Partei
Schwerpunkt Demokratiefragen
Der Leitantrag des Parteitags als ideologische Orientierung
Referat
25. August 2013
DKP Bezirk
Rheinland-Westfalen
Demokratie vs. Imperialismus
Liebe Genossinnen und Genossen,
Eine notwendige aktuelle Vorbemerkung. Am vergangenen Samstag sind 10 UN-Inspekteure in Damaskus eingetroffen. Zu Wochenbeginn nahmen sie ihre Arbeit auf. Ihr Auftrag: sie sollen den Einsatz von Giftgas in Syrien untersuchen. Für die USA wäre ein derartiger Einsatz durch die Assad-Regierung die rote Linie. Sie droht mit einem militärischen Angriff.
Prompt wurde zwei Tage später gemeldet, dass hunderte Menschen einem Giftgasangriff in der Region Ghouta nahe Damaskus, eine Region, die von Rebellen beherrscht wird, zum Opfer gefallen sind. Aber noch bevor die Inspekteure ihre Untersuchung begonnen haben, geschweige denn Ergebnisse vorlegen oder gar einschätzen können, wer als Täter in Frage kommt, bereiten sich die USA auf einen Militärschlag vor. Angeblich zum Schutz von Zivilisten.
Offenkundig werden wir durch die Medien auf Krieg eingestimmt. Selbstverständlich ist er völkerrechtswidrig, typisch ist die verlogene Legitimation als humanitäre Maßnahme.
Auf die besondere Aggressivität des US-amerikanischen Imperialismus werde ich gleich noch zurückkommen.
Heute geht es mir hauptsächlich um Fragen des Kampfes um Demokratie. Sie drängen in den letzten Wochen in den Vordergrund der politischen Bühne.
»Reaktion auf der ganzen Linie«, so kennzeichnet Lenin die Politik des Imperialismus (Lenin, Bd. 22, S. 302).
An anderer Stelle sagte er:
»Wie der siegreiche Sozialismus, der nicht die vollständige Demokratie verwirklicht, unmöglich ist, so kann das Proletariat, das den in jeder Hinsicht konsequenten, revolutionären Kampf um die Demokratie nicht führt, sich nicht zum Siege über die Bourgeoisie vorbereiten.«
(Die sozialistische Revolution und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, Lenin, Bd. 22, S. 145)
In den »Antworten der DKP auf die Krise« haben wir sehr treffende Formulierungen gefunden. Übrigens über die Strömungen der Partei hinweg. Es handelt sich gewissermaßen um unstrittige gemeinsame Erkenntnisse. Wir sagen:
»Die Einschränkung von politischen Grundrechten erleben Menschen schon heute ganz konkret: bei betrieblichen und gewerkschaftlichen Kämpfen, bei Streiks, bei Protesten der ›Empörten‹ bzw. Occupy-Bewegung, bei antifaschistischen Aktionen, bei Protesten wie gegen ›Stuttgart 21‹, im Wendland, bei Aktionen gegen die Schließung und Privatisierung kommunaler Einrichtungen sowie individuell – so bei der Diskriminierung am Arbeitsplatz, bei Hartz-IV-Sanktionen oder Rentenkürzungen in Ostdeutschland.«
»Mit dem Fiskalpakt soll nun in EU-Europa die reaktionäre Politik der Deregulierung, der Privatisierung, des Grundrechteabbaus beschleunigt und endgültig festgeschrieben werden.
Schon jetzt sind die Parlamente weitgehend entmachtet, nationale Souveränität wird eingeschränkt. Wenn Wahlergebnisse nicht passen, dann wird, wie seinerzeit in Irland, eben so lange abgestimmt, bis das gewünschte Ergebnis erreicht ist. Oder es werden an allen demokratischen Institutionen und den Rechten der Bürgerinnen und Bürger vorbei, an der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung in diesen Ländern vorbei – wie zeitweilig in Griechenland und in Italien – ›Expertenregierungen‹ eingesetzt.
All dies geschieht bei gleichzeitigem Ausbau von Überwachung, von Repression und bei rigorosem Abbau grundlegender politischer Bürger- und Freiheitsrechte, demokratischer und sozialer Arbeiterrechte.«
»In fast ganz Europa wachsen Protest und Widerstand, gehen Menschen gegen die Krisenpolitik der Herrschenden, für die Verteidigung sozialer und politischer Rechte, aber auch zunehmend gegen Rechtspopulisten und Faschisten auf die Straße.
Die Arbeiterklasse ist in diesen Auseinandersetzungen objektiv die entscheidende Kraft. Im Protest wie zur Veränderung der Verhältnisse: Generalstreiks der Gewerkschaften haben in Portugal, Spanien, Griechenland Hunderttausende, ja Millionen auf die Straße gebracht. Der Europäische Gewerkschaftsbund macht – mehr als früher – mobil, aber noch immer sind gemeinsame Kampfaktionen und deren Vernetzung ungenügend.«
»Bauern protestieren gegen die Diktate der großen Nahrungsmittelkonzerne. ›Empörte‹, Mitglieder der Occupy-Bewegung, der Ökologie- und Anti-AKW-Bewegung, der Gegner von Flughafenausbau und Nachtflügen zeigen ihren Protest gegen die Politik der Herrschenden bei Massendemonstrationen, Blockaden, Mahnwachen. Die Demonstrationen gegen ACTA, gegen die Vorratsdatenspeicherung zeigen, wie innerhalb kurzer Zeit – und unter Nutzung moderner Kommunikationsmittel – eine Bewegung zur Verteidigung der Demokratie, gegen den Ausbau des Sicherheitsstaates entstanden ist. Diese Bewegungen und Aktivitäten entwickeln sich relativ spontan an einzelnen Punkten, sind aber Ausdruck für die gewachsene Sensibilität für Themen des Demokratieabbaus.«
»Die DKP wirkt für die Bildung von Klassenbewusstsein in der Arbeiterklasse, trägt dazu bei in der Arbeiterklasse Einsichten in die eigene Klassenlage und in den unversöhnlichen Gegensatz von Kapital und Arbeit zu vermitteln und klassenmäßige Erkenntnisse zu vertiefen, gesellschaftliche Zusammenhänge aufzuzeigen und die Ursachen von Krieg, Krise, Sozial- und Demokratieabbau als gesellschaftlich durch den Kapitalismus bedingt darzulegen. – Erkenntnisse und Klassenbewusstsein wachsen in Auseinandersetzungen, in denen Menschen selbst Erfahrungen machen und lernen;«
»Die DKP macht darauf aufmerksam, dass die Verteidigung demokratischer Rechte gegen die Angriffe der Herrschenden eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Friedrich Engels schrieb: ›Selbst in dem äußersten Fall … wird der Arbeiterpartei nichts übrig bleiben, als die … Agitation für bürgerliche Freiheit, Pressfreiheit, Versammlungs- und Vereinsrecht … fortzuführen. Ohne diese Freiheiten kann sie selbst sich nicht frei bewegen; sie kämpft in diesem Kampf für ihr eigenes Lebenselement, für die Luft, die sie zum Atmen nötig hat.‹ (MEW, Bd. 16, S. 77)«
»Wir rufen dazu auf, politische Grundrechte zu verteidigen. Wir fordern tatsächliche Mitwirkungsrechte, mehr direkte demokratische Entscheidungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger und treten ein für das uneingeschränkte Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Aktionen des zivilen Ungehorsams, Demonstrationen, Sitzblockaden, Spontanaktionen sind wichtige Formen des demokratischen und kreativen Protests.«
Diese Absätze stammen noch aus der ersten Vorlage des LeitantragS. Sie werden aktuell durch Erkenntnisse bestätigt, die wir Edward Snowden verdanken.
EU-Ruinen und EU-Reformen
Liebe Genossinnen und Genossen, am 25. Mai 2014 wird das Europa-Parlament gewählt. Auch die Frage unseres Verhältnisses zur EU und deren Politik wird von Fragen der Demokratie beherrscht. Unser Genosse Hans Peter Brenner hat auf dem Treffen der vier Parteien im Remich/Luxemburg am 13. und 14. April den Genossen Alves von der PCP mit einer Äußerung vom November 2012 zustimmend zitiert: »Die EU kann nicht reformiert werden.«
Und weiter: »Das andere Europa, das aus dem Kampf entspringen wird, wird erbaut werden, wie die Wirklichkeit bereits zeigt – auf den Ruinen der EU.« Nun weiß ich nicht, was die beiden mit »den Ruinen der EU« meinen, ich vermute, es handelt sich um eine politische Metapher.
Dem möchte ich einige Erfahrungen gegenüberstellen.
Ihr werdet Euch erinnern, dass einer der Anträge, die wir auf der BDK am 8. Dezember 2012 gefasst hatten, den Europäischen Bürgerentscheid »Wasser ist Menschenrecht« betraf. Initiator des Bürgerentscheids war der Europäische Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst (EGÖD), Ver.di ist die ihm angeschlossene Gewerkschaft. Viele von uns hatten sich schon vorher daran beteiligt und Unterschriften gesammelt. Auf der BDK gab es eine kontroverse Diskussion darüber, weil insbesondere die Krefelder GenossInnen glaubten, dass der Kampf gegen die Privatisierung des Wassers doch besser auf örtlicher Ebene zu führen sei. Sie stimmten gegen diesen BeschlusS. Aber die große Mehrheit der BDK folgte nicht den Krefeldern, sondern dem Antrag der Kölner. Es ging um die Verhinderung einer europäischen Richtlinie, welche die Privatisierung der kommunalen Wasserversorger mittels EU-Recht erzwingen will. Tatsächlich wurde wenige Monate später nicht nur die notwendige Zahl der Unterschriften erreicht, sondern im Juni der Ausschluss des Wassersektors von der EU-Konzessionsrichtlinie zugesichert.
Die Kölnische Rundschau zitiert am 10. Juli den Lügenbold und zuständigen Kommissar Michel Barnier: »Ich habe volles Verständnis dafür, wenn Bürgerinnen und Bürger aufgebracht und besorgt sind, weil ihnen erzählt wird, dass ihre Wasserversorgung gegen ihren Willen privatisiert werden könnte. Ich selbst würde in einem solchen Fall genauso reagieren.«
Selbstverständlich war die Ursache für diesen möglicherweise nur zeitweiligen Rückzug der EU der europa-, gar weltweite Kampf gegen die Wasserprivatisierung, der sich in vielfältigen Aktionen anreicherte, nicht nur mit dieser Unterschriftensammlung. Die KR kommentierte: »Europas Wutbürger mucken auf. Ob Glühbirne, Ölkännchen oder Duschköpfe – die EU-Gesetzgebung wird nicht länger als unantastbar hingenommen.« Sie spricht dann noch von der »Schlacht um die Neuregelung des Saatgutes«.
Einige von Euch werden sich an den Versuch der EU erinnern, die Richtlinie Port Package II zum Zweck der Liberalisierung der Hafendienste durchzusetzen. Sie ist im Januar 2006 am Widerstand der Hafenarbeitergewerkschaften gescheitert. Selbstverständlich hindert das die EU nicht, immer wieder neue Versuche anzusetzen.
Im selben Jahr wurden auch der Bolkestein-Dienstleistungsrichtlinie, die den Handel mit Dienstleistungen liberalisieren sollte, durch europaweite Streiks und Demonstrationen einige schlimme Zähne gezogen.
Eine andere wirtschaftliche Entscheidung war die über Fiskalpakt und ESM. Hier gab es trotz vielfältiger Aktionen allenfalls eine Verzögerung durch das BVerfG. Gegenwärtig werden auch unter dem Schutz der Geheimhaltungsbestimmungen von ESM die entsprechenden Maßnahmen durchgeführt. Diese Geheimhaltung aber lässt erahnen, wie die EU-Kommission den Volkszorn fürchten muß. Der Volkszorn richtet sich aber bislang noch nicht gegen die EU als Ganzes, sondern gegen einzelne Maßnahmen, mit dem Ziel, sie abwenden zu können.
Was lehrt uns das? Es lohnt sich, gegen die EU in Gestalt ihrer Wirkungen zu kämpfen. In diesen Kämpfen können Erfolge errungen werden. Sie tragen dazu bei, die EU und ihre Politik zugunsten der Monopole ins Blickfeld der europäischen Arbeiterklasse zu rücken. Allenfalls auf diesem Weg hätte die metaphorische Zielstellung »Ruinen der EU« eine Chance.
Zugegeben, dieser Kampf ist noch zu wenig entwickelt, aber die Beispiele zeigen, dass Reformen erkämpft werden und dazu beitragen können, die Klasse auf revolutionäre Veränderungen zu orientieren. Ich hoffe, dass unsere Beteiligung an den EU-Wahlen, die der PV beschlossen hat, diese Effekte verstärkt. Die 3. PV-Tagung gibt dazu die Orientierung auf Abwehrkämpfe, also auf den »Kampf gegen die forcierte Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung im Rahmen der EU. Die DKP stellt hierbei den Klassencharakter der EU heraus und weist auf die Notwendigkeit hin, den Abwehrkampf hierzulande gegen die nächsten sozialen Angriffe des deutschen Monopolkapitals aufzunehmen.«
Und ich erwarte, dass wir auch noch etwas weniger allgemeine Forderungen entwickeln werden.
Weitere Wahlen
Es stehen zwei weitere Wahlen im Kalender. Am 22. September wird ein neuer Bundestag gewählt. Mittlerweile ist das der großen Zahl von Plakaten abzulesen, die uns den Horizont verstellen. Als Partei kandidieren wir in Berlin und Brandenburg in vereinzelten Wahlkreisen. Allerdings auf keiner Liste. Der PV ruft dazu auf, mit der Zweitstimme PDL zu wählen mit einem Vorbehalt – nur, solange gesichert ist, dass sie konsequent gegen Sozialabbau, Kriegspolitik, jegliche Privatisierung und für den Erhalt der demokratischen Rechte eintritt. Die Frist ist kurz, unsere Mittel begrenzt, aber wir greifen in den Wahlkampf ein. Unter anderem mit der UZ-Extra zu diesem Thema.
Interessanter wird die Kommunalwahl am 25. Mai. Dazu werden wir auf die rechtlichen Voraussetzungen in die Kreise geben, in der Erwartung, dass wir mit eigenen Kandidaturen, solchen auf Bündnislisten und auf dem Ticket der PDL unsere programmatischen Vorstellungen in die politische Diskussion einbringen können. Dazu müssten wir nach der bezirklichen Kommunalberatung vom 15. Juni in der Lage sein. Vordringlich kämpfen wir, wie auf der 3. PV-Tagung mitgeteilt, gegen den durch die Schuldenbremsen verordneten Kürzungszwang in Bund, Ländern und vor allem Kommunen, gegen Privatisierung der Öffentlichen Daseinsvorsorge, gegen Kriegspolitik, Sozialabbau und Neofaschismus, gegen die verschärfte Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung im Rahmen der EU der Banken und Konzerne sowie für internationale Solidarität.
Gemeinsamkeit und Konkurrenz
Selbstverständlich gab es auch Mehrheitsentscheidungen auf unserem Parteitag in Hannover. Statt der Formulierung der Antragskommission zu folgen, in der von der Gemeinsamkeit, aber auch von der Konkurrenz der imperialistischen Staaten die Rede ist, beschränken wir uns im Kapitel Kampf um Frieden und Abrüstung darauf, dem deutschen Imperialismus zu bescheinigen: Sein übergeordnetes Ziel sei, gegenüber der militärischen Überlegenheit des US-Imperialismus und anderer imperialistischer Konkurrenten aufzuholen, um bei den anstehenden Verteilungskämpfen um Rohstoffe, Absatzmärkte und billige Arbeitskräfte – bzw. den Zugängen zu ihnen – einen möglichst großen Anteil für das deutsche Monopolkapital zu sichern. Vor diesem Hintergrund fordern wir: keinerlei Unterstützung der imperialistischen und Welthegemonie beanspruchenden Politik der USA, den Austritt Deutschlands aus der NATO und allen EU-Militärstrukturen, sofortigen Abzug der US-Atomwaffen auf deutschem Boden und schließlich die Auflösung der NATO.
Ganz offenbar folgen wir der Linie »der Hauptfeind steht im eigenen Land« und schlussfolgern, dass vor allem der deutsche Imperialismus zu bekämpfen sei. Im Verhältnis zum US-Imperialismus reicht dann der Verzicht auf Unterstützung. So fein unterscheiden wir. Im Zukunftspapier der SDAJ vom vergangenen Jahr war von US-Imperialismus überhaupt nicht mehr die Rede.
Aber die gegenwärtige Situation lehrt uns, dass wir die Kräfteverhältnisse auf dem Globus genauer einschätzen müssen. Dazu sollten wir das schon mal wechselnde, um nicht zu sagen: dialektische Verhältnis von Gemeinsamkeit und Konkurrenz in den Blick nehmen.
Der US-Imperialismus ist immer noch der mächtigste, seine Ziele und Methoden setzen auch in der Politik der Bundesrepublik Deutschlands die Maßstäbe. Er ist sogar angesichts seiner geringer werdenden Möglichkeiten so aggressiv wie nie. Dabei müssen wir noch gar nicht von den militärischen Aktionen, von Kriegen sprechen, welche die USA nicht zuletzt von deutschem Boden und mittels deutscher Militärunterstützung führen.
Wikileaks
Am Mittwochmorgen ist Bradley Manning zu 35 Jahren verurteilt worden. Ein Terrorurteil als Strafe für die Veröffentlichung von Kriegsverbrechen der USA im Irak. Die Täter dagegen bleiben unbehelligt. Julian Assange muß in der Botschaft von Ecuador in London ausharren, um nicht wieder unter fadenscheinigen Vorwänden in Haft genommen zu werden. Auch ihn verfolgen die USA, weil der Kriegsverbrechen öffentlich gemacht hat.
Die NSA-Affäre
Edward Snowden war bis Mai technischer Mitarbeiter der US-amerikanischen Geheimdienste CIA und NSA. Er übermittelte Informationen über US-amerikanische Programme, unter anderem Prism, zur Überwachung der weltweiten Internetkommunikation sowie das britische Überwachungsprogramm Tempora an Glenn Greenwald, der sie im Guardian veröffentlichte. PRISM (zu deutsch Prisma) existiert seit 2005 und ist ein geheimes Programm zur Überwachung und Auswertung von elektronischen Medien und elektronisch gespeicherten Daten durch die US-amerikanische National Security Agency (NSA). Es beteiligen sich an der Überwachung neun der größten Internetkonzerne der USA: Microsoft, Google mit YouTube, Facebook, Yahoo, Apple, AOL und andere. Sie greifen auch auf live geführte Kommunikation zu. Firmen, die sich verweigern, müssen mit Nötigung mittels Strafrecht rechnen. Am 8. August gab die Firma Lavabit auf, sie bot bis zu diesem Zeitpunkt einen Mail-Service mit Verschlüsselung an.
Am 9. Juni stellte sich Snowden der Öffentlichkeit in Hongkong vor. Der FBI erwirkte darauf einen Haftbefehl wegen Spionage. Seit dem 1. August gewährt ihm Russland Asyl.
Mit welcher Wut der in diesem Fall überraschend einheitlich handelnde Imperialismus den vermeintlichen Verräter verfolgt, wurde am 2. Juli in Wien sichtbar. Nachdem ihm die Überfluggenehmigungen für Frankreich, Spanien, Portugal und Italien entzogen worden waren, wurde der bolivianische Präsident Evo Morales unter Missachtung aller völkerrechtlicher Regelungen in Wien zur Landung gezwungen und konnte seinen Flug erst nach 13 Stunden fortsetzen. Man verdächtigte ihn, Edward Snowden an Bord zu haben.
Am vergangenen Sonntag hielt die britische Polizei David Miranda, den Lebensgefährten von Greenwald – beide leben in Brasilien –, der auf dem Weg von Berlin nach Rio de Janeiro war, auf dem Londoner Flughafen Heathrow 9 Stunden lang fest und verhörte ihn. Als rechtliche Grundlage wird ein Anti-Terrorgesetz angegeben. Die Polizei konfiszierte Handy, Laptop und Speichermedien. Die brasilianische Regierung zeigte sich über den Vorfall »sehr besorgt«. Es sei eine »unentschuldbare« Maßnahme gegen ihren Staatsbürger ergriffen worden. Gegen ihn habe keine Anschuldigung vorgelegen, welche die Anwendung des Gesetzes gerechtfertigt hätte.
In der Dienstagsausgabe seiner Zeitung schreibt Alan Rusbridger, Chefredakteur des Guardian, von einer bizarren Aktion des britischen Geheimdienstes Ende Juli gegen sein Blatt. Agenten zwangen im Keller der renommiertesten Zeitung des Landes die Journalisten, Festplatten mit den Informationen über die Abhöraktionen der NSA zu zerstören.
Zuvor habe es Druck in Form von Telefonaten und Treffen mit Vertretern der Regierung gegeben. »Ihr habt euren Spaß gehabt, jetzt gebt das Material zurück.«
Die »Washington Post« deckte am Freitag vor einer Woche (16. August) auf, dass die NSA in den vergangenen Jahren Tausende Male gegen Datenschutzvorschriften verstoßen habe. Immer wieder hätten Agenten die Regeln zum Schutz der Privatsphäre verletzt. Quelle der Informationen war ein internes NSA-Gutachten und weitere Geheimdokumente, übermittelt von Edward Snowden. Das interne Gutachten vom Mai 2012 führte allein für die vorangegangenen zwölf Monate 2776 Vorfälle auf.
Tatsächlich ist es die US-Regierung, die gegen eigene Gesetze und das Völkerrecht handelt. Das flächendeckende Sammeln von US-Telefondaten ist gesetzlich nicht gedeckt.
Über das Ausmaß des Sammelns ausländischer Daten berichtete SPIEGEL-online am 30. Juni.
Die NSA kontrolliert und speichert systematisch einen Großteil der deutschen Telefon- und Internetverbindungsdaten. Pro Monat sind es eine halbe Milliarde Telefonate, Mails und SMS. Der NSA gilt die Bundesrepublik als Angriffsziel. An normalen Tagen werden bis zu 20 Millionen Telefonverbindungen aufgezeichnet und um die 10 Millionen Internetdatensätze. Die NSA horcht gezielt die EU-Vertretungen in Washington und New York mit Wanzen ab und hat deren Computersysteme infiltriert.
Am 21. Juli veröffentlichte die brasilianische Zeitung O Globo eine weitere Information von Edward Snowden. Sie handelt von dem System XKeyscore, mit dem die NSA noch effektiver als Prism arbeitet. Damit werden Inhalte digitaler Kommunikation nach vorgegebenen Kriterien untersucht. Es kann die Aktivität einer Zielperson in Echtzeit erfassen. Auch der BND und der Verfassungsschutz setzen XKeyscore ein.
Der Überwachungsstaat
Prof. Dr. Josef Foschepoth, Historiker an der Universität Freiburg, hat in seinem Buch »Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik«, Göttingen 2012, geheime Abmachungen und Überwachungsmechanismen dokumentiert. Sie stammen aus der Besatzungszeit, sind seit 1949 belegt, 1955 unter Adenauer und danach mehrfach erneuert worden. Die Bevölkerung wusste davon nichts, aber die Abmachungen sind bis heute gültig und werden mehr als je praktiziert.
Mit der Teilung Deutschland sortierten sich auch die Geheimdienste blockweise. Deutschland wurde in ein gegen die Sowjetunion gerichtetes, militärisch aggressives Bündnis integriert. Sicher ging es auch um die Kontrolle der Deutschen, vor allem aber darum, die Macht der UdSSR und den politischen Einfluss von Kommunisten zurückzudrängen.
Am 21. September 1949, einen Tag nach seiner Wahl zum Bundeskanzler wurde Adenauer auf den Petersberg, den Sitz der Alliierten Hohen Kommission, bestellt. Er sollte sein Kabinett vorstellen und vor allem das Besatzungsstatut entgegennehmen, welches bestimmte, dass die höchste Regierungsgewalt nach wie vor bei den Vertretern der westlichen Siegermächte lag. Sie sollten sogar, »auf Weisung ihrer Regierungen die Ausübung der vollen Gewalt ganz oder teilweise wieder […] übernehmen, wenn sie dies als wesentlich ansahen für die Sicherheit oder die Aufrechterhaltung der demokratischen Regierung in Deutschland oder als Folge der internationalen Verpflichtungen ihrer Regierungen.« (zitiert nach Foschepoth, S. 29 und 277)
Das Besatzungsstatut wurde erst mit dem Deutschlandvertrag, der am 5. Mai 1955 in Kraft trat, hinfällig. Aber auch jetzt erhielt die Bundesrepublik noch nicht die volle Souveränität. Es gab zahlreiche Vorbehalte. Zwei sind besonders hervorzuheben: erstens der Überwachungsvorbehalt, das Recht, den in- und ausländischen Post- und Fernmeldeverkehr in der Bundesrepublik zu überwachen; und zweitens den Geheimdienstvorbehalt, das Recht, die alliierten Geheimdienste mit Unterstützung des Amtes für Verfassungsschutz außerhalb des deutschen Rechts zu stellen, wenn es die geheimdienstlichen Interessen erfordern. Denn selbstverständlich behielten die USA, Großbritannien und Frankreich ihre Rechte in Bezug auf die Stationierung von Streitkräften in der Bundesrepublik. Die Folge war die Verpflichtung zu engster Zusammenarbeit. Diese betraf insbesondere »die Sammlung, den Austausch und den Schutz aller Nachrichten«. In Artikel 38 wurde zudem ein striktes Geheimhaltungsgebot vertraglich festgelegt.
Die Formel »Maßnahmen zum Schutz der Sicherheit der alliierten Streitkräfte« findet sich im Besatzungsstatut von 1949, im Deutschland- und Truppenvertrag von 1955, im Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut von 1959/1963 bis zum G-10-Gesetz und der geheimen Verwaltungsvereinbarung von 1968. Mit dieser Formel wurde die Tätigkeit der alliierten Geheimdienste gerechtfertigt und ihre Mitarbeiter und Informanten vor einer Strafverfolgung durch deutsche Behörden geschützt, vor allem aber konnten die westlichen Siegermächte einen umfangreichen Überwachungs- und Geheimdienstapparat im westlichen Teil Deutschland installieren. Derartige Vereinbarungen gelten in anderen Nato-Staaten nicht. Die alliierten Geheimdienste überwachten Drucksachen, Zeitungen, Briefe, Päckchen und Pakete, Telegramme, Fernschreiben und Telefonate. Auch die gesamte Korrespondenz der Bundesregierung und der Bundestagsabgeordneten, sämtliche Telegramme und Telefonanschlüsse wurden überwacht. Foschepoth schätzt die Zahl der kontrollierten Telefonate schon in den frühen fünfziger Jahren auf je 5 Millionen. Einige tausend Einzelpersonen und deren Schriftverkehr wurden zensiert, dazu allein waren 212 Postämter nötig.
Verfassungswidrige Zensurmaßnahmen
Die Zensur richtete sich gegen die Kommunisten sowie Druckschriften, Broschüren, Zeitungen, Briefen aus der DDR. Von 1951 bis 1972 wurden insgesamt 90 Millionen Postsendungen aus der DDR vernichtet, meist in einem Gefängnis in Hannover geschreddert. (Foschepoth, S. 117)
Fünf Broschüren wurden des Hochverrats vor dem Bundesgerichtshof angeklagt und verurteilt. Das war am 8. April 1952. Die Broschüren hatten Titel wie: »Wo stehen wir im Kampf um die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands?«, »Die deutsche Arbeiterklasse muß sich entscheiden!«, »Den Lügenfritzen eins aufs Maul!« und handelten von der Wiedervereinigung, der Wiederbewaffnung, von der Volksbefragung gegen die Remilitarisierung und vom Kampf für einen Friedensvertrag. Der Oberbundesanwalt hatte den Antrag auf Einziehung der Broschüren damit begründet, dass ihr Inhalt deutlich zeige, »dass damit der Umsturz in der Bundesrepublik vorbereitet werden soll, um sie einem Staatswesen einzugliedern, das nach den Grundsätzen von Marx, Lenin und Stalin die Diktatur des Proletariats verwirklicht.« »In der Ausdrucksweise dieser Schriften heißt ›Frieden‹ nichts anderes als Wehrlosigkeit der Bundesrepublik gegenüber den Umsturzplänen und ›Demokratie‹ bedeutet die Diktatur des Proletariats.« Die fünf Broschüren hatten versäumt, sich anwaltlich beraten und vor Gericht verteidigen zu lassen. Infolgedessen erfolgte umgehend das Urteil. Es lautete: Die fünf Broschüren seien »zur Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens gegen die Bundesrepublik Deutschland bestimmt. Sie werden daher eingezogen.« (Foschepoth, S. 66)
Kurzes Verfahren, lange schriftliche Begründung. Sie wurde unter Verschluss gehalten. 35 Seiten, alles geheim. Aber nun konnte als »allgemeinkundig« unterstellt werden, dass die SED, die KPD und die FDJ ein hochverräterisches Unternehmen gegen die Bundesrepublik vorbereiteten. Der Hinweis auf das BGH-Urteil erübrigte jede weitere Begründung. Allein 1953 kam es auf dieser Grundlage zu 1655 rechtskräftigen Urteilen gegen Kommunisten. Die Zeiten waren so. Schon am 24. April 1951 hatte Innenminister Robert Lehr die »Volksbefragung gegen die Remilitarisierung und für einen Friedensvertrag« als Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung der BRD verboten. Zwei Monate später erfolgte das Verbot der FDJ. Am 16. November 1951 kam der Antrag der Bundesregierung auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der KPD (das Verbot folgte am 17. August 1956). Die politischen Delikte, etwa Hochverrat, waren zwar 1945 von den Besatzungsmächten aus dem Strafgesetzbuch gestrichen worden, gelangten indes 1951 mit dem ersten Strafrechtsänderungsgesetz in erweiterter Form wieder rein.
Das war der Hintergrund für die verfassungswidrige und ungesetzliche Kontrolle von jährlich Millionen von Postsendungen, dem Abhören von Millionen von Telefongesprächen, Fernschreiben und Telegrammen in der Bundesrepublik Deutschland. Allerdings widersprach diese Überwachungspraxis bis 1968 dem verfassungsrechtlich, strafrechtlich und einzelgesetzlich klar und eindeutig geregelten Schutz des Post- und Fernmeldegeheimnisses (siehe Foschepoth, S. 78). Dieser Widerspruch wurde einerseits aufgehoben durch das Besatzungsrecht, das über den Grundgesetz stand, und andererseits durch die Relativierung der Grundrechte zugunsten des Staatsschutzes – oder, wie es heute Innenminister Friedrich formuliert, des Supergrundrechts Sicherheit.
Die Aufhebung des grundgesetzlichen Schutzes von Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis
Am 30. Mai 1968 wurde der Artikel 10 GG im Zuge der Notstandsgesetze mit den Stimmen von SPD und CDU verändert. Ihr erinnert Euch, dass es gegen die Notstandsgesetze seinerzeit heftige Proteste gegeben hatte, die in einer großen Demonstration und Kundgebung am 11. Mai 1968 gipfelten. Indessen ist die Änderung des Grundgesetzes kein Notstandsgesetz. Abgehört wird ständig, während Notstandsgesetze erst im Falle des erklärten Notstands wirksam werden. Aber offenbar war es nützlich und vielleicht etwas weniger auffällig, Demokratieabbau in einem Rutsch zu organisieren. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Artikel 10 GG folgenden Wortlaut: »Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich. Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden.«
Die neue Fassung ergänzte dann: »Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, dass sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und dass an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt.«
Diese Bestimmungen sehen also die Verweigerung einer Nachricht an die überwachte Person vor. Sie kann sich nicht wehren. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen, obwohl er in Artikel 19, 4 GG als Grundrecht garantiert wird. Damit ist die Gewaltenteilung ausgeschaltet, gewissermaßen ein verfassungswidriges Prinzip in die Verfassung geschrieben. Foschepoth: »Der Staat hat die Bürger und seine Grundrechte zu schützen und nicht diejenigen, die es verletzen. Er hat die Grundrechte zu gewährleisten und nicht zu gewähren.«
Das G 10-Gesetz
Das G 10-Gesetz vom 13. August 1968 beauftragt die Geheimdienste, zur Abwehr von drohenden Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand oder die Sicherheit des Bundes Briefe und Pakete zu öffnen sowie die Telekommunikation zu überwachen. Diese Abwehr schließt Maßnahmen zur Sicherheit der NATO-Truppen ein. Die Postdienste werden zur Mitarbeit verpflichtet
Der Öffentlichkeit wurde seinerzeit weisgemacht, dass mit der Änderung des Artikels 10 die Vorbehaltsrechte der Alliierten abgelöst seien. Tatsächlich aber gelten die gleichen Rechte über den Zusatzvertrag zum NATO-Truppenstatut seit 1963 völkerrechtlich verbindlich bis heute. Das G 10-Gesetz wurde mit den Alliierten Wort für Wort abgestimmt und wird es immer noch bei jeder fälligen Novellierung, wie zuletzt 2006.
Darüber hinaus gelten explizite Vereinbarungen, die erst 1968 vom Auswärtigen Amt jeweils mit den drei Westmächten ausgehandelt, der Öffentlichkeit vorenthalten wurden und immer noch geheim sind. USA und Frankreich haben die diesbezüglichen Dokumente noch nicht deklassifiziert. Deswegen zitiert Foschepoth aus der annähernd gleichlautenden Vereinbarung mit Großbritannien aus der Präambel und macht damit erstmalig öffentlich, »dass nach Artikel 3 Absatz 2 des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut vom 3. August 1959 die deutschen Behörden und die Behörden der Stationierungsstreitkräfte verpflichtet sind, in enger Zusammenarbeit die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, der Entsendestaaten und der Streitkräfte zu fördern und zu wahren, indem sie insbesondere alle Nachrichten, die für diese Zwecke von Bedeutung sind, sammeln, austauschen und schützen…« (Foschepoth, S. 299). In der Vereinbarung selbst werden dann die diesbezüglichen Einzelheiten festgelegt. Foschepoth fasst sie zusammen (S. 193): »Konkret bedeutet dies, dass sich die Westdeutschen verpflichteten, sämtliche Informationen, die aus Gründen der inneren Sicherheit anfielen, an die Amerikaner, Briten und Franzosen weiterzureichen. Ferner waren die deutschen Behörden verpflichtet, alle Informationen, die aus der allgemeinen Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs von Residenturen, Handels- und Kulturvertretungen kommunistischer Staaten und ganzer Regionen und Länder, von der DDR bis zur Sowjetunion, aber auch von Staaten wie China, Kuba und Vietnam, angefallen waren, an die Geheimdienste der drei Westmächte weiterzugeben. Darüber hinaus waren die westlichen Geheimdienste jetzt befugt, Einzelüberwachungen – soweit sie Fragen der inneren Sicherheit betrafen – über das Bundesamt für Verfassungsschutz, und allgemeine Überwachungen – soweit sie Fragen der strategischen Sicherheit betrafen – über den Bundesnachrichtendienst zu beantragen und von den jeweils zuständigen deutschen Diensten durchführen zu lassen.«
Normenkontrolle
Am 29. November 1969 reichte die Hessische Landesregierung, damals SPD, gegen das G 10-Gesetz, das Abhörgesetz, wie es häufig genannt wurde, ein Normenkontrollverfahren beim Bundesverfassungsgericht ein. Bremen schloss sich an. »Nach Ansicht der hessischen Landesregierung verstieß der Ausschluss des Rechtsweges gegen grundlegende Recht und Prinzipien der Verfassung, gegen die Würde des Menschen, das Rechtsstaatsprinzip und den Grundsatz der Gewaltenteilung. Die vorgenommenen Änderungen des Grundgesetzes verstießen gegen das Änderungsverbot von Bestimmungen, die zum Wesensbestandteil der Verfassung gehörten, und seien daher nichtig. Artikel 79 erkläre eine Änderung des Grundgesetzes für unzulässig, wenn die Artikel 1 (Menschenwürde) und Artikel 20 (Rechtsstaatsprinzip) berührt würden. Aus der Verfassungswidrigkeit der Grundgesetzänderung von Artikel 10, so der Antrag weiter, folge die Verfassungswidrigkeit der entsprechenden Bestimmung des G 10-Gesetzes.« (Foschepoth, S. 196)
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die am 15. Dezember 1970 verkündet wurde, fiel knapp aus. Fünf von den acht Verfassungsrichtern erklärten das G 10-Gesetz für verfassungsgemäß. Sie relativierten die Grundrechte und die rechtsstaatlichen Prinzipien zugunsten des Staatsschutzes. Erstmalig in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts gab es ein Minderheitsvotum. Drei Richter erkannten in der Änderung des Artikels 10 einen Verstoß gegen Artikel 79, Absatz 3 des GG.
1978 wurde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit dem G 10-Gesetz befasst. Es verstoße nach Auffassung der Kläger gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, insbesondere gegen das Recht auf Privatheit (Art. 8), das Recht auf Beschwerde (Art. 13) und das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6). Auch hier wurde die Beschwerde abgewiesen. Allerdings gingen die Straßburger Richter wohl irrtümlich davon aus, dass das G 10-Gesetz ausschließlich Einzelüberwachungen vorsehe. Sie übersahen, dass die Vorschriften auch allgemeine Überwachungen gestatteten. Derartige großflächige allgemeine Überwachungen des Post- und Fernmeldeverkehrs wurden nach einigen Abhörskandalen in der Tat erst in den achtziger Jahren in der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen. Um die ging es dann ausdrücklich bei einer zweiten Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht, mit der sich die Richter am 20. Juni 1984 befassten. Der erste Senat des BVerfG unter Roman Herzog wies auch diese Klage ab. Denn die strategische Kontrolle diene ja nicht der Ermittlung personenbezogener Daten, eine Information an die Betroffenen würde die Arbeit und die Wirksamkeit des BND gefährden.
Vielleicht ist noch die Frage interessant, warum jede Bundesregierung und die sie tragenden Kräfte bis 1968 gewartet haben, um eine bis dahin illegale Praxis durch die Änderung des Artikels 10 GG und das G-10-Gesetz zu legalisieren. Antwort: es war bequem, man konnte mit dem Verweis auf Besatzungsrecht, das über dem GG stehe, umfängliche Zensurmaßnahmen vornehmen, ohne sie vor der eigenen Bevölkerung rechtfertigen zu müssen.
Auf die Frage, ob Artikel 10 des GG überhaupt noch gelte, stellt Foschepoth fest, dass die Einschränkungen mittlerweile so zahlreich sind, dass es ein Grundrecht auf Unverletzlichkeit des Post- und Fernmeldegeheimnisses nicht mehr gibt. Er geht davon aus, dass die Vernetzung zwischen den Diensten noch enger geworden ist als zum Zeitpunkt ihrer Vereinbarung, allein wegen der erweiterten technischen und finanziellen Möglichkeiten. Allemal sei der Umfang der Überwachung größer als zu Zeiten des Kalten Krieges. Die NSA habe in der Republik völlig freie Hand.
Der PV beschloss auf der 3. PV-Tagung (29./30. Juni) angesichts der NSA-Affäre, eine Aktionsidee »Asyl für Edward Snowden« zu konzipieren. Diese Aktionsidee erscheint mir vor dem Hintergrund und angesichts der Größenordnung des weltweiten Angriffs auf demokratische Rechte zu klein dimensioniert und unzulänglich. Angesichts der Rechtslage ist sogar davon abzuraten, Edward Snowden nach Deutschland zu holen. Die Bundesregierung müsste ihn den Amerikanern übergeben.
Die Geburt des Supergrundrechts Sicherheit
Angesichts der Aufregung um die US-amerikanische Spionage gegen die Bundesrepublik und die EU flog Innenminister Friedrich Mitte Juli in die USA und sprach unter anderem mit Vizepräsident Biden. Ergebnis dieser Gespräche: die USA sagen Aufklärung zu. Beide Seiten brachten ihr Interesse an »einer weiterhin guten, vertrauensvollen und engen Zusammenarbeit« zum Ausdruck. Die Regierungen hätten unter anderem vereinbart, ein aus den 1960er Jahren stammendes Abkommen über den Einsatz der US-Geheimdienste auf deutschem Boden auszusetzen. Friedrich habe die klare Antwort bekommen, dass die USA keine Industriespionage betreiben würden. Außerdem gebe es keine Vereinbarung des US-Geheimdienstes NSA und deutscher Dienste zur Ausspähung der Bürger. Das Prism-Programm sei zwar ein Programm zur Überwachung von Kommunikationsinhalten, sagte Friedrich. »Allerdings geht es dort sehr strikt gesetzlich geregelt um Terrorismus, um Proliferation – also um Verbreitung von Massenvernichtungswaffen – und um organisierte Kriminalität.« »In der Tat«, ist man versucht zu sagen, »strikt gesetzlich geregelt und staatlich organisiert!«
Indessen, so berichtet die ZEIT am 12. Juli, machte Friedrich keine konkreten Angaben zu dem Späh-Programm und wie viele Daten der US-Geheimdienst NSA auf welchem Weg in Deutschland abschöpft. Aus seinen Äußerungen ging auch nicht hervor, ob Friedrich dazu überhaupt Informationen erhalten hat.
Am 16. Juli gab der Innenminister im Parlamentarischen Kontrollgremium (PKG) einen Bericht. Berüchtigt ist seine Behauptung: »Sicherheit ist ein Supergrundrecht«. Also ein Grundrecht mit Priorität gegenüber anderen Grundrechten. Da irrt der für die Verfassung zuständige Minister doppelt. Sicherheit ist kein Grundrecht. Jedenfalls keins, dass im GG fixiert wäre. Vielleicht meint er das in Artikel 2 genannte Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Aber es ist selbstverständlich nicht möglich, andere Grundrechte einem phantasierten Recht auf Sicherheit unterzuordnen oder ganz außer Kraft zu setzen. Überhaupt wird vergessen, dass wir es im GG-Katalog der Grundrechte mit Bestimmungen zu tun haben, die uns, die Bürgerinnen und Bürger, vor Übergriffen des Staates schützen sollen. Allenfalls hätte ein anderes Grundrecht Priorität, nämlich der Artikel 1: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt«. Artikel 10 sagt immer noch: »Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.« Artikel 13 sagt: »Die Wohnung ist unverletzlich.« In Artikel 5 heißt es: »Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.«
Es ist aber auch noch die Frage, welche und wessen Sicherheit gemeint ist. Die Geheimdienste, für die Innenminister Friedrich verantwortlich ist, machen da bekanntlich erhebliche Unterschiede. Wir erinnern uns, dass der Beteiligung an NSU-Morden verdächtige V-Leute keine Aussagegenehmigung bekommen und geschützt werden.
Innenminister Friedrich versucht die Abhör- und Ausspähmaßnehmen zu rechtfertigen und zu verharmlosen. So bekam er von der Kölnischen Rundschau am Samstag vergangener Woche (17. August) eine ganze Zeitungsseite Platz für seine Nebelkerzen. Friedrich erklärt die Vorwürfe im Zusammenhang mit der US-Spähaffäre für »völlig abwegig« und sagt »Die Behauptung, es würden millionenfach deutsche Staatsbürger ausgespäht, ist schlichtweg falsch.«
Auf die Nachfrage, ob angesichts des umfänglichen internationalen Datenverkehrs das Gesetz überhaupt noch in Deutschland durchsetzbar sei, klimpert er mit den Augenlidern und flötet: »In Deutschland gelten unsere Gesetze und die setzen wir auch durch.«
Der Innenminister schweigt über das G 10-Gesetz und täuscht mit seinen Sprüchen die Öffentlichkeit über die völkerrechtlich verbindlichen Vereinbarungen hinweg, die seit Jahrzehnten eine flächendeckende Überwachung organisieren. Friedrich glaubt sich geschützt, weil die Vereinbarungen geheim sind. Aber sie sind nicht mehr geheim genug.
Foschepoth plädiert dafür, dass Artikel 10 GG wieder in seine ursprüngliche Fassung gebracht wird. Eingriffe in ein Grundrecht dürften nicht mehr vor der Justiz verheimlicht werden. Auch das Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut müsse aufgekündigt werden. Das Parlament soll den Nachrichtendiensten Grenzen setzen und sie tatsächlich kontrollieren.
Die Frage bleibt offen, was die Geheimdienste zu welchen Zwecken wissen wollen. Schon auf dem Höhepunkt der Kommunistenverfolgungen Anfang der fünfziger Jahre stand die Frage, ob sie durch deren Aktivität und Wirksamkeit tatsächlich zu rechtfertigen seien. Denn übereinstimmend wurde vom katastrophalen Zustand der KPD in der Zeit 1950 bis 1952 berichtet.
In diesem Zusammenhang ist es auch interessant, wie Foschepoth die Überwachungspraxis der DDR-Staatssicherheit einschätzt. Ich zitiere: »Die vielleicht wichtigste Erkenntnis ist die, dass mit der Erforschung der Post- und Fernmeldeüberwachung in der Bundesrepublik die Post- und Fernmeldeüberwachung in der DDR ihre Singularität verliert. Hier wie dort wurden Postsendungen aufgebrochen, Inhalte entfernt oder vernichtet, solange wie das sozialistische System der DDR bestand. Auch Telefone wurden auf beiden Seiten überwacht, wobei Art und Ausmaß sehr stark von der wirtschaftlich-technologischen Entwicklung in beiden Staaten abhing. Insgesamt dürften die Überwachungsmaßnahmen des Westens, der Bundesrepublik, ihrer Besatzungsmächte und späteren Alliierten deutlich effizienter, effektiver und letztlich erfolgreicher gewesen sein als die der DDR und ihres Hauptverbündeten, der Sowjetunion.« (Foschepoth, S. 260)
Heute wird im Zusammenhang mit dem Schutz des Staates nur selten von Kommunisten gesprochen. Stattdessen steht der Terrorismus im Fokus. Aber auch hier scheint es nötig, die Gefahren ins Phantastische aufzublähen, um die Existenz des riesigen Überwachungsapparates zu rechtfertigen. Es wird aber erkennbar, dass im Auftrag der immer kleiner werdenden Schar von Superreichen die gesamte Bevölkerung in Schach gehalten werden soll, weil sie als Bedrohung wahrgenommen wird.
Das widersprach und widerspricht selbstverständlich der Verfassung, in der es in Artikel 20,2 heißt: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.«
Das Post, Brief- und Fernmeldegeheimnis wurde bis 1968 mit dem Argument des Supremats der Besatzungsrechte unter Bruch der Verfassung umgangen. Ab 1968 ist der Verfassungsbruch im Artikel 10 GG eingebaut.
Die Proteste gegen die elektronische Überwachung durch die NSA halten sich bisher noch in Grenzen. Am 27. Juli gab es bundesweit unter dem Motto »Stop watching us« in 30 Städten Demonstrationen. Die KR berichtete von 2000 Teilnehmern allein in Hamburg, die Veranstalter zählten 3000. Berlin ebenso. München 1000. 600 waren es in Köln. Nur wenige Genossen ließen sich sehen.
Für den 7. September wird unter dem Motto »Freiheit statt Angst« zu einer Demonstration in Berlin aufgerufen.
Wenn sich nichts ändert, hören wir womöglich bald: »Wer auf das Fernmeldegeheimnis pocht, hat was zu verbergen und ist Terrorist!« oder »Wem die Grundrechte nicht egal sind, kann nur ein Verfassungsfeind sein!«
Klaus