Politik

Soziale Demagogie der AfD

Demonstranten mit Anti-AfD-Plakaten.

Der Arbeitskreis Wirtschafts- und Sozialpolitik des DKP-Bezirks Ruhr-Westfalen hatte für den 11. Dezember 2016 nach Essen eingeladen. Thema «wirtschafts- und sozialpolitische Vorstellungen der AfD». Referent Klaus Stein. Wir dokumentieren seinen Text.

Zu den wirtschafts- und sozial­politischen Vorstellungen der AfD

Ich beziehe mich hauptsächlich auf das Grundsatzprogramm der AfD, das sie auf ihrem Parteitag in Stuttgart am 30. April und 1. Mai beschlossen hat. Dabei wird deutlich, dass die wirtschafts- und sozialpolitische Programmatik der AfD nicht auf die expliziten Äußerungen zu begrenzen ist, wie sie im Kapitel Arbeitsmarkt und Sozialpolitik des Programms formuliert werden. Schon das Verhältnis der geringen Textmenge von fünf Seiten zum Gesamtumfang von fast hundert Seiten gibt diesen Hinweis.

Angeblich richtet sich die Politik der AfD gegen eine kleine, machtvolle politische Führungsgruppe innerhalb der Parteien, die die Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte zu verantworten hätten. Dabei verwendet die AfD sogar den Begriff Klasse. Sie kritisiert eine Klasse von Berufspolitikern, «deren vordringliches Interesse ihrer Macht, ihrem Status und ihrem materiellen Wohlergehen gilt.» Diese kleine Gruppe sei der heimliche Souverän. Sie bilde ein politisches Kartell, das die Schalthebel der staatlichen Macht, soweit diese nicht an die EU übertragen worden ist, die gesamte politische Bildung und große Teile der Versorgung der Bevölkerung mit politischen Informationen in Händen hat. Nur das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland könne diesen illegitimen Zustand beenden (S. 8).

Unter der Käseglocke dieses Volksbegriffs verschwindet der Klassengegensatz zwischen der großen Mehrheit der Menschen, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, und den mehrwertaneignenden Eigentümern der Produktionsmittel, in deren Händen sich die ökonomische und politische Macht konzentriert.

Das große Kapital, seine Macht und das Verhältnis zu seinen Politikern, wird mit derartiger Politikerschelte überblendet, mit keinem Wort erwähnt, geschweige denn enthüllt.

Stattdessen werden gesellschaftliche Konflikte zu solchen der Rasse, der Bildung, der Moral oder krimineller Neigungen reduziert und umgedeutet. Solche Deutungen bereiten den Boden für nationalistische und soziale Demagogie. Alexander Häusler sagt in der Studie des DGB (S. 9): Von der AfD werden «gegensätzliche Interessenslagen wie Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen oder soziale Gegensätze zwischen arm und reich … ausgeklammert und negiert.» «Volksgemeinschaft statt Klassenkampf» sei der leitende Gedanke.

Die AfD fordert die Auflösung der Bundesagentur für Arbeit und die Aufwertung der kommunalen Jobcenter. Etwas unklar postuliert sie damit die Abschaffung der Arbeitslosenversicherung, die es seit 1927 gibt. Seinerzeit löste die Arbeitslosenversicherung die zünftigen und gewerkschaftlichen Unterstützungskassen ab. Sie war staatlich geregelt und garantiert. Finanziert wurde sie von Lohnanteilen. Um diese Lohnanteile werden die Arbeitslosen schon seit 2005 betrogen, seit sie gemäß Hartz IV nach Bedürftigkeit alimentiert werden. Die AfD will da weiter machen und die Arbeitgeber noch weiter entlasten.

Was mit den Geldern der Arbeitslosenversicherung im Zuge der Abschaffung der Arbeitsagentur geschehen soll, bleibt dunkel, ebenso wie die Kosten für den Staatshaushalt.

Als Alternative zu Hartz IV fordert die AfD eine «Aktivierende Grundsicherung», also einen staatlichen Unterstützungsbetrag. Über dessen Höhe gibt sie keine Auskunft. Er soll erst ab einem bestimmten Einkommen in voller Höhe abgezogen werden. Das läuft auf die staatliche Subventionierung von Löhnen, auf das Konzept des Kombilohns hinaus.

Die AfD war sich lange in der Frage des Mindestlohns nicht einig. Erst auf dem Parteitag am 30. April / 1. Mai kam er ins Grundsatzprogramm. Ohnehin schweigt die AfD über die Höhe. Der Mindestlohn soll aber eine «Existenz jenseits der Armutsgrenze» sichern. Und die Partei macht uns glauben, dass er eine bescheidene Altersversorgung finanzieren könne.

Auf eine diesbezügliche Anfrage der Bundestagsabgeordneten Klaus Ernst von der Linkspartei antwortete die Bundesregierung (durch die Parlamentarische Staatssekretärin Anette Kramme, siehe Bundestagsdrucksache 18/8191, S. 20) am 19. April 2016: «Um eine Nettorente aus der gesetzlichen Rentenversicherung auf Grundlage des erfragten aktuellen Rentenwerts ab Juli 2016 über dem durchschnittlichen Bruttobedarf in der Grundsicherung im Alter in Höhe von 788 Euro monatlich… zu erreichen, sind rund 29 Entgeltpunkte erforderlich. Um diese Anzahl an Entgeltpunkten bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden über 45 Jahre sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung hinweg zu erreichen, wäre im Jahr 2016 rechnerisch ein Stundenlohn von rund 11,68 Euro erforderlich.» Wie Ihr wisst, beträgt der Mindestlohn gegenwärtig 8,50 Euro und künftig 8,84 Euro (ab 1. Januar 2017). Die AfD müsste schon erklären, mit welchem Betrag sie die von ihr postulierte «bescheidene Alterssicherung» finanzieren will.

Auch die Rentenhöhe wird von der AfD beschwiegen. Aber sie will Kinder und Erziehungsleistungen stärker berücksichtigen. Schon 2013 klang das in einem Wahlprogramm der AfD wie folgt: «Deutschland hat zu wenige Kinder. Renten- und Krankenversicherung stehen deshalb auf tönernen Füßen. Deutschland muss kinder- und familienfreundlicher werden. Wir stehen für den Schutz der Familie als Keimzelle der Gesellschaft. Eine solidarische Förderung der Familien ist eine Investition in unsere gemeinsame Zukunft und wesentlicher Teil des Generationenvertrages.»

Frauke Petry äußerte sich am 5. Juni 2016 in der WELT: «An einer weiteren Verlängerung der Lebensarbeitszeit führt … kein Weg vorbei. Das ist brutal, genauso, dass man vermutlich über eine weitere Kürzung der Renten wird reden müssen. Wir brauchen auch einen stärkeren innerfamiliären Zusammenhalt zur Entlastung des Sozialstaats.»

Wir sollen darauf vertrauen, dass «mit dem Anheben der Geburtenrate die vorhandenen Potentiale in Deutschland besser auszuschöpfen» seien (S. 42). Deutschland habe die niedrigste Geburtenrate in ganz Europa. Die AfD hält das für eine demografische Fehlentwicklung, will ihr entgegensteuern, insbesondere durch steuerliche Mittel und Berücksichtigung bei der Rente. Aber weder in der Kurz-, noch in der Langfassung des Programms findet sich eine Forderung zur Höhe der staatlichen Grundsicherung oder zur Höhe der Rente.

Womöglich folgt sie den einschlägigen Ideen ihres langjährigen Funktionärs Konrad Adam. Der behauptete vor einigen Jahren, die Kinderlosen seien an der Macht (WELT 11. Juli 2005). Deswegen will er ihnen das Wahlrecht absprechen und plädiert für ein Familienwahlrecht. Adam war 2013 einer der drei Gründungssprecher der Alternative für Deutschland und blieb es bis Juli 2015. Seit März 2015 ist er Vorstandsvorsitzender der neu gegründeten parteinahen Desiderius-Erasmus-Stiftung. Christoph Butterwegge hatte Konrad Adam schon 2006 erwischt. Denn Adam macht den Sozialstaat mitverantwortlich für die sinkende Geburtenentwicklung und den Anstieg der Zahl von Sozialhilfeempfängern (siehe: Krise und Zukunft des Sozialstaates, Wiesbaden 2006, S. 80). Damals noch Chefkorrespondent und Kolumnist der WELT, stellt Adam deswegen auch das Wahlrecht von Arbeitslosen und Rentnern in Frage. Zitat: «Vor diesem Hintergrund klingt die Anregung, den Inaktiven und Versorgungsempfängern das Wahlrecht abzuerkennen, provokativer, als sie tatsächlich ist. Die Fähigkeit, sich selbst und den Seinen den Lebensunterhalt zu verdienen, galt in der Theorie der europäischen Verfassungsbewegung als eine selbstverständliche Voraussetzung für die Gewährung des Wahlrechts. Nicht ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit’ hieß die Parole in den Verfassungstexten, die während der französischen Revolution in kurzem Abstand aufeinander folgten, sondern ‹‚Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Sicherheit›. Der Grund ist klar: Nur der Besitz schien eine Garantie dafür zu bieten, dass man vom Wahlrecht verantwortlich Gebrauch machte.» (WELT, 16. Oktober 2006)

Nun, Adams Thesen haben noch nicht Eingang in die Programmatik der AfD gefunden. Womöglich als Alternative zum Entzug des Wahlrechts will die Alternative für Deutschland parallel zum Anstieg der Lebenserwartung die Lebensarbeitszeit verlängern. Wörtlich: «Hierzu dienen eine optimierte Aus- und Weiterbildung sowie flexible Modelle einer sich parallel zum Anstieg der Lebenserwartung verlängernden Lebensarbeitszeit.» (S. 42)

Die Lohnanteile, die die Arbeitgeber in die Rentenversicherung einzuzahlen haben, sind schon 2001 durch das Altersvermögensergänzungsgesetz reduziert worden. Der Beitragssatz zur Rentenversicherung wurde begrenzt. Dem Sinken des Rentenniveaus sollte zusätzliche private Vorsorge vorbeugen. Die Riester-Rente ersetzt Umlagefinanzierung durch Kapitaldeckung. Aber angesichts niedriger Zinsen lassen sich viele darauf nicht ein. Zur Verhinderung von Armut sollen wir uns nun, wenn es nach der AfD geht, noch bis ins hohe Alter der Konkurrenz des Arbeitsmarkts aussetzen. Solche Konzepte schließen an die von Schäuble an.

Die gemeinnützigen Wohnungsbaugenossenschaften und Wohnungsgesellschaften seien zu stärken, sagt die AfD (S. 94). Bekanntlich ist aber 1990 die steuerliche Begünstigung der Wohnungsgemeinnützigkeit weggefallen. Das hat zu stetigen Mietsteigerungen geführt. Immer mehr Sozialwohnungen fallen aus der Bindung. Mittlerweile stehen 7,1 Millionen Mietern mit Wohnberechtigungsschein 1,4 Millionen Sozialwohnungen gegenüber. Der Wohnungsmarkt sichert kein Recht auf Wohnen, sondern den Investoren hohe Mieten und Renditen, verstärkt durch Wohnungsmangel. Der Deutsche Mieterbund, Linkspartei und Grüne drängen auf ein Gesetz für eine Neue Wohnungsgemeinnützigkeit, das die gemeinnützigen Wohnungsgesellschaften von Steuern frei stellt. Kein Wort dazu bei der AfD.

Aber sie will «die staatliche Bevormundung der Besitzer von Gebäuden, der Wohneigentümer und Mieter für Maßnahmen zur Wärmedämmung und Erhöhung der Energie-Effizienz in Gebäuden beenden.» Mieten seien in der Folge kaum noch bezahlbar. «Auch aus diesen Gründen setzt sich die AfD dafür ein, die EnEV (= Energieeinsparverordnung) und das EEWärmeG (= Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz) ersatzlos zu streichen.» (S. 82) Sie kritisiert überproportional steigende Nebenkosten, einengende Baubestimmungen, unwirtschaftliche Dämmvorschriften und bürokratische Gestaltungsvorgaben, weil sie Immobilienpreise, die Baukosten und Wohnkosten in die Höhe treiben. Die Lösung: Wohneigentum. Es schaffe Heimatbindung und fördere den Wunsch, das eigene Umfeld zu bewahren und zu erhalten. Die energetischen Maßnahmen und das unmäßige Anheben von Grundsteuer und Grunderwerbssteuer seien kostentreibend und für Bauherren investitionshemmend. (S. 94)

Just dieser Begriff fehlte noch. Hier liegt der Pferdefuß, der die Demagogie enthüllt. Es geht der AfD trotz Garnierung mit schön klingenden Forderungen im Kern um den Abbau von Investitionshemmnissen auch beim Wohnungsbau. Bauen soll sich lohnen. Vermieten soll sich lohnen. Wie überhaupt die AfD im Bereich der Wirtschaft grundsätzlich plädiert «für eine Ordnungsethik auf der Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft, wie sie von Walter Eucken, Alfred Müller-Armack und Wilhelm Röpke entwickelt und von Ludwig Ehrhard (sic!) umgesetzt wurde. Zentrale Prinzipien sind Eigentum, Eigenverantwortlichkeit und freie Preisbildung. Der Schutz des Privateigentums ist dabei genauso unentbehrlich wie offene Märkte, Vertragsfreiheit und ein freier Wettbewerb mit entsprechender Wettbewerbspolitik und Monopolkontrolle. Jede Form von staatlicher Planwirtschaft führt früher oder später zu Fehlallokationen und Korruption.» «Je mehr Wettbewerb und je geringer die Staatsquote, desto besser für alle.» (S. 67)

Zudem hatte sie sich gegen die Energieeinsparverordnung und das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz schon im Zusammenhang mit dem Klimaschutz gewandt. Denn die Klimaschutzpolitik (S. 79) hält die AfD für einen Irrweg. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) sei nicht reformierbar. «Windenergieanlagen zerstören das Bild unserer Kulturlandschaften und sind überdies für Vögel eine tödliche Gefahr.» Das EEG sei staatliche Planwirtschaft und eine Abkehr von der Sozialen Marktwirtschaft. An dieser Stelle macht die AfD auch noch auf die gigantische Umverteilung von Vermögen aufmerksam, «von der Bevölkerung und Wirtschaft hin zu den wenigen Subventionsgewinnern.» (S. 80).

Die Kernenergie wird von ihr freundlich beurteilt. Sie ist für eine Laufzeitverlängerung: «Die überhasteten Ausstiegsbeschlüsse aus der Kernkraft von 2002 und 2011 waren sachlich nicht begründet und wirtschaftlich schädlich» (S. 83). Ein weiteres Meisterstück ökologischer Demagogie ist ihr Verhältnis zu Glyphosat: «Die AfD spricht sich, bis zur fundiert nachgewiesenen Unschädlichkeit für Mensch und Tier, ausdrücklich gegen den Einsatz des von der WHO als wahrscheinlich krebserzeugend eingestuften Glyphosat beim Pflanzenschutz aus.» (S. 86)

«Wir unterstützen Strukturreformen, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Staaten zu stärken, wenden uns jedoch entschieden gegen eine Transferunion und zentralistische Tendenzen. Die Politik in Europa ist durch eine schleichende Entdemokratisierung gekennzeichnet, die EU ist zu einem undemokratischen Konstrukt geworden.» (S. 10)

Der Begriff Konstrukt suggeriert als Gegenideal ein naturwüchsiges, organisch gewachsenes, einheitliches politisches Gebilde, zu dem der Nationalstaat verklärt wird. Im verträumten Rückblick verschwimmen die geschichtlichen Resultate von Konflikten hart aufeinander treffender Klasseninteressen zur nationalen Idylle der Volksgemeinschaft. Andererseits beruft sich die AfD gewissermaßen postfaktisch auf zwei Revolutionen, die von 1848 und die von 1989.

«In der Tradition der beiden Revolutionen von 1848 und 1989 artikulieren wir mit unserem bürgerlichen Protest den Willen, die nationale Einheit in Freiheit zu vollenden und ein Europa souveräner demokratischer Staaten zu schaffen.» (S. 6)

Die AfD ist für die Schuldenbremse. Und sie will eine Obergrenze für Steuern und Abgaben (S. 74). Dazu sei es erforderlich, die Staatsaufgaben zu reduzieren und den finanziellen Staatszugriff auf die Einkommen und Vermögen der Bürger zu reduzieren. «Die AfD will die Bürger nicht stärker mit Steuern und Abgaben belasten. Analog zur Schuldenbremse wollen wir eine verbindliche Steuer- und Abgabenbremse im Grundgesetz, um die maximale Summe der Belastung auf einen bestimmten Prozentsatz im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt festzuschreiben.» Die Gewerbesteuer soll weg. «Anstelle der Gewerbesteuer könnte den Kommunen ein Zugang zu anderen Steuerquellen ermöglicht werden», verspricht sie vage. Sie stellt fest, dass die Erhebung der Vermögensteuer gegenwärtig nur ausgesetzt sei – und will sie ganz abschaffen, genauso wie die Erbschaftssteuer. Obwohl sie mit solchen Visionen womöglich die entfernteren Steuerparadiese ihrer Funktion beraubt, fordert die AfD – womöglich damit sich die Steuerflüchtlinge vollends sicher fühlen und als Steuerhinterzieher zu Hause bleiben können – noch die Wiederherstellung des Bank- und Steuergeheimnisses. (S. 75)

Die postulierte Minderung von Staatsaufgaben will die AfD indes nicht auf Bundeswehr und Geheimdienste bezogen wissen. Hier soll vielmehr ausgebaut werden: Deutschland benötige Streitkräfte, deren Führung, Stärke und Ausrüstung an den Herausforderungen künftiger Konflikte orientiert sind und höchsten internationalen Standards entsprechen… Eng damit verbunden seien unverzichtbare nationale wehrtechnische Fähigkeiten, um in Schlüsseltechnologien national unabhängig zu bleiben, mit der Weltspitze Schritt zu halten und Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern.» Sicherheit und Freiheit Deutschlands und seiner Verbündeten seien im Finanzhaushalt mehr als heute angemessen zu berücksichtigen. Ebenfalls sei geboten, die Nachrichtendienste umfangreich zu reorganisieren und zu reformieren… Die bisher praktizierte Finanzierung nach Kassenlage lehne die AfD ab. (S. 31)

Die AfD wurde am 6. Februar 2013 aus der Taufe gehoben. Andreas Kemper war einer der ersten, der sich detailliert mit dieser Partei beschäftigt hat. Er deutete die AfD zunächst als ein Zusammenschluss verschiedener Netzwerke. Da waren zum einen reiche Familienunternehmerinnen und Unternehmer, die sich durch CDU und FDP nicht ausreichend vertreten sahen, marktradikale Volkswirtschaftsprofessoren, der Bürgerzusammenschluss Zivile Koalition und die Lobbyorganisation BürgerKonvent. Dazu gesellten sich Bürgerinnen und Bürger, die sich in ihrer gesellschaftlichen Ausrichtung am rechten Rand bewegen und ohne weiteres als Sarrazin-Fans bezeichnet werden können. Thilo Sarrazins Buch «Deutschland schafft sich ab» ist August 2010 in einem Bertelsmann-Verlag erschienen und hatte bis Anfang 2012 eine Auflage von 1,5 Millionen erreicht. Sarrazin ist damit reich geworden.

Die von Kemper genannten Gruppen wollten Sicherungen im politischen System gegen den Einfluss der Arbeiterklasse. Die sogenannte «Unterschicht» wird von ihnen als Kostenfaktor wahrgenommen.

Zitat des Gründungsmitglieds und ehemaligen Vorsitzenden Bernd Lucke über Menschen, die ohne Deutschkenntnisse und Bildung nach Deutschland kommen und Hartz IV beziehen müssen: «Dann bilden sie eine Art sozialen Bodensatz – einen Bodensatz, der lebenslang in unseren Sozialsystemen verharrt.» Und auf Nachfrage: «Was stört Sie daran? Technisch gesehen ist Bodensatz das, was sich nach unten absetzt und nicht wieder hochkommt.» Plakate im Bundestagswahlkampf lauteten: «Einwanderung braucht strikte Regeln» «Einwanderung ja. Aber nicht in unsere Sozialsysteme», «Wer einwandert, darf uns nicht hassen».

Vor dem Hintergrund von deutlichen rassistischen Ressentiments und der Abwertung sozial Benachteiligter propagiert die AfD Kürzungen staatlicher Sozialleistungen, gleichzeitig will sie mehr steuerliche Förderung von Besserverdienenden.

Prof. Dr. Bernd Lucke war bis Juli 2015 Sprecher der AfD. Zusammen mit Michael Funke und Thomas Straubhaar hatte er den «Hamburger Appell» initiiert und ihn am 30. Juni 2005 in der Tageszeitung Die WELT veröffentlichen lassen. Die Kosten trug die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Es handelte sich um eine pünktliche Reaktion auf Äußerungen aus der damaligen Regierung Schröder, die angesichts der Wahlniederlage der SPD bei den NRW-Landtagswahlen im Mai 2005 in Panik geraten war. Sie erschien am Tag vor dem 1. Juli 2005, an dem Schröder die Vertrauensfrage stellte und den Weg für Bundestagsneuwahlen im Herbst freimachte. Die SPD verlor die Wahl. Sie erhielt mit 10 Millionen noch nicht einmal die Hälfte der Stimmen, die 1998 zur Abwahl von Kohl geführt hatten.

Bei diesem verzweifelten Vorschlag in letzter Minute ging es um Lohnerhöhungen zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage.

Im «Hamburger Appell» wandten sich 253 neoliberale Ökonomie-Professoren dagegen und postulierten: «dass eine Verbesserung der Arbeitsmarktlage nur durch niedrigere Entlohnung der ohnehin schon Geringverdienenden, also durch eine verstärkte Lohnspreizung, möglich sein wird. Eine Abfederung dieser Entwicklung ist durch verlängerte Arbeitszeiten, verminderten Urlaubsanspruch oder höhere Leistungsbereitschaft möglich.»

Zu den Unterzeichnern gehörten die später prominenten AfDler

  • Alexander Dilger (Von April bis November 2013 war er Landessprecher Nordrhein-Westfalen. Aus der AfD trat er nach dem Bundesparteitag im Juli 2015 aus),
  • Jörn Kruse (bis Oktober 2015 Landesvorsitzender der AfD Hamburg, gegenwärtig Fraktionsvorsitzender der AfD in der Bürgerschaft),
  • Joachim Starbatty (Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates der AfD, 2015 legte er seine Ämter nieder trat in die Allianz für Fortschritt und Aufbruch - ALFA - über) ebenso wie
  • Roland Vaubel,
  • Dirk Meyer und
  • Helga Luckenbach.

An die Stelle dieser Ökonomenriege trat am 4. Juli 2015 eine neue Mannschaft unter Führung von Frauke Petry.

Die INSM ist 2006 durch ihre Kampagne «Du bist Deutschland» bekannt geworden. Diese «Initiative» ist eine Lobby-Organisation der Metall- und Elektroindustrie. Alleingesellschafter der INSM GmbH, zuständig für das operative Geschäft, ist das Institut der deutschen Wirtschaft. Der Finanzrahmen, den Gesamtmetall zur Verfügung stellt, beläuft sich bis zu 10 Mio Euro im Jahr. Auch Hans-Olaf Henkel (1995 bis 2000 Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie) hat Geld locker gemacht. Die Frage ist, welchen Einfluss die INSM noch heute auf Politik und Personal der AfD nimmt.

Die AfD verfehlte bei den Bundestagswahlen vom 22. September 2013, wenige Monate nach ihrer Gründung, mit 4,7 Prozent (mehr als 2 Millionen Stimmen) nur knapp den Einzug ins Parlament. Zu der Zeit konnte sie mit der Forderung nach Auflösung des Euro-Währungsgebietes an die starke politische Beunruhigung infolge der Finanz- und Bankenkrise anknüpfen. Sie will die Wiedereinführung nationaler Währungen oder die Schaffung kleinerer und stabilerer Währungsverbünde. Die AfD wollte ein deutsches Veto gegen weitere Hilfskredite des ESM. Banken, Hedge-Fonds und private Großanleger seien die Nutznießer dieser Politik. Überschuldete Staaten sollten durch einen Schuldenschnitt entschuldet werden. Sie war auch gegen den Ankauf von Schrottpapieren durch die EZB. Eine Plakatlosung dazu hieß «Sichere Währung statt Zeitbomben.»

Zu der Zeit war Hans-Olaf Henkel noch Mitglied und prominenter Förderer der AfD. Er wandte sich mit einigen Freunden im Sommer 2012 gegen den ESM. Er klagte, wie übrigens auch Gysi namens der Linkspartei, gegen den ESM beim Bundesverfassungsgericht.

Eine Frage ist, ob wir es hier mit tatsächlichen Interessengegensätzen zwischen Industrie und Finanzkapital zu tun haben, die abgearbeitet sein wollen, oder ob derartige Differenzen als demagogisches Potential zur Einbindung des Mittelstands genutzt werden.

Hans-Olaf Henkel trat mit Lucke und Kollegen im Juli aus der AfD aus und in die ALFA ein. Diese Partei heißt seit Mai 2016 Liberal-Konservative Reformer, nachdem der Verein Aktion Lebensrecht für Alle gegen die Übernahme der Abkürzung geklagt hatte.

Im November 2015 urteilte Henkel im wdr über die AfD: «Wir haben ein richtiges Monster erschaffen». Er sähe die AfD heute «ganz klar auf einem Rechtsrutsch» und als «eine Art NPD-light, vielleicht sogar identisch mit der NPD». Wir dürfen ihm die diesbezügliche Warnung abnehmen.

Alexander Gauland ist seit dem Gründungsparteitag am 14. April 2013 einer der drei stellvertretenden Sprecher der AfD und blieb es auch nach dem Essener Parteitag im Juli 2015. Er gehört zu der Riege um Frauke Petry.

«Diffuser Pazifismus. Warum sich die Deutschen mit Gewalt so schwer tun» war ein Artikel des Berliner Tagesspiegel vom 23. Juli 2012 übergetitelt. Gauland schrieb: «Die Deutschen haben ein gestörtes Verhältnis zur militärischen Gewalt. Sie betrachten sie nicht als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln im Sinne von Clausewitz, sondern als das schlechthin Böse und Falsche, als ein Mittel, aus dem nie und unter keinen Umständen Brauchbares entstehen könne.»

Und etwas weiter: «…das syrische Dilemma des Westens führt wieder eindrücklich vor Augen, wie gering das Verständnis für Gewaltanwendung in diesem Lande ist.»

 Klaus Stein, 11. Dezember 2016