Frieden
100 Jahre Erster Weltkrieg
Am 20. Mai 2014 referierten Dirk Stehling und Klaus Stein in der DKP-Gruppe Köln-Innenstadt über den 1. Weltkrieg und den »somnambulen Griff nach der Weltmacht«. Wir dokumentieren:
Der somnambule Griff nach der Weltmacht
Anlässlich des Jahrestags des Ersten Weltkrieges ist eine mit viel Aufwand betriebene »Erinnerungskampagne« gestartet worden. In zahlreichen Publikationen, Broschüren und Ausstellungen wird eine breite Palette von Themen behandelt, etwa der Kriegsalltag von Mensch und Pferd, die Zerstörung der Landschaften, »Krieg und Kleider« oder »Kriegsgefühle«. Ein Randthema wie die Frage nach Ursachen, Verantwortung oder Kriegszielen taucht nicht auf.
Der australisch-britische Historiker Christopher Clark behauptet in seinem Buch »Die Schlafwandler« gar, es sei nicht nötig, nach Kriegsschuld und -schuldigen zu fragen, und ist damit auf Platz 1 der Bestsellerliste gelandet. Man sei wie Schlafwandler in den Krieg hineingetappt. Diese Wiederauflage der These des »Hineinschlitterns« ist schon von Fritz Fischer in den 60er Jahren widerlegt worden. Fischer wies auf den Zusammenhang zwischen der seit dem Ende der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts betriebenen »Weltpolitik« und den Kriegszielen während des Krieges des kaiserlichen Deutschlands hin und wies die Verantwortung der deutschen Politik an der Auslösung des Krieges während der Juli-Krise 1914 nach.
Deutschland entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts zu einem hochindustrieellen Exportland mit einem rasanten Wirtschaftswachstum. Die Bevölkerung wuchs von 41 Millionen 1871 auf 68 Millionen 1915. Grundlage des Wachstums war der Aufschwung der Schwerindustrie und im Gefolge der chemischen und der Elektroindustrie, die die führende Rolle in Europa errangen. Die deutsche Wirtschaft zeichnete sich durch einen hohen Konzentrationsgrad aus, besonders die chemische Industrie mit dem Kartell von Bayer, Hoechst und Ludwigshafen (ab 1916 IG Farben). Der Bankensektor war ebenfalls hoch konzentriert und aufs engste mit dem Industriekapital verflochten. Es waren diese Kreise der führenden Industriellen und Bankiers zusammen mit den eigens dazu gegründeten Verbänden wie der Alldeutsche Verband, die Kolonialgesellschaft oder der Flottenverein, die vehement eine aggressivere Außenpolitik einforderten. Das Monopolkapital drängte nach Anlagemöglichkeiten und der Erschließung neuer Rohstoffquellen und zwar umso mehr, je größer das Produktionsvolumen anwuchs. Der Einfluss der Unternehmerschicht, des Finanzkapitals und der Verbandsfunktionäre auf die Zielsetzungen der Reichspolitik war allein schon deshalb groß, weil Vertreter der Interessengruppen im Regelfall zugleich Abgeordnete waren, am häufigsten als Nationalliberale.
Ab 1896 betrieb Deutschland »Weltpolitik« und griff nach dem »Platz an der Sonne«. Der Kampf um Einflusszonen und die kolonialen Ambitionen Deutschlands in Afrika, im Nahen Osten und China verschärften die Konflikte mit den etablierten Kolonialmächten. Vor allem der forciert betriebene Aufbau einer Kriegsflotte unter Admiral Tirpitz wurde von England zu Recht als Provokation empfunden.
Schnell zeigte sich die Kluft zwischen Wirtschaftsentwicklung und Geltungsanspruch einerseits und politischen Durchsetzungsmöglichkeiten andererseits. Die Grenzen der politischen und finanziellen Möglichkeiten des deutschen Imperialismus traten immer mehr zutage. Immer häufiger musste man nach großer Geste klein beigeben, wie zum Beispiel nach dem »Panthersprung nach Agadir« 1911, dem Versuch wirtschaftliche Interessen mit Kanonenboot-Diplomatie durchzusetzen, der die 2. Marokkokrise auslöste. Den Einfluss im Balkan und der Türkei (Stichwort: Bagdad-Bahn) beispielsweise verlor man an das finanzstärkere Frankreich, das sich nach dem damals praktizierten Prinzip Staats- und Rüstungsanleihen gegen Aufträge für die eigene Industrie gegen Deutschland durchsetzte.
Die außenpolitische Selbstisolierung als Ergebnis dieser Politik bildete die Grundlage der Legende der »Einkreisung«, die bei den führenden Kräften nur noch Krieg als Ausweg erscheinen ließ. Umso weniger die deutschen Aktionen geeignet waren, die imperialistischen Ambitionen durchzusetzen, umso stärker drängte das Kapital auf Einsetzung militärischer Mittel.
Die Vorbereitung auf einem Krieg wurde forciert ab 1912 betrieben. Am 10. Mai 1912 wurde vom Reichstag die 1. Heeresvermehrung beschlossen (gefolgt von der großen Heeresvermehrung im Sommer 1913) und am 15. Mai 1912 die Flottennovelle angenommen, was im Übrigen allen Bemühungen einer deutsch-englischen Verständigung im Rahmen der Haldane-Mission einen Strich durch die Rechnung machte und eine neue Rüstungswelle auslöste. Der entsprechende Plan für einen Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Russland, der sogenannte Schlieffen-Plan, war im Dezember 1912 auch schon unter Dach und Fach. Dieser sah vor, Frankreich unter Einbeziehung Belgiens zunächst in einem Blitzkrieg niederzuwerfen und dann alle Kräfte gegen Russland einzusetzen. Österreich-Ungarn sollte bis zum Sieg über Frankreich die Stellung gegenüber Russland halten.
Das Empfinden weiter nationaler Kreise in der Zeit vor dem Ausbruch des Krieges drückt sich am besten in Friedrich von Bernhardis Buch »Deutschland und der nächste Krieg« aus, das 1912 erschien. Es traf auch die Intentionen der Reichsleitung und des Generalstabes. Darin fordert er die völlige Niederwerfung Frankreichs, die Gründung eines mitteleuropäischen Staatenbundes unter Führung Deutschlands und den Ausbau Deutschlands als Weltmacht durch die Gewinnung neuer Kolonien, alles Forderungen, die im Kriegszielprogramm von Reichskanzler Bethmann-Hollweg vom 9. September 1914, wenige Wochen nach Beginn des Krieges, fast wortwörtlich übernommen wurden.
Die für einen Krieg notwendige Stimmung in der Öffentlichkeit war vorhanden. Die Spannungen auf dem Balkan, vor allem zwischen Österreich-Ungarn und Serbien wegen der Südslawenfrage und der Frage eines Zugangs zur Adria boten ausreichend Zündstoff, um einen Krieg auszulösen. Allein es fehlte noch der Anlass. Dieser ergab sich nach der Ermordung des österreich-ungarischen Thronfolgerpaares am 28. Juni 1914 in Sarajevo durch Gavrilo Princip, Mitglied einer serbisch-nationalistischen Bewegung.
Es traf mit dem Thronfolger Franz Ferdinand ausgerechnet einen Befürworter von inneren Reformen der Doppelmonarchie, der für einen Föderalismus zugunsten des slawischen Bevölkerungsteils eintrat.
In der folgenden Juli-Krise drängte die deutsche Diplomatie Österreich-Ungarn zu einem scharfen Vorgehen gegen Serbien. Der Kaiser polterte in gewohnter Weise: »Mit den Serben muss aufgeräumt werden und zwar bald!« Die berühmte »Blankovollmacht« vom 4. Juli sagte Österreich-Ungarn volle Unterstützung durch Deutschland für jede Maßnahme gegen Serbien zu. Alle Vermittlungsbemühungen Englands wurden von deutscher Seite konterkariert. Nach außen hin versuchte die Reichsleitung aus innenpolitischen Überlegungen, vor allem im Hinblick auf die Sozialdemokratie, den Eindruck zu erwecken, man sei an einer friedlichen Lösung der Juli-Krise interessiert.
Deutschland ist nicht durch Österreich-Ungarn in den Krieg hineingezogen worden, wie so oft behauptet, sondern es drängte auf eine baldige Kriegserklärung Osterreich-Ungarns gegen Serbien, in vollem Bewußtsein, dass dies eine Intervention Russlands und mithin einen Weltkrieg auslösen wird.
Das Ultimatum, das Serbien schließlich am 23. Juli von Österreich-Ungarn unter deutscher Mitwirkung übergeben wurde, war so verfasst, dass die darin enthaltenen Bedingungen unmöglich angenommen werden konnten. Am 28. Juli erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg.
Am 30. Juli reagierte Russland wie erwartet mit der Gesamtmobilmachung. Am 31. Juli wurde von der Reichsleitung der »Zustand drohender Kriegsgefahr« erklärt, mit der Begründung: »man drückt uns das Schwert in die Hand«. Am 1. August folgte die Kriegserklärung an Russland. Nicht wie erwartet, reagierte Frankreich auf die deutsche Kriegserklärung an Russland mit militärischen Maßnahmen. Man musste daher erst französische Grenzverletzungen und Bombenabwürfe erfinden, um am 3.August Frankreich den Krieg erklären zu können.
Es sollte vor der Öffentlichkeit so wirken, als sei man überfallen worden. Russland sollte die Kriegsschuld zugeschoben werden, mit Blick auf England, auf dessen Neutralität man spekulierte, aber vor allem aus innenpolitischer Rücksicht, um eine Opposition der Sozialdemokratie auszuschalten. Die Sozialdemokratie war seit 1912 die stärkste Partei im Reichstag. Ohne die von ihr geführte Arbeiterschaft war ein Krieg nicht zu führen. Die Einbindung der Sozialdemokratie in die Einheitsfront des »Burgfriedens« gelang nicht zuletzt durch die Anstachelung der in ihr verbreiteten Abneigung gegen das zaristische Russland.
In offiziellen Erklärungen der Regierung betonte man bis zum Ende des Krieges dessen defensiven Charakter. Die wahren Absichten sind den Kriegszielprogrammen zu entnehmen, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Eine öffentliche Kriegszieldebatte war von Bethmann Hollweg strikt untersagt worden. Zentrale Bedeutung hat das Kriegszielprogramm von Bethmann Hollweg, eine geheime Denkschrift vom 9. September 1914, das sog. Septemberprogramm.
Es enthielt folgende Kriegsziele:
Bezogen auf Frankreich wurde die Annexion des Westhangs der Vogesen, die Abtretung von Belfort, die Schleifung der Festungen und Abtretung des Küstenstreifens von Dünkirchen bis Boulogne angestrebt. Vor allem wollte man sich die Erzbecken von Longwy-Briey aneignen. Frankreich sollte durch den Krieg so geschwächt und mit so hohen Kriegsentschädigungen belegt werden, dass es »als Großmacht nicht neu entstehen kann«. Außerdem sollte es durch einen Handelsvertrag in vollkommene Abhängigkeit Deutschlands gebracht werden.
Für Belgien sah man das Schicksal eines Vasallenstaates vor, Luxemburg sollte deutscher Bundesstaat und Holland sollte in Abhängigkeit von Deutschland gebracht werden.
Ein zentrales Kriegsziel war die Schaffung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes zunächst unter Einschluss von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn und Polen unter deutscher Führung mit dem Ziel, die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands zu sichern.
Bezogen auf koloniale Erwerbungen sollten die afrikanischen Kolonien zu einem zusammenhängendem mittelafrikanischen Kolonialreich arrondiert werden.
Für den Osten war das Kernziel, Russland abzudrängen und »seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker« zu brechen. Zu diesem Zweck sollte eine Kette von Pufferstaaten geschaffen und Polen von Russland gelöst und in die Mitteleuropakonzeption einbezogen werden.
Geplant war also nicht weniger als die vollständige Umwälzung der staatlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Europa. Das September-Programm von Bethmann Hollweg drückte die Ideen der führenden Kreise der Wirtschaft, Politik und des Militärs aus. Es blieb bis zum Ende des Krieges Grundlage der deutschen Kriegszielpolitik, obwohl sich schon nach dem Rückschlag an der Marne im September 1914 eine Verschlechterung der militärischen Lage abzuzeichnen begann.
Noch schärfer fielen die Kriegszieldenkschriften des Alldeutschen Verbandes und von führenden Vertretern der deutschen Industrie wie Hugo Stinnes, August Thyssen, Alfred Hugenberg, Gustav Krupp, Walther Rathenau und Gustav Stresemann aus. Heinrich Claß, Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes forderte etwa im September 1914 die Annexion der polnischen Grenzgebiete, des russisch-litauischen Gouvernements und der Ostsee-Provinzen zur »strategischen Sicherung« und als Siedlungsgebiete. In einer Eingabe an den Reichskanzler vom 20. März 1915 forderten die großen Wirtschaftsverbände, der Centralverband deutscher Industrieller, der Bund der Industriellen, der Bund der Landwirte, der deutsche Bauernbund, der Reichsdeutsche Mittelstandsverband und die Christlichen Deutschen Bauernvereine, als Hauptziel territoriale Erwerbungen in West und Ost, die Ausdehnung des deutschen Siedlungs- und Wirtschaftsraums.
Alle waren sich einig darin, dass man die nicht-russischen Völkerschaften »vom Joch des Moskowitertums« befreien müsse.
Eine Schlüsselstellung nahm dabei die Ukraine ein, wo das deutsche Kapital vor dem Ersten Weltkrieg schon große Summen investiert hatte.
Man meinte auch damals schon zu wissen, wie es Paul Rohrbach, ein damals führender außenpolitischer Publizist, bereits 1897 schrieb: »Wer Kiew hat, kann Russland zwingen!«
Dirk Stehling, 20. Mai 2014
Zweiter Teil: über die angeblichen Schlafwandler
Dirk hat in seinem Referat nachweisen können, daß das Deutsche Kaiserreich weder geschlafen hat noch schlafgewandelt ist, als es den Krieg vom Zaune brach. Es hatte klare Kriegsziele, wie sie spätestens dem Septemberprogramm des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg vom 9. September 1914 abzulesen sind. Sie sind aber auch damals nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in langen gesellschaftlichen Debatten der herrschenden politischen Kräfte herauskristallisiert. Ludwig Elm beschreibt in einem kurzen Text in den Marxistischen Blättern Heft Nr 3/14, das eben rausgekommen ist, wie sich seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Vorherrschaft konservativer Ideen, Normen und Leitbilder gefestigt hat und von völkisch-deutschnationalen, preußisch-militaristischen, rassistisch-antisemitischen und imperialen Vorstellungen und Zielen durchdrungen und zunehmend dominiert wurden. Nach dem Fall der Sozialistengesetze kam dann noch die ideologischen Funktion des Antisozialismus hinzu. Diese fortschritts-, demokratie- und friedensfeindlichen Leitbilder wucherten in einem Netz von Verbänden, Massenorganisationen und Vereinen und erreichten ebenso wie die überwiegend rechtsgerichtete Presse Millionen Menschen und beeinflusste sie in ihrem alltäglichen Denken und Handeln.
Anlässe dazu gab es einige. Es zählten dazu die wüsten Auseinandersetzungen um den Kolonialkrieg in Südwestafrika, heute Namibia (1904-1907), die zur Auflösung der Reichstags und zu Neuwahlen Anfang 1907 führten. Es ging auf der Seite der Rechten um weltpolitische Ansprüche, die nationalistisch begründet wurden, und gegen die gegenteiligen Ansichten der SPD.
Diese Ansprüche gipfelten in der so kriegshetzerischen wie präfaschistischen Schrift des Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes, Justizrat Heinrich Claß, mit dem Titel »Wenn ich der Kaiser wär«. Dieses Pamphlet erfuhr fünf Auflagen und strotzte von Gewaltphantasien mit kolonialen und imperialen Zielen, Militarismus und Diktatur, Patriarchalismus und Führertum, völkischer Deutschtumsideologie und aggressivem Antisemitismus, Haß auf Demokratie und Sozialismus. Karl Liebknecht dagegen charakterisierte in seiner Schrift »Militarismus und Antimilitarismus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung« aus dem Jahr 1907 die friedens- und volksfeindlichen Wesenszüge »des preußisch-deutschen bürokratisch-feudal-kapitalistischen Militarismus, dieser schlimmsten Form des kapitalistischen Militarismus, dieses Staates über dem Staate«. Die Schrift wurde im April beschlagnahmt und der Verfasser im Leipziger Hochverratsprozeß am 12. Oktober 1907 zu anderthalb Jahren Festungshaft verurteilt. Er hat sie voll abgesessen.
Rosa Luxemburg geißelte in den Vorkriegsjahren die wachsende Kriegsgefahr sowie den Zusammenbruch der letzten Reste des bürgerlichen Liberalismus und der bürgerlichen Demokratie.
Im Dienste damaliger nationalistischer Propaganda und psychologischer Kriegsführung nach außen und innen entstanden im Oktober 1914 die Zentrale für Auslandsdienst und im März 1918 die Zentrale für Heimatdienst, letztere der Urahn der heutigen Bundeszentrale für politische Bildung.
Wir haben es also mit einer Kriegsvorbereitung zu tun, wie sie deutlicher nicht sein kann. Elm zitiert Heinrich August Winkler, der schrieb: Keine Großmacht hat während der Julikrise (1914) so konsequent auf eine Eskalation des Konflikts gesetzt wie Deutschland. Elm spricht von einem militanten und bis Sommer 1917 dominierenden kriegstreiberischen und volksfeindlichen Lager der Nationalliberalen, eng verbunden mit dem Alldeutschen Verband, sowie den beiden erklärt konservativen Parteien und Teilen des Zentrums, das im Zusammenwirken mit der Reichsregierung, der Obersten Heeresleitung, Vertretern der Wirtschaft, der Kirchen und der Medien die maximalen Kriegsziele unterstützte sowie alle Maßnahmen zur Stärkung der Front, zur Mobilisierung und Ausbeutung des Hinterlandes sowie die rücksichtslose Unterdrückung der Kriegsgegner.
So engagiert beschreibt Ludwig Elm die Situation vor dem Ersten Weltkrieg. Und Fritz Fischer liefert zu den Kriegsursachen und der Rolle des Deutschen Reiches dazu die notwendigen Informationen.
Christopher Clark dagegen verbirgt seine apologetischen Absichten gar nicht. Sie werden im Vorwort seines 900-Seiten-Buches genannt. Kurz: Wir sollen den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen.
Es heißt im Vorwort: »Das vorliegende Buch setzt sich um Ziel, die Julikrise von 1914 als ein modernes Ereignis zu verstehen, als das komplexeste Ereignis der heutigen Zeit, womöglich bislang aller Zeiten. Es befasst sich weniger mit der Frage, warum der Krieg ausbrach, als damit, wie es dazu kam. Die Fragen nach dem Warum und Wie sind logisch untrennbar miteinander verbunden, aber sei führen uns in verschiedene Richtungen. Die Frage nach dem Wie fordert uns auf, die Abfolge der Interaktionen näher zu untersuchen. Die bestimmte Erreignisse bewirkten. Hingegen lädt und die Frage nach dem Warum ein, nach fernen und nach Kategorien geordeten Ursachen zu suchen: Imperialismus, Nationalismus, Rüstung, Bündnisse, Hochfinanz, Vorstellungen der nationalen Ehre, Mechanismen der Mobilisierung. Der »Warum-Ansatz« bringt zwar eine gewisse analytische Klarheit, aber er hat auch einen verzerrenden Effekt, weil er die Illusion eines ständig wachsenden Kausaldrucks erzeugt. Die Faktoren türmen sich auf und drücken auf die Ereignisse; politische Akteure werden zu reinen ausführenden Organen der Kräfte, die sich längst etabliert haben und ihrer Kontrolle entziehen.
In der Geschichte, die dieses Buch erzählt, bestimmen handlungsfähige und –bereite Entscheidungsträger das Bild. Diese Entscheidungsträger (Könige, Kaiser, Außenminister, Botschafter, Militärs und eine Fülle kleinerer Beamter) bewegten sich mit behutsamen, wohlberechneten Schritten auf die Gefahr zu. Der Ausbruch des Krieges war der Höhepunkt in einer Kette von Entscheidungen, die von politischen Akteuren mit bewussten Zielen getroffen wurden. Diese Akteure waren bis zu einem gewissen Grad der Selbstreflexion fähig, sie erkannten eine Auswahl von Optionen und bildeten sich auf der Basis der besten Informationen, die ihnen vorlagen, ein Urteil. Nationalismus, Rüstung, Bündnisse und Hochfinanz waren allesamt Teil der Geschichte, aber man kann ihnen lediglich dann eine echte erklärende Bedeutung beimessen, wenn man aufzeigen kann, dass sie Entscheidungen beeinflussten, die – zusammengenommen – den Krieg ausbrechen ließen.
Ein bulgarischer Historiker der Balkankriege stelle unlängst treffen fest: ‚Sobald wir die Frage ‚warum’ stellen, wir Schuld zum Brennpunkt.’ (Swetoslaw Budinow, Balkanskite Woini (1912-1913), Sofia 2005, S. 55) Fragen nach der Schuld und Verantwortung für den Kriegsausbruch flossen schon vor Beginn des Krieges in diese Geschichte ein. Der gesamte Quellenbestand steckt voller Schuldzuschreibungen (denn es ist eine Eigenart dieser Krise, dass alle Handelnden dem Gegner aggressive Absichten unterstellten und sich selbst defensive Intentionen bescheinigten), und das Urteil, das Artikel 231 des Friedensvertrags von Versailles enthält, hat dafür gesorgt, dass die ‚Kriegsschuldfrage’ weiterhin aktuell ist. Auch hier legt der Fokus auf dem Wie eine alternative Vorgehensweise nahe: eine Reise durch die Ereignisse, die nicht von der Notwendigkeit getrieben wird, eine Anklageschrift gegen diesen oder jenen Staat oder diese oder jene Person zu schreiben, sondern sich zum Ziel setzt, die Entscheidungen zu erkennen, die den Krieg herbeiführten, und die Gründe und Emotionen zu verstehen, die dahintersteckten. Das heißt nicht, dass die Frage der Verantwortung ganz aus der Diskussion ausgeklammert wird – nach Möglichkeit sollten die Antworten auf die Warum-Frage jedoch aus den Antworten auf Fragen nach dem Wie erwachsen, statt umgekehrt.« (Christopher Clark, Die Schlafwandler, München 2013, Einleitung S. 17 f.)
Umgekehrt wird meines Erachtens ein Schuh draus. Clark lässt seine Intention erkennen, sich auf der Ebene der Phänomene (dem Wie) beschreibend zu bewegen und verspricht uns eine Fülle von Material. Aber schon die Frage nach den Gründen, erst recht die Antworten darauf sollen ausgeblendet werden.
Das aber ist nicht einfach nur Apologie. 100 Jahre nach dem 1. Weltkrieg, angesichts neuer Weltkriegsgefahren ist eine derartige wissenschaftliche Haltung nicht nur leichtfertig. Man muss unterstellen, daß ihre Orientierungsqualitäten billigend in Kauf genommen werden. Das Buch erscheint folglich als Anleitung zum Handeln.
Schon im Winter ist es in den führenden Medien beworben worden und mittlerweile Bestseller. Wir haben es mit Kriegstreiberei im milden Ton vorgeblicher Wissenschaft zu tun.
Am Ende versteigt sich Clark noch zu folgendem: »In einer der interessantesten jüngeren Publikationen über diesen Krieg wird die These aufgestellt, daß er nicht nur keineswegs unvermeidlich, sondern tatsächlich ‚unwahrscheinlich’ gewesen sei – zumindest bis zu seinem Ausbruch (siehe insbesondere Holger Afflerbach, »The Topos of Improbable War in Europe before 1914« in: ders. Und David Stevenson (Hg.), An Improbable War?, Oxford 2007, S. 161-182). Daraus würde folgen, dass der Konflikt nicht die Konsequenz einer langfristigen Verschlechterung der Beziehungen war, sondern kurzfristiger Erschütterungen des internationalen Systems. Ob man diese Anschauung nun teilt oder nicht, die hat den Vorteil, dass sie das Element des Zufalls in das Geschehen einbringt.« (Clark, Einleitung, S. 19.f.)
Verräterisch ist, wann Clark solche Begriffe wie »Interesse« und »Vorteil« verwendet. Für wen stellt es sich als Vorteil dar, wenn Krieg als nur zufälliges Geschehen wahrzunehmen wäre?
Bezeichnenderweise beginnt das Kapitel 1 »Serbische Schreckgespenster« mit dem Mord an König Alexander und seiner Frau Draga, mit der Schilderung, eines abstoßenden Ereignisses, das uns gegen die Serben einnehmen muss.
Klaus Stein, 20. Mai 2014