben. Im Statut wird der Begriff »Europäische Union« nicht einmal erwähnt. Für eine»Europäische Linkspartei« ist dies wohl mehr als eigenartig3. Die die ELP bildenden Parteien geben im Statut zu, dass sie »den Widersprüchen nicht ausweichen können, die sich daraus ergeben, dass sie zu vielen Fragen unterschiedliche Meinungen haben«. Doch diese Ehrlichkeit löst natürlich nicht das gewaltige politische Problem. Das Manifest hingegen verschiebt einfach die Zweideutigkeit, indem es zwischen »Europa« und der »EU« unterscheidet. Es entwickelt kritische Punkte und eine Reihe von Forderungen4. Die Ankündigung scheint viel versprechend: »Was sich schließlich im Zentrum der Krise der Europäischen Union befindet, ist die Demokratie.« Das Manifest sagt es völlig richtig, ein kurzer, starker Satz. Ein hervorragender Ausgangspunkt für eine Analyse und politische und praktische Schlussfolgerungen.
Aber statt den despotischen Charakter (etwa die herausragende Rolle des Rates als legislativem und exekutivem Organ; das Parlament unter der Obhut der Exekutive; die blinde und unkontrollierbare Europäische Zentralbank), der unabdingbar ist, um die unsoziale EU durchzusetzen, zu erklären, weicht das Manifest aus. Die »Krise der Demokratie« ergibt sich aus: »Während Jahrzehnten wurde die Europäische Union von oben aufgebaut, in Verachtung der großen Diversität der Kulturen und Sprachen – ohne das Volk und häufig gegen es.« Die ELP wagt nicht, den Aufbau und die gegenwärtigen Institutionen der EU in Frage zu stellen. Das heißt nicht, dass nicht einige Mitgliedsparteien dies tun.
Die wichtige Frage des »Selbstbestimmungsrechtes der Völker« wird auf die »sprachliche und kulturelle Diversität« heruntergekocht. Sodann gibt es im Text Maßnahmen für eine Demokratisierung: »Mehr Macht für das Europäische Parlament und für die nationalen Parlamente sowie für die Wirtschafts- und Sozialkomitees und die der Regionen (…) die am Entscheidungsprozess der europäischen Institutionen beteiligt werden müssen«; »heute wenden wir uns gegen ein Direktorium der Großmächte«. Dann kommt eine Art allgemeine Perspektive: »In der EU befinden sich verschiedenen Interessen im Konflikt (welche?). Für uns schafft dies einen neuen Raum für den Klassenkampf und für die Verteidigung der Interessen der Arbeitenden und der Demokratie, der europäischen Gesellschaft mit ihren Organisationen und Institutionen, darunter auch das Europäische Parlament.«
Die vielen Widersprüche, die die ELP durchziehen, werden sie nicht unbedingt lähmen. Denn es ist eine andere politische Dynamik am Werk: Es ist kein Ritual, zu sagen, dass vieles von der politischen, ökonomischen und sozialen Lage in Europa und den Mitgliedsländern der EU abhängen wird.
Die DKP hat einen Status als Beobachter in der Partei der Europäischen Linken (ELP). Wir respektieren alle Parteien der Linken, und wir arbeiten mit vielen zusammen, auch mit den Parteien der GUE/NGL-Fraktion im Europaparlament. Angesichts des internationalen kapitalistischen Angriffs auf die kommunistischen Parteien und die fortschrittliche Strukturen müssen wir auf die bestmögliche Weise zusammenarbeiten. Dabei betonen wir die Notwendigkeit, auch Differenzen zwischen Parteien ähnlicher Ausprägung anzuerkennen. Wir müssen eine gemeinsame Sprache finden, um Widerstand gegen die imperialistischen Pläne und gegen die zunehmende Ausbeutung der Arbeiter durch das Kapital zu leisten. In der internationalen Zusammenarbeit linker Parteien gegen das neoliberale Regime in Europa sollten ideologische Unterschiede zugunsten der politischen Zusammenarbeit zurückgestellt werden. Eine besondere Frage ist dabei die Spaltung der griechischen Linken, vor allem der Gegensatz zwischen KKE und Syriza. Von Anfang an hat die KKE deutlich gemacht, dass Syriza ein großer Feind ist – selbst beim Referendum, bei dem es darum ging, die Erpressung durch die Gläubiger zurückzuweisen, konnte sich die KKE nicht zur Unterstützung des »Nein« durchringen. Diese Haltung hat wahrscheinlich einen schon früher möglichen linken Wahlsieg verhindert. Eine kritische Unterstützung der Regierung von links im Rahmen einer entsprechenden Bündnispolitik hätte die Position der Linken insgesamt verbessert5.
Dabei könnte die Diskussion für eine sozialistische Perspektive durchaus fruchtbar sein: die noch verbleibenden Wirtschaftssektoren Griechenlands – Agrarindustrie, Chemieindustrie, Schiffbau, Handelsschifffahrt – zu vergesellschaften, im Hinblick auf die ökonomische Autonomie des Landes teilweise umzuwandeln und die Kapazitäten des Landes auf ihren Aufbau und die Erschließung neuer bzw. alter Sektoren mit strategischer Bedeutung zu konzentrieren: Beispielsweise auf die großflächige Produktion von Solarenergie, die Verarbeitung von Baumwolle und Tabak und den Maschinenbau für eine Reindustrialisierung. Die staatliche Industrie könnte durch eine in Kooperativen organisierte und teilkollektivierte Landwirtschaft und Kleingewerbe flankiert werden, zusätzlich müssten neue Handelsbeziehungen entwickelt und die mit Russland wieder aufgenommen werden. Es gäbe so bei allen absehbaren Schwierigkeiten eine Perspektive für das arbeitende Volk, die nicht aufs Totarbeiten und Totsparen zum Nutzen der Konzerne hinausliefe, sondern sich am Aufbau wirklicher Demokratie, an einer Produktion zugunsten der Bedürfnisse der Gesellschaft und am nationalen Wiederaufbau orientierten. Selbstverständlich würden diese Schritte auch die Streichung der Staatsschulden erforderlich machen.
Solange die Linke und die Gewerkschaften ungeachtet der in eine völlig andere Richtung gehenden realen Entwicklungen und Perspektiven an ihrer positiven Haltung zur EU festhalten, sind sie blockiert, eine wirksame Gegenposition zu entwickeln. Sie lassen sich instrumentalisieren für die Legitimierung eines neoliberalen Projekts, das immer weiter vorangetrieben wird: in Richtung Marktliberalisierung und möglichst hoher Gewinne und Wachstums der Unternehmen – nichts anderes meint die ständige Rede von der »Wettbewerbsfähigkeit« in EU-Dokumenten tatsächlich – und damit Einschränkung von Sozialstaatlichkeit und Demokratie.
Wenn die Linke und die Gewerkschaften tatsächlich wirksamen Druck für eine andere Politik, für einen Kurswechsel in der EU entwickeln wollen, müssen sie diese Haltung und Herangehensweise ändern. Wem es nicht schon vorher klar war, müssten eigentlich die Entwicklungen der letzten Monate klar gemacht haben, dass mit Argumenten und möglichst ausgefeilten Konzepten für eine demokratischere und sozialere Politik gegenüber den harten ökonomischen und Machtinteressen der dominierenden Gruppen des deutschen und westeuropäischen Groß- und Finanzkapitals und der diese Interessen umsetzenden politischen Kräfte und Institutionen nichts auszurichten ist. Auch Beschwörungsformeln wie »Europa wird entweder demokratisch und solidarisch sein, oder es wird nicht sein« oder Appelle an die moralische oder politische Verantwortung für Europa sind vergeblich. Wenn wir einen Kurswechsel durchsetzen wollen, müssen wir von der Realität ausgehen statt von Illusionen und Wunschvorstellungen.
Die wirklich relevante Frage zur Durchsetzung eines Kurswechsels ist: wie hinreichender Druck entwickelt werden, um diesen gegen die herrschenden und regierenden Kräfte in fast allen EU-Staaten gegen die EU-Kommission und gegen die EZB durchzusetzen. Also: Womit können die sozialen Kräfte drohen, um diejenigen, die die herrschende Politik durchsetzen, zu einer anderen Politik zu zwingen bzw. sie von ihren Positionen zu entfernen?
Der aussichtsreichste Weg dazu ist, mit der Aufkündigung des bisherigen pro-EU-Konsenses und der legitimierenden Rolle der gesellschaftlichen und politischen Linken und der Gewerkschaften glaubwürdig zu drohen und dies mit deutlichen Aktionen zu unterstreichen. Statt sich zu sorgen und darum zu kümmern, das Vertrauen der Menschen in EU und Euro wieder zu stärken, müssen wir im Gegenteil Kritik und Skepsis und das Misstrauen dagegen stärken, denn es ist mehr als berechtigt. Wir sollten daher nicht mehr von »Europa« reden, was positiv konnotiert ist, wenn die EU und der Euro gemeint sind. Wir sollten aktiv für eine Delegitimierung und gegen eine weitere Stärkung der EU-Bürokratie, EU-Kommission und Rat sowie der EZB und für ein ausdrücklich »anderes Europa« eintreten.
Die DKP könnte dabei eine vorwärtstreibende Rolle einnehmen und dies einfordern. Solange die neoliberalen Grundstrukturen der EU, des Euro und der Economic Governance nicht beseitigt ist, also in der Verträgen ein Vorrang sozialer und demokratischer Rechte und Gestaltungs-möglichkeiten vor den Binnenmarktfreiheiten, eine grundlegende Reform und demokratische Kontrolle der EZB, eine grundlegende Demokratisierung der Struktur der EU und eine grundlegende Revision der Regelungen zur Economic Governance durchgesetzt und der Fiskalvertrag beseitigt ist, bedeutet jegliche Stärkung von Brüssel (und Frankfurt) gegenüber den Einzelstaaten eine Entdemokratisierung.
Als Alternativen wären zu fordern:
- NEIN/OXI zur Politik dieser EU und EZB. NEIN zur Austeritätspolitik der Lohn – und Sozialkürzungen, der Privatisierung und des Abbau von Rechten der Beschäftigten;
- eine europäische Schuldenkonferenz zur Beratung koordinierter Schuldenschnitte und Erleichterungen für hoch verschuldete Staaten;
- eine EU-weite Vermögensabgabe der Millionäre und Mindestbesteuerung internationaler Konzerne;
- ein EU-weites öffentliches Zukunfts- und Investitionsprogramm für den wirtschaftlichen Aufbau und gute Arbeit in der EU, ökologischen Umbau, Bildung und soziale Dienstleistungen;
- eine demokratische und soziale Neugestaltung Europas und des Geld- und Finanzsystems statt einer autoritären und neoliberalen EU und EZB.
Ein solches Forderungsprogramm und Kampagnenorientierung müsste auch im Rahmen der Europäischen Linkspartei diskutiert und vereinbart werden. Es müsste ein breites Bündnis sozialer, demokratischer und linker Kräfte in der EU zusammengebracht werden. Ein Muster dafür könnte die Selbstorganisierte Europäische Bürgerinitiative gegen TTIP sein. Hier gibt es auch inhaltlich viele Bezugspunkte und Gemeinsamkeiten.
An der Diskussion um eine solche Orientierung führt allerdings kein Weg vorbei, wenn die linken und sozialen Kräfte wieder in die Offensive kommen wollen. Immer mehr links und sozial gesinnte Menschen erkennen das. Jetzt ist der Bruch mit einer Pro-EU und Pro-Euro-Orientierung notwendig, die sich als illusionär erwiesen hat, um politische (Selbst-)Blockaden der Linken zu überwinden. Es ist an der Zeit.
Die deutsche Beggar-thy-neighbor-Politik6 entzog den südeuropäischen Volkswirtschaften Wertschöpfung im Umfang einer knappen halben Billion Euro in nur einem Dutzend Jahre.
Berlin nutzte diesen erfolgreichen Werteraub, um die verschuldeten Volkswirtschaften – 451,784 Milliarden des südeuropäischen Schuldenbergs entfallen auf die deutschen Überschüsse! – in eine mit weitgehendem Souveränitätsentzug und knallhartem Sparregime einhergehende Schuld-knechtschaft zu pressen. Perverserweise trat dann Deutschland mit seinen Überschüssen als Garantiegeber für die Euro-Krisenländer auf. Genau: Die Deutschen Überschüsse, die Europas Schuldenberge generierten, nutzte Berlin, um das deutsche Europa zu errichten, dass uns bald um die Ohren fliegen wird.
Letztendlich führen die deutschen Funktionseliten einen Wirtschaftskrieg, um eine hegemoniale Stellung der Bundesrepublik innerhalb Europas zu erringen, wobei sich Berlin gerade auf die neoliberalen Regierungen in den europäischen Krisenstaaten stützen kann, die um reiner Machterhaltung willen keine europäische Alternative zu Austerität und Sparregime dulden wollen. Diese südeuropäischen Regierungen – etwa in Spanien oder Portugal – agieren somit als wirtschafts-politische Kollaborateure Berlins, die gegen die wirtschaftlichen Interessen ihrer eigenen Bevölkerung handeln.
Wer ausschert und sich wehrt, an dem wird ein Exempel statuiert. Beim letzten großen deutschen Anlauf zur Weltmacht wurden für jeden von Partisanen getöteten deutschen Besatzer für gewöhnlich 100 Zivilisten von der Wehrmacht ermordet. Diesmal werden ganze Volkswirtschaften in den sozioökonomischen Zusammenbruch getrieben, sobald deren Bevölkerung die »falsche« Wahl trifft. Die gewandelten Methoden unterstreichen diese fortexistierende Mentalität der Berliner Politeliten.
Bald könnte aber die Spekulationsdynamik kollabieren, die sich auf Chinas Aktienmärkten entwickelt hat. Trotz massiver Zinssenkungen der chinesischen Notenbank wollen sich die heiß gelaufenen Kurse in der Volksrepublik nicht erholen. Angesichts dieses instabilen globalen Umfeldes und allen Eindämmungsversuchen Europas zum Trotz könnte sich dieses »dritte Rettungsprogramm für Griechenland« als der berühmte letzte Tropfen erweisen, der das Fass zum Überlaufen bringt.7
Syriza trat mit dem Ziel an, diesen üblen Kurs zu beenden, und errang am 25. Januar 2015 einen großen Sieg. Um Griechenlands Verhandlungsposition zu verbessern, bat Ministerpräsident Tsipras seine Landsleute um Unterstützung in einer Volksabstimmung, und sie stellten sich tatsächlich mit großer Mehrheit hinter ihn. Das juckte Schäuble, Merkel, Juncker und die Scharfmacher in den baltischen Staaten nicht. Tsipras musste kapitulieren. Umfragen scheinen jetzt zu bestätigen, dass die Griechinnen und Griechen die Situation für ebenso alternativlos halten wie Tsipras und unterstützen ihn deshalb weiterhin mehrheitlich.
Eine schwere Niederlage der Linken. Mag sein. Wichtiger ist: Das hauptsächliche Opfer ist das griechische Volk. Anpassung und Widerstand scheinen ihnen gleich wenig zu nützen. Denkbar ist allenfalls, dass die Erpresser-Institutionen kein Interesse daran haben, Tsipras zugrunde zu richten. Ihnen könnte an einem stabilen Parteiensystem mit Syriza und Nea Dimokratia, das ihre Ansprüche im Inneren umsetzt, gelegen sein. Dies geht aber auf lange Sicht wohl doch nur dadurch, dass der Strick um den Hals des Landes etwas gelockert wird, etwa irgendwann durch einen offenen oder verdeckten Schuldenschnitt. Im Übrigen sei nochmals an Folgendes erinnert: Auf Weisung Hitlers und auf Befehl des Generalfeldmarschalls Wilhelm Keitel verübte die deutsche Wehrmacht in Griechenland grausamste Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Das Land wurde ausgeraubt und ausgeplündert. Beim Abzug der deutschen Truppen wurde die gesamte Infrastruktur zerstört. Seit Gründung der Bundesrepublik wehren die verschiedenen Bundesregierungen die griechischen Ansprüche mit fadenscheinigen Gründen ab.
Wir fordern daher:
– Nein zur diktierten Armut durch EU, EZB und IWF!
– Ja zur Demokratie!
– Solidarität mit dem griechischen Volk!
– Schuldenschnitt jetzt! Schuldenmoratorium für Griechenland!
– Reparationszahlungen endlich entrichten!
Wolfgang Reinicke-Abel
1 siehe Heiner Flassbeck: Der Euro vor der Entscheidung, Politische Schlussfolgerungen der Flassbeck-Lapavitsas-Studie, Rosa-Luxemburg-Stiftung 2013, und die Vorschläge von Oskar Lafontaine in der jW am 22. August dazu.
2 Zugleich drohen die Gewerkschaften im Zangengriff radikalisierter Marktintegration und forcierter Liberalisierungspolitik noch schneller an Mitgliedern, Verhandlungsmacht und politischem Einfluss zu verlieren. (Hans-Jürgen Bieling / Christian Deckwirth / Stefan Schmalz (Hrsg.) (2008): Liberalisierung und Privatisierung in Europa. Münster: Westfälisches Dampfboot.) Es hilft nichts: Auch die Gewerkschaften stehen vor der Aufgabe, sich der neuen Dramatik der Situation zu stellen.
3 An einer Stelle spricht die ELP (im Statut) wie folgt: »Europa als neuer Raum der immer stärkeren Integration der Länder im Osten und Westen, im Norden und Süden, stellt einerseits eine Gelegenheit und eine Herausforderung zur Gewinnung der politischen Initiative für die Kräfte der Linken dar.« Alles in allem ist die EU also gar nicht so schlecht! Im Manifest kommt die EU jedoch vor.
4 So kann man im Manifest lesen: »Wir möchten ein Projekt für ein anderes Europa entwerfen und der EU einen anderen Inhalt geben: autonom gegenüber der Hegemonie der USA, offen gegen den Süden des Globus, alternativ zu Kapitalismus mit seinem Sozial – und Politikmodell, aktiv gegen die wachsende Militarisierung und den Krieg, zugunsten des Schutzes der Umwelt und der Beachtung der Menschenrechte, darunter auch der sozialen und wirtschaftlichen Rechte. Wir sind für das Recht auf Staatsbürgerschaft für alle diejenigen, die in Europa leben. (…) Wir möchten ein von der antidemokratischen und neoliberalen Politik der WTO und des IWF befreites Europa, das die NATO und ausländische Militärbasen und alle Modelle einer europäischen Armee ablehnt, die nur dazu führen würde, die militärische Konkurrenz und die Hochrüstung auf der Welt weiter anzuheizen. Wir wollen ein Europa des Friedens und der Solidarität, das von Kernwaffen und Massenvernichtungswaffen befreit wird, ein Europa, das den Krieg als Mittel zur Regelung internationaler Konflikte ablehnt (…).« Es folgen einige Alternativen.
5 Am 21. August erklärten insgesamt 25 Syriza-Parlamentarier ihren Austritt aus der bisherigen Fraktion und die Bildung einer eigenen unter dem Namen »Einheit des Volkes«. Fraktionssprecher ist der von Tsipras geschasste ehemalige Minister für Energie, Umwelt und wirtschaftlichen Wiederaufbau, Panagiotis Lafazanis. Die Bildung einer eigenen Fraktion ist der erste Schritt zur Schaffung einer neuen Partei, für die man Mitstreiter unter anderem im außerparlamentarischen linken Spektrum gewinnen will. In einem entsprechenden Aufruf warb die Linke Plattform noch vor der Fraktionsbildung für die »Gründung einer breiten memorandumsfeindlichen, fortschrittlichen, demokratischen Front«, die »an den Wahlen teilnehmen wird, um die Annullierung aller Memoranden zu erzwingen«. Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) hatte ihre Ablehnung einer Zusammenarbeit bereits vor dem Rücktritt von Tsipras klargemacht. Die Wähler dürften »weder Tsipras noch der parteiinternen Opposition von Syriza auch nur das geringste Vertrauen schenken«, erklärte KKE-Generalsekretär Dimitris Koutsoumbas in einem am Freitag in der Parteizeitung Rizospastis veröffentlichten Interview.
6 Beggar-thy-neighbor-Politik bezeichnet den Versuch »den Nachbarn auszuplündern« oder »den Nachbarn anzubetteln«. Der Terminus geht auf Adam Smith zurück, der in seinem »Wealth of Nations« die merkantilistische Strategie der Maximierung des nationalen Außenhandelsüberschusses (und damit der inländischen Goldreserven) so bezeichnet hatte.
7 Handelsblatt 13.07.2015: Börsencrash China: Mobius hält China-Aktien noch für zu teuer. Autor: Bloomberg Datum: 13.07.2015 12:26 Uhr