Partei
Die Völker Europas gegen das Europa der Banken und Konzerne
Referat auf der Sitzung des DKP-Bezirksvorstands Rheinland-Westfalen
Köln, 8. Dezember 2013. Wir dokumentieren:
Europäische Einigungsbestrebungen gibt es schon länger. Eine der Ideen dazu entstammt der Schrift von Kant »Zum ewigen Frieden« von 1795. Kant stellte sich einen Völkerbund von Staaten mit republikanischer Verfassung vor.
Nach dem ersten Weltkrieg hat Graf von Coudenhove-Kalergi europäische Einigungsideen im Paneuropäischen Manifest vom 1. Mai 1924 formuliert. Er wollte drei Gefahren vorbeugen: einem weiteren europäischen Krieg, der Eroberung Europas durch die zur Weltmacht aufsteigenden Sowjetunion und dem wirtschaftlichen Ruin Europas als amerikanischer Wirtschaftskolonie.
»Die einzige Rettung vor diesen drohenden Katastrophen ist: Paneuropa; der Zusammenschluss aller demokratischen Staaten Kontinentaleuropas zu einer internationalen Gruppe, zu einem politischen und wirtschaftlichen Zweckverband. Die Gefahr des europäischen Vernichtungskriegs kann nur gebannt werden durch einen paneuropäischen Schiedsvertrag; die Gefahr der russischen Herrschaft kann nur gebannt werden durch ein paneuropäisches Defensivbündnis; die Gefahr des wirtschaftlichen Ruins kann nur gebannt werden durch eine paneuropäische Zollunion.«
Aber auch die SPD hat schon 1925 in ihrem Heidelberger Programm die »Vereinigten Staaten von Europa« gefordert.
Winston Churchill hielt am 19. September 1946 an der Universität Zürich eine Rede, in der er von den »United States of Europe« nach dem Vorbild der »United States of America« sprach. Es ist derselbe Churchill der bereits im Mai 1945, die Operation Unthinkable, einen Geheimplan für einen Angriff auf die Sowjetunion ausarbeiten ließ. Er stellte ihn zugunsten Präsident Trumans Eindämmungspolitik zurück, bestärkte indes die USA darin, die Sowjetunion mit Atom- und Wasserstoffbomben zu bedrohen.
Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges unterstützte das American Committee for a United Europe die European Conference on Federation, die erstmals am 7. Mai 1948 unter dem Vorsitz von Winston Churchill in Den Haag tagte und an der Parlamentsmitglieder der 16 Empfängerländer des Marshallplans teilnahmen.
Das alles illustriert, wie sehr die Gegnerschaft gegen die Sowjetunion und den Sozialismus von Beginn an die folgenden Verträge prägt.
1949 wurde der Europarat in Straßburg ins Leben gerufen
Bald machte aber Großbritannien, das sich noch auf das Commonwealth glaubte stützen zu können, die politischen Perspektiven, die zunächst mit dem Europarat verbunden waren, zunichte.
1950 wurde die Montanunion gegründet
Im selben Jahr kam es zu den Bestrebungen einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, die zugunsten der 1955 gegründeten NATO aufgegeben wurden. Es folgten EWG und Euratom, die in Gestalt der Römischen Verträge zu Beginn des Jahres 1958 in Kraft traten. Mitglieder waren BRD, Frankreich, die Benelux-Staaten und Italien. Seitdem haben wir es mit der Europäischen Kommission in Brüssel zu tun und mit einem Europäischen Parlament in Straßburg, allerdings ohne die legislativen Rechte eines Parlaments oder gar solchen der Kontrolle der Exekutive.
1968 wurde daraus die Europäische Gemeinschaft (EG) und 1972 die EU
1973 kamen GB, Irland und Dänemark dazu. Im selben Jahr brach das Bretton-Woods-System mit dem Dollar als Leitwährung zusammen mit der Folge eines ersten Versuchs eines europäischen Währungsverbundes, der am 1. Januar 1979 als Europäisches Währungssystem in Kraft trat. Es sah Wechselkursschwankungen von ±2,25% vor und als Verrechnungseinheit den ECU, Vorgänger des Euro.
1981 wurde Griechenland aufgenommen,
Spanien und Portugal 1986. England konnte 1984 unter Thatcher einige Sonderbedingungen aushandeln. Die Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) sollten den Binnenmarkt bis 1992 vollenden. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder erblühte die EU, die Integration bekam neuen Schwung, Deutschland gewann an Gewicht. Am 7. Februar 1992 wurden im Vertrag von Maastricht die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), die politische Union, eine enge Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik, der Justiz- und Innenpolitik sowie eine gemeinsame Währung für den 1. Januar 1999 vereinbart. Auch die Aufgaben der Europäischen Zentralbank wurden definiert.
Der Vertrag von Maastricht konnte indes erst nach der Überwindung einiger Probleme 1993 in Kraft treten. Unter anderem lehnten ihn die Dänen in einer Volksabstimmung zunächst ab.
Österreich, Schweden und Finnland traten ihm 1995 bei, so dass er 15 Mitglieder umfasste.
Europäische Märsche gegen Erwerbslosigkeit…
Ausgehend von der französischen Arbeitslosenbewegung AC! (Assez! = genug!), die schon 1994 Märsche organisiert hatte, mobilisierten die »Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung« in vielen Ländern Europas. Im Juni 1997 kamen anlässlich des EU-Gipfels schließlich in Amsterdam 67 000 Menschen zusammen. Offenbar reichten diese Proteste nicht aus. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union erweiterten in Amsterdam die Vertragslage um eine europäische Beschäftigungspolitik, wie sie ihre Vorschläge nannten. Bei der Gelegenheit des sogenannten Beschäftigungsgipfels demonstrierte der Europäische Gewerkschaftsbund am 20. November in Luxemburg. Am 6. Juli 1998 beschloss der EU-Ministerrat mit einer, wie sie offiziell genannt wird, nicht veröffentlichungsbedürftigen Rechtsakte:
- »eine mit dem Ziel der Preisstabilität zu vereinbarende Nominallohnentwicklung« »Zugleich sollte die Reallohnentwicklung im Verhältnis zum Produktivitätszuwachs stehen und dem Erfordernis Rechnung tragen, dass die Rentabilität der Investitionen zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen erhöht werden muss.«
- »Die Sozialsysteme müssen reformiert werden, um den Anreiz zur Arbeitsaufnahme und die Gelegenheiten wie auch die Verantwortung dafür zu erhöhen sowie die Funktionsweise des Arbeitsmarkts allgemein zu verbessern. […] (es) muss auf der Leistungsseite eine sorgfältige Anpassung der Leistungsbezugskriterien und der Verpflichtungen zur Stellensuche und Ausbildungsbereitschaft vorgesehen und in manchen Fällen die Dauer der Sozialleistungsgewährung überprüft werden.«
Derartige Verabredungen auf EU-Ebene leiteten in Europa gesetzliche Maßnahmen des Sozialabbaus ein. In der Bundesrepublik stellte Bundeskanzler Schröder im März 2003 die Agenda 2010 vor. Es folgten neue Sozialgesetzbücher, Hartz IV, Niedriglohnbereiche, Leiharbeit und Werkverträge.
Schengen II
Mit Schengen II wurden im Jahr 1995 zwar Personenkontrollen an den innereuropäischen Grenzen abgeschafft – was gemeinhin mit »Freizügigkeit« verwechselt wird -, vor allem aber ein Informationssystem für die Sicherheitsbehörden der Schengen-Länder zwecks automatisierter Personen- und Sachfahndung in der EU eingeführt. Dieses Informationssystem erfasst Lichtbilder, Fingerabdrücke und wahrscheinlich auch DNA-Merkmale. Am 27. Mai 2005 wurde Schengen III alias Prümer Vertrag abgeschlossen. Das Abkommen hat die amtliche Bezeichnung »Vertrag über die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration.«
Eine europäische Katastrophe
Am 24. März 1999 begann eine europäische Katastrophe. Es ist daran zu erinnern, dass die Gründung der EU von Friedensrhetorik begleitet war. Aber an diesem Mittwoch, abends um 20.00 Uhr begann die Bombardierung Jugoslawiens. Bundeskanzler Schröders sagte:
»Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, heute Abend hat die NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Damit will das Bündnis weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern. Der jugoslawische Präsident Milosevic führt dort einen erbarmungslosen Krieg. Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.«
Fast 10 Jahre lang war unter der Führung der Bundesregierung das sozialistische Jugoslawien zerlegt worden. Jetzt sollte das Werk militärisch vollendet werden. Im Juni war die Bombardierung beendet, ein großer Teil der industriellen Wirtschaftsbasis, beispielsweise das Autowerk Zastava in Kragujevac, zerstört.
Seit dem 1. Januar 2002 verfügen wir über den Euro in der Gestalt von Bargeld.
Nach den Kopenhagener Bedingungen vom Juni 1993, darunter fällt selbstverständlich eine funktionsfähige und wettbewerbstaugliche Marktwirtschaft, akzeptierte die EU weitere Beitritte, namentlich von osteuropäischen Staaten. Es ging darum, den Einflussbereich auszudehnen und zugleich den großen westeuropäischen Konzernen exklusive Investitions- und Absatzmärkte zu erschließen. Den Kandidatenländern wurde ein umfassender neoliberaler Umbau des Wirtschaftssystems zur Bedingung für eine Aufnahme in die EU gemacht. Es ging dabei um die Privatisierung staatseigener Betriebe sowie den Abbau von Zoll und Handelsschranken. Am 1. Mai 2004 traten die Staaten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern der Europäischen Union bei. Diese Länder sind der übermächtigen westeuropäischen Konkurrenz schutzlos ausgeliefert und verarmen.
Eine Verfassung für Europa
Wenig später sollte der Vertrag über eine Verfassung für Europa die bis dahin gültigen Grundlagenverträge ablösen. Am 29. Oktober 2004 wurde er in Rom feierlich von den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet und hätte ursprünglich am 1. November 2006 in Kraft treten sollen. Aber am 29. Mai 2005 lehnten ihn die Franzosen mit einer Mehrheit von 54,7% bei einer Beteiligung von 69,3% am Referendum ab. Drei Tage später, am 1. Juni 2005 wies ihn auch die Mehrheit der Niederländer (61,6% bei einer Wahlbeteiligung von 62,8%) zurück. Bemängelt wurde die unzulängliche soziale Ausrichtung des Vertrags und der Grundsatz der »offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb«. Wirtschaftspolitik und Wirtschaftswachstum hätten den Rang von Verfassungszielen erhalten, während die Sozialpolitik kaum berücksichtigt werde. Der Vertrag blieb hinter den Grundrechtsnormen nationaler Verfassungen zurück, von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, die der Artikel 14, 2 des GG einfordert, war er weit entfernt.
Dass solche Einwände begründet waren, zeigte der Versuch der EU, zum Zweck der Liberalisierung der Hafendienste die Richtlinie Port Package II durchzusetzen.
Sie ist im Januar 2006 am Widerstand der Hafenarbeitergewerkschaften gescheitert, wie schon 2003 die Richtlinie Port Package I. Selbstverständlich hindert das die EU nicht, immer wieder neue Versuche anzusetzen.
Schon Ende 2005 konnte gegen die Bolkestein-Richtlinie mobilisiert werden. Am 15. Oktober gab es einen europaweiten Aktionstag von Attac und Gewerkschaften. Die Richtlinie sollte Dienstleistungen liberalisieren und eine Spirale von Lohn- und Sozialdumping in Gang setzen. Sie wurde angesichts der Proteste im November 2006 nur noch in abgemilderter Form beschlossen. Das Herkunftslandprinzip wurde indes nur eingeschränkt, aber nicht abgeschafft und in nationales Recht bis Ende 2009 übersetzt.
»Wasser ist Menschenrecht«
In diesem Jahr, 2013, konnte mittels des Europäischen Bürgerentscheid »Wasser ist Menschenrecht« die europäische Richtlinie verhindert werden, die die Privatisierung der kommunalen Wasserversorger mittels EU-Recht erzwingen wollte. Schon nach wenigen Monaten war die notwendige Zahl der Unterschriften erreicht und im Juni der Ausschluss des Wassersektors von der EU-Konzessionsrichtlinie zugesichert.
Seit dem 1. Dezember 2009 gelten die Regeln des Lissabonvertrags, in den die bisherigen Verträge eingefügt wurden. Im Art. 42 Abs. 3 werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, »ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern«.
Todesstrafe durch die Hintertür
Unauffällig führte er die Todesstrafe durch die Hintertür wieder ein. Mit Bezug auf die Erläuterungen der Europäischen Menschenrechtskonvention wird sie gar ausdrücklich erlaubt. (»Eine Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um […] einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen« – Amtsblatt der Europäischen Union C 303/18 DE vom 14. Dezember 2007). Bezüglich der Demokratie bleibt der Lissabonvertrag unterhalb der parlamentarischen Regeln der bundesdeutschen Landesverfassungen und des Grundgesetzes.
Die EZB ist als EU-Organ (Art. 13 EU-Vertrag) kodifiziert. Die wichtigsten Bestimmungen zu ihrer Funktionsweise finden sich in Art. 282 ff. AEU-Vertrag (= Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union); ihre Satzung ist dem Vertrag als Protokoll Nr. 4 angehängt.
- »(1) Die Europäische Zentralbank und die nationalen Zentralbanken bilden das Europäische System der Zentralbanken (ESZB). Die Europäische Zentralbank und die nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, bilden das Eurosystem und betreiben die Währungspolitik der Union.
- (2) Das ESZB wird von den Beschlussorganen der Europäischen Zentralbank geleitet. Sein vorrangiges Ziel ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Unbeschadet dieses Zieles unterstützt es die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union, um zur Verwirklichung ihrer Ziele beizutragen.«
- »Das ESZB handelt im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird, und hält sich dabei an die in Artikel 119 genannten Grundsätze.« (Art. 127 AEU)
Theoretisch ist die EZB unabhängig. Aber was heißt das? Sie erhält keine Weisungen aus der Politik. Sie wird für ihre Zwecke von den Mitgliedsländern finanziell ausgestattet und entscheidet selbst über den Einsatz ihrer Mittel. Nicht alle Zentralbanken sind in öffentlichem Eigentum, aber alle sind im genannten Sinne frei von öffentlicher Kontrolle. Umso abhängiger sind sie von privaten Banken. Die EZB wird von einem Direktorium geführt.
»Der Präsident, der Vizepräsident und die weiteren Mitglieder des Direktoriums werden vom Europäischen Rat auf Empfehlung des Rates, der hierzu das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Zentralbank anhört, aus dem Kreis der in Währungs- oder Bankfragen anerkannten und erfahrenen Persönlichkeiten mit qualifizierter Mehrheit ausgewählt und ernannt.« (Art. 283 AEU)
Praktisch bedeutet solcherart Unabhängigkeit, dass hier Bankiers (»in Währungs- und Bankfragen anerkannte und erfahrene Persönlichkeiten«) unabhängig von Weisungen durch die Politik über den Kernbereich der europäischen Wirtschaft im Interesse, wenn nicht gar im ausdrücklichen Auftrag, privater Banken und Geldinstitute entscheiden.
Irland: Ablehnung des Reformvertrags
Strittig war, ob für die weitreichenden Veränderungen der Rechtssysteme in Europa die schlichte Ratifizierung des Lissabonvertrags durch die nationalen Parlamente ausreiche. Das irische Referendum fand am 12. Juni 2008 statt und führte zu einer Ablehnung des Reformvertrags. Folglich wurde für den 2. Oktober ein zweites Referendum angesetzt, nachdem unter Begleitung des Brüsseler Büros der Bertelsmann Stiftung einige Sonderregelungen vereinbart worden waren. Das war schließlich erfolgreich. In den anderen Mitgliedstaaten stimmten jeweils die Parlamente über den Vertrag ab, wobei es aufgrund von Verfassungsklagen oder politischen Hemmnissen ebenfalls zu Verzögerungen kam.
Norwegen: zweimal abgelehnt
Am 1. Januar 2007 wurde in Slowenien der Euro eingeführt, am 1. Januar 2008 in Malta und im griechischen Teil Zyperns, am 1. Januar 2009 in der Slowakei und am 1. Januar 2011 in Estland. Seit diesem Datum sind auch Bulgarien und Rumänien Mitglieder der EU. Seit dem 1. Juli 2013 Kroatien als 28. Mitgliedsstaat. Beitrittskandidaten sind gegenwärtig Island, Mazedonien, Montenegro, Serbien, Türkei, Albanien, Bosnien und Herzegowina. Die Norwegerinnen und Norweger haben den Beitritt zweimal abgelehnt, das Beitrittsgesuch der Schweiz ruht, das von Marokko hat die EU zurückgewiesen.
»Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP)«
Hier wird schon ein anderes Problem deutlich. Offenbar kann die EU mit ihrer Politik der Erweiterung nicht in der bisherigen Form weitermachen, ohne massive Machtverschiebungen zuungunsten der EU-Großmächte zu riskieren. Infolgedessen werden andere Methoden der Ausweitung der EU-Einflusssphäre gesucht. Eine davon ist die »Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP)«. Strategisches Ziel der ENP ist es, einen »Ring stabiler, befreundeter Staaten« um die EU herum zu etablieren. Die ENP richtet sich in Osteuropa an die Ukraine, Weißrussland und Moldawien, im südlichen Kaukasus an Armenien, Aserbaidschan und Georgien und in der Mittelmeerregion an Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Israel, die Palästinensischen Autonomiegebiete, Jordanien, Libanon und Syrien. Die damalige EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner hatte schon im März 2003 das Papier »Größeres Europa« vorgelegt und formuliert:
»Mit dieser Politik etablieren wir einen Ring von Freunden entlang der Grenzen der erweiterten EU. Das ist ein geostrategisches Schlüsselprojekt für Europa. Diese Zone der Stabilität und des Wohlstandes soll von Osteuropa über den Kaukasus und den Nahen Osten quer durch den gesamten Mittelmeerraum reichen.«
Im Unterschied zu Osteuropa ist aber kein EU-Betritt vorgesehen. Es werden Abkommen mit den in Frage kommenden Ländern geschlossen. Diese Assoziationsabkommen formulieren von EU-Seite Erwartungen an die assoziierten Länder, namentlich die Umsetzung von Standards und Praktiken und die Aufgabe staatlicher Souveränität.
»Im Gegenzug zu nachgewiesenen konkreten Fortschritten bei der Verwirklichung der gemeinsamen Werte und der effektiven Umsetzung politischer, wirtschaftlicher und institutioneller Reformen, u.a. bei der Angleichung an den Besitzstand, sollten die Nachbarstaaten der EU in den Genuss einer engeren wirtschaftlichen Integration mit der EU kommen.« (Mitteilung der Kommission: Größeres Europa – Nachbarschaft, März 2003)
Assoziationsabkommen mit Syrien
In diesem Sinne hatten sich Syrien und die EU vor genau 10 Jahren, im Dezember 2003, grundsätzlich auf ein Assoziationsabkommen verständigt. Darin wird die schrittweise Liberalisierung des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs verlangt. (Zitate in diesem Absatz über Syrien und das Assoziationsabkommen stammen aus der IMI-Studie von Jürgen Wagner: »Imperialer Neoliberalismus, Syrien und die Europäische Nachbarschaftspolitik« Dezember 2012.) Innerhalb kurzer Zeit soll eine Freihandelszone ohne jegliche Schutzmaßnahmen für die jeweilig einheimische Wirtschaft etabliert und Zölle abgeschafft werden. Schließlich wird der syrischen Regierung untersagt, fünf Jahre nach Abschluss der Vereinbarung weiter staatliche Betriebe zu subventionieren. Mit diesen Bestimmungen wird die syrische Fähigkeit, die einheimische Industrie und v.a. die staatseigenen Betriebe, in denen ein Großteil der Syrer arbeiten, vor der EU-Konkurrenz zu schützen, erheblich eingeschränkt.
Trotz einiger Einwände wurde das Abkommen von Assad am Ende des Jahres 2004 unterzeichnet. Just zum fälligen Zeitpunkt der Gegenzeichnung durch die EU, am 14. Februar 2005, wurde der ehemalige libanesische Ministerpräsident Al-Hariri ermordet und Syrien beschuldigt, daran beteiligt gewesen zu sein. Die EU verweigerte nun die Ratifizierung. Das war sicherlich der Zweck dieses Attentats, wer auch immer die Täter beauftragt hatte.
Aber das Abkommen wurde praktiziert – auch ohne Ratifizierung. Ende 2008 nahmen beide Seiten die Verhandlungen wieder auf, bis sie im Februar 2011 nach dem Ausbruch der Unruhen, die in den gegenwärtigen Bürgerkrieg mündeten, von der EU wieder ausgesetzt wurden.
Die schlechte Wirtschaftslage Syriens bei Assads Amtsantritt war selbstverständlich durch den neoliberalen Umbau nebst peripherer Anbindung an die Europäische Union nicht besser geworden. Im Gegenteil. Die Maßnahmen trafen die ärmsten Bevölkerungsschichten besonders hart. Die Folgen waren und sind sozial und politisch verheerend. Das Gesundheitswesen wurde angeblich modernisiert. Ein Kernstück des Programms besteht im Versuch, die bisher kostenfreie Gesundheitsversorgung faktisch abzuschaffen:
»Ein integraler Bestandteil des Modernisierungsprogramms im Gesundheitssektor ist die Einführung von Benutzergebühren und Kosten für öffentliche Leistungen.«
Auch eine Krankenversicherung steht auf dem Plan mit voraussehbaren katastrophalen Folgen für die Qualität der Gesundheitsversorgung des ärmeren Teils der Bevölkerung.
Das »Miet- und Immobiliengesetz Nr. 6« hatte zur Folge, dass es »Vermietern erleichtert wurde, Mieter aus Häusern mit ehemals gebundener Miete zur Räumung zu zwingen.« Generell wurden durch das »Wettbewerbs- und Anti-Monopol-Gesetz« von 2008 die meisten Bedarfsgüter von der Preisbindung befreit, auch die Subventionen des Energiesektors wurden eingestellt. Die Abschaffung von Preiskontrollen führte zu einem sprunghaften Anstieg der Inflation – einschließlich steigender Mieten belief sie sich auf 17-20% zwischen 2006 und 2008 (in den 90er Jahren waren es lediglich 5% jährlich gewesen). Besonders drastisch wirkte sich die Abschaffung von Subventionen für Düngerersatzstoffe, Elektrizität, Diesel und Benzin aus.
Mit der Verabschiedung des 10. Fünfjahrplans im Mai 2006 kommt es zu einem radikalen Liberalisierungsschub. So lobte die »Deutsch-Arabische Industrie- und Handelskammer« rückblickend: »Im 10. Fünfjahresplan (2006-2010) wurde ein umfassendes Reformprogramm festgelegt, das die Einführung der sozialen Marktwirtschaft zum Ziel hat. Wichtige Erfolge – wie die Steuerreform, die Vereinheitlichung der Wechselkurse, die Zulassung privater Banken, die Errichtung einer Wertpapierbörse, die Senkung der Körperschaftssteuer von 35 auf 28% (14% für Aktiengesellschaften) und die Schaffung neuer Investitionsgesetze – wurden bereits erreicht. Neben einem stärkeren Privatisierungsfaktor im Außenhandel sind auch einige Maßnahmen zur Förderung von Importen zu erkennen, wie die zum Teil drastischen Zollsenkungen, durch die die Zölle nun weitestgehend dem geforderten Standard der EU-Assoziationsabkommen entsprechen. […] Mit der Verabschiedung der neuen Investitionsgesetze Nr. 8 und 9 Anfang 2007 wurde das Wirtschaftsliberalisierungsgesetz Nr.10 von 1991 ersetzt. Die Investitionsbedingungen wurden dadurch verbessert und vereinfacht. Nun sind zum Beispiel eine 100-prozentige ausländische Eigentümerschaft und der volle Gewinntransfer für ausländische Investitionen möglich.«
Diese Liberalisierungsmaßnahmen wurden selbstverständlich von EU-Seite als Erfolg bewertet. Als Indikator des Erfolgs gilt das vergleichsweise hohe Wirtschaftswachstum von jährlich 5% im Zeitraum 2004 bis 2010. Das allerdings lässt sich hauptsächlich auf die seinerzeit extrem hohen Ölpreise zurückführen. Die sozialen Folgen der Maßnahmen hingegen sind katastrophal. »Die Öffnung des syrischen Marktes habe höchst ‚schädliche Auswirkungen‘ auf das einheimische Handwerk, bestätigte 2011 die International Crisis Group. Dies treffe zum Beispiel auf Duma zu, einen Vorort von Damaskus, in dem zahlreiche Handwerker lebten; sie stünden auf Grund der Liberalisierung vor dem Ruin und hätten dem Regime deshalb ihre Loyalität aufgekündigt.« Offiziell lag die Arbeitslosenquote im Jahr 2009 bei 8,1%, inoffizielle Schätzungen gingen allerdings von 24,4% aus.
Derartige Umstände enthüllen einige Hintergründe der Konflikte in Syrien. Die Türkei, die USA, Saudi-Arabien und Katar mühten sich, sie zu militarisieren und nach Möglichkeit bis zum Regimewechsel zu eskalieren.
Die EU war und ist nicht vordringlich an einem solchen Regimewechsel interessiert, auch nicht Russland und China. Insofern hatten die weltweiten Friedenskräfte eine Chance.
Innenpolitischer Streit in der Ukraine
Für die Ukraine lässt sich allerdings noch nicht das Ende der Auseinandersetzungen voraussagen. Zunächst haben die Ukraine und die EU am 9. September 2008 in Paris eine Vereinbarung für ein Assoziationsabkommen getroffen. Seitdem ist es nicht mehr aus dem innenpolitischen Streit in der Ukraine herausgekommen. Der Streit macht sich an kulturellen, ökonomischen und politischen Gegensätzen fest, deren Wurzeln weit ins vergangene Jahrhundert reichen. Bekanntlich wurde die Westukraine 1918 zum östlichen Teil des wiedererstandenen Polens, das zweihundert Jahre nicht existiert hatte, und kam in der Folge des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes 1939 wieder zur UdSSR. Der östliche und südliche Teil der Ukraine ist aus historischen, kulturellen und sprachlichen, vor allem aber wirtschaftlichen Gründen mehr mit Russland verbunden. Das ist der Hintergrund für den Konflikt, den wir gegenwärtig in der Ukraine wahrnehmen und in dem die EU, namentlich in Gestalt der Bundesregierung nach Kräften Einfluss nimmt.
Die ukrainische Regierung beschloss am 21. November 2013 das »Einfrieren« des Abkommens mit der EU. Laut einem Dekret wurde die »Suspendierung des Vorbereitungsprozesses« angeordnet, um die »nationalen Sicherheitsinteressen zu wahren und die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland zu beleben und den inneren Markt auf Beziehungen auf gleicher Augenhöhe mit der EU vorzubereiten«. Die Gegner der Regierung wedeln mit EU-Fahnen und verkennen die Austeritätsfolgen der Politik, die ihnen von der EU angeboten wird. Es ist beschämend, wie unverhohlen Westerwelle Drohkulissen aufbaut und wirtschaftlichen Druck ausübt. Laut FAZ sagte er am Donnerstag beim Treffen der Außenminister der OSZE in Kiew, »das Aufbauen von Drohkulissen und das Ausüben wirtschaftlichen Drucks« auf die Ukraine seien »schlicht inakzeptabel«. Und zeigte mit dem Finger auf Russland.
Liebe Genossinnen und Genossen,
man kann nicht über die EU reden, ohne das gegenwärtige Krisenmanagement zu bewerten. Was kennzeichnet die Ausformung der Krise in der EU? Vor dem Hintergrund der Überproduktionskrise nutzen einige Banken und Konzerne den rechtlichen Rahmen der EU, um sich ökonomisch gegen die innere wie gegen die globale Konkurrenz durchzusetzen. Die Einheitswährung Euro hatte den exportierenden Konzernen Planungssicherheit gegeben, aber den Handelspartnern die zuvor bestehende Möglichkeit, Ungleichgewichte durch Abwertungen auszugleichen, genommen. Unausgeglichene Handelsbilanzen wurden mit Krediten abgefedert, solange die Banken damit nicht überfordert waren. Staatliche Mittel gleichen private Risiken aus. Ihr werdet Euch erinnern, wie am 10. Mai 2010 angesichts der Lage in Griechenland der EZB-Rat den Kauf von Staatsanleihen überschuldeter Euro-Länder beschlossen hatte. Damit hatte die EZB mit dem Argument, es gelte die Gemeinschaftswährung zu erhalten, erstmals in ihrer Geschichte praktisch die Gelddruckmaschine angeworfen.
Das ist indes durch den Artikel 123 AEU ausdrücklich ausgeschlossen:
»(1) Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten bei der Europäischen Zentralbank oder den Zentralbanken der Mitgliedstaaten […] für Organe, Einrichtungen oder sonstige Stellen der Union, Zentralregierungen, regionale oder lokale Gebietskörperschaften oder andere öffentlich-rechtliche Körperschaften, sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentliche Unternehmen der Mitgliedstaaten sind ebenso verboten wie der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln von diesen durch die Europäische Zentralbank oder die nationalen Zentralbanken.«
In der Folge kaufte die EZB für mehr als 200 Milliarden Euro Papiere von Griechenland, Irland und Portugal. Ein Jahr später, im August 2011 werden auch Spanien und Italien bedient. Mario Draghi, seit 1. November 2011 EZB-Präsident, kündigt im August 2012 angesichts der eskalierenden Krise ein neues Anleihen-Kaufprogramm an. Er nennt es Outright Monetary Transactions (OMT). Diese Transaktionen sind an Bedingungen geknüpft. Ein Land, das in den Genuss der Hilfe durch die Notenpresse kommen möchte, muss unter den permanenten Euro-Rettungsschirm ESM schlüpfen. Im Gegenzug erklärt sich die EZB bereit, theoretisch unbegrenzt Staatsanleihen zu kaufen.
Welche Aufgaben hat der ESM?
Der Ministerrat trifft nach Artikel 136 AEU Maßnahmen, um die Haushaltsdisziplin der Mitgliedsstaaten und ihre Wirtschaftspolitik zu überwachen. Der Artikel wurde um den folgenden Absatz erweitert.
»Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.«
Der ESM ist mit einem Etat von 700 Milliarden Euro ausgestattet und soll die Zahlungsunfähigkeit von Mitgliedstaaten verhindern. Sie müssen dabei wirtschaftspolitische Auflagen erfüllen. Artikel 34 des ESM-Vertrags bestimmt:
»Die Mitglieder und früheren Mitglieder des Gouverneursrats und des Direktoriums sowie alle anderen Personen, die für den ESM oder in Zusammenhang damit tätig sind oder tätig waren, geben keine der beruflichen Schweigepflicht unterliegenden Informationen weiter.«
Artikel 35:
»Im Interesse des ESM genießen der Vorsitzende des Gouverneursrats, die Mitglieder des Gouverneursrats, die stellvertretenden Mitglieder des Gouverneursrats, die Mitglieder des Direktoriums, die stellvertretenden Mitglieder des Direktoriums sowie der Geschäftsführende Direktor und die anderen Bediensteten des ESM Immunität von der Gerichtsbarkeit hinsichtlich ihrer in amtlicher Eigenschaft vorgenommenen Handlungen und Unverletzlichkeit hinsichtlich ihrer amtlichen Schriftstücke und Unterlagen.«
Die Funktionäre des ESM verschieben folglich ihre Milliardensummen geheim, ohne sich je dafür gerichtlich verantworten zu müssen. Die kapitalistische Willkür ist kaum treffender auf den Begriff zu bringen.
Fiskalpakt
Die oben genannten strengen Auflagen wurden im Fiskalpakt normiert. Der Fiskalpakt bezieht sich auf den »Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion« (SKS-Vertrag), ist in Brüssel am 2. März vergangenen Jahres vereinbart und qua Gesetz am 29. Juni 2012 von Bundestag und Bundesrat verabschiedet worden. ESM wie Fiskalpakt sind durch das Bundesverfassungsgericht am 13. September 2012 abgesegnet. Seit dem 27. September 2012 ist der ESM, seit 1. Januar der Fiskalpakt in Kraft. Er verpflichtet die Vertragsparteien zu einem ausgeglichenen Haushalt im Sinne der Maastrichtkriterien. Bei einem Schuldenstand von über 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts müssen Schulden, die diesen Wert übersteigen, pro Jahr um ein Zwanzigstel verringert werden. Es wird ein Korrekturmechanismus vorgesehen, der bei Säumnissen automatisch ausgelöst wird.
Brutale Austeritätsprogramme sorgen gegenwärtig schon für große Armut in Griechenland, Spanien und Portugal, für eine Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent in diesen Ländern, für die Zerlegung des Gesundheitswesens, des Bildungswesens, der gesamten Infrastruktur. In diesen Ländern wird geprobt, was uns blüht, wenn die Schuldenbremsen angezogen werden.
Die 470 000 Mitglieder der SPD sind jetzt aufgerufen, dem Koalitionsvertrag zuzustimmen. Zum Thema Finanzen heißt es dort ganz offen und brutal:
»Die gesamtstaatlichen Verpflichtungen aus dem Europäischen Fiskalpakt sind einzuhalten. Die Stabilitätskriterien für Defizit- und Schuldenquote nach dem verschärften europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt sind einzuhalten. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt verlangt eine konsequente Rückführung der gesamtstaatlichen Schuldenstandsquote auf unter 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Wir wollen die Quote innerhalb von zehn Jahren von 81 Prozent (Ende 2012) auf weniger als 60 Prozent zurückführen. Bis Ende 2017 streben wir eine Absenkung der Quote auf unter 70 Prozent des BIP an.«
Demgegenüber stehen alle sozialen Zugeständnisse im Vertrag unter finanziellem Vorbehalt.
Wenn es uns gelingt, statt der Umsetzung der Schuldenbremsen den Schuldenschnitt zu Lasten der privaten Banken populär zu machen, wäre das schon ein Schritt auf dem Weg zu einer Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt in Europa.
Liebe Genossinnen und Genossen,
Frontex ist seit dem 26. Oktober 2004 die für den Schutz der EU-Außengrenzen zuständige Behörde. Der Schengener Grenzkodex vom 15. März 2006 sieht vor, dass keine Grenzkontrollen in Bezug auf Personen stattfinden, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union überschreiten, und legt Regeln fest für die Grenzkontrollen in Bezug auf Personen, die die Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union überschreiten.
Nach Angaben von Pro Asyl sind in den 20 Jahren bis 2008 ca. 8100 Menschen an den EU-Außengrenzen ums Leben gekommen, allein 2007 etwa 2000. Es gibt fünfstellige Schätzungen bis heute. Selbstverständlich ist es rechtswidrig, Flüchtlinge der hohen See zu überlassen, sie in Drittstaaten abzudrängen oder zurückzuführen. So hat es 2012 auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden. Aber genau das tut Frontex, das tut Eurosur, das ist ihr ausdrücklicher Zweck.
Ich hatte schon in meinen Referat auf der außerordentlichen BDK gesagt, dass die Flüchtlinge letztlich dem Hunger entfliehen. Der indes wird bewusst organisiert. Am Donnerstag (5.12.13) las ich in der FAZ über die WTO-Konferenz in Bali:
»Der Konflikt zwischen Indien und den Industrieländern über Lebensmittelhilfen hat sich in den Beratungen der 159 Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation (WTO) auf der indonesischen Insel Bali zu einem offenen Streit ausgeweitet. Im Kern geht es darum, ob Indien und eine Gruppe von 46 Entwicklungsländern staatlich aufgekauftes Getreide stark verbilligt an die Armen in ihren Ländern abgeben dürfen. Die Gegner unter Führung der Vereinigten Staaten sehen eine unbefristete Ausnahmeregelung als eine Subvention, welche die Regeln der WTO sprenge.«
Für die EU war deren Handelskommissar Karl de Gucht in Bali und fürchtete um den Erfolg der Konferenz. Er sagte:
»Die Sturmwolken eines Scheiterns hängen direkt über uns.«
In Deutschland äußerte sich der Bundesverband der Deutschen Industrie besorgt.
»Auch die letzten Blockierer sollten das Gesamtinteresse ihrer Länder im Auge behalten und sich einen Ruck geben«, forderte für die Verbandsspitze deren Mitglied Stefan Mair. »Die Vorschläge für die Ministerkonferenz, das sogenannte Bali-Paket, umfassen neben dem Abbau von Agrarsubventionen noch die Vereinfachung von Zollformalitäten sowie erleichterte Exportmöglichkeiten…«
und dann setzt die FAZ fort: »für besonders arme Entwicklungsländer« – oh, ja, darum machen sich BDI und EU Sorgen!? FAZ:
»Der Widerstand gegen Indien rührt auch aus der Befürchtung, dass andere Länder aus dem Subkontinent heraus mit billigen Lebensmitteln überschwemmt werden könnten.«
Mit billigen Lebensmitteln überschwemmt! Nicht immer ist diese Zeitung so deutlich. Auf den Wirtschaftsseiten kann sie es schon mal sein.
Alternativen
Nun zu den Alternativen, für die die DKP steht, bzw. in Bewegung kommen soll. Der vom Parteivorstand vorgelegte Entwurf eines Wahlprogramms spricht viele Probleme an, vermeidet indes die Orientierung auf außerparlamentarische Aktionen und Bewegungen. Haben wir es denn nur mit Opfern zu tun? Wollen wir unsere Gegenüber nicht als politische Subjekte ansprechen, die ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen können? Das Wahlprogramm beschränkt sich auf die Aufforderung, sich mit einem bescheidenen Nein gegen diese EU zu begnügen und das Kreuz bei der DKP hinzumalen. Und dann?
So geht es meines Erachtens nicht. Möglicherweise genügt dieser Entwurf dem folgenden Satz aus dem Parteiprogramm:
»Der imperialistische Charakter der EU-Konstruktion macht jedoch die Erwartung illusorisch, diese Europäische Union könne ohne einen grundlegenden Umbruch in ihren gesellschaftlichen Verhältnissen zu einem demokratischen, zivilen und solidarischen Gegenpol zum US-Imperialismus werden.«
Aber das Parteiprogramm erinnert auch daran, dass
»die weitere Entwicklung der Europäischen Union davon abhängen (wird), inwieweit es der gewerkschaftlichen und politischen Arbeiterbewegung, der globalisierungskritischen Bewegung, den demokratischen Kräften gelingt, im gemeinsamen Handeln die Beherrschung der EU-Institutionen durch das Monopolkapital einzuschränken, diese Institutionen zu demokratisieren und selbst Einfluss auf deren Entscheidungen zu gewinnen.«
Diese strategische Orientierung hat bei der Entscheidung über unsere Beteiligung an den EU-Wahlen offenkundig kaum eine Rolle gespielt.
Demokratische und soziale Bewegungen in Europa
Aber im Wahlprogramm wären meines Erachtens dazu einige Hinweise fällig. Geeignet wären Forderungen, die an vorhandene demokratische und soziale Bewegungen in Europa anknüpfen.
- Das ist die Jugendbewegung gegen Bildungsabbau, gegen Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung.
- Das ist die Bewegung für bezahlbares Wohnen.
- Das ist die Bewegung für die demokratischen und sozialen Menschenrechte.
- Das ist die Friedensbewegung gegen die Kriegsgefahren im Nahen Osten und überall sonst auf der Welt.
- Das ist die demokratische Bewegung gegen die marktkonforme Demokratie, gegen die Herrschaft der Banken und Konzerne.
- Das ist die soziale Bewegung für eine Umverteilung von oben nach unten.
- Das ist die ökologische Bewegung gegen genmanipulierte Nahrung, gegen die Verschmutzung der Luft, gegen Atomenergie.
- Das ist die Gewerkschaftsbewegung in Europa, die sich schon jahrelang gegen Sozialdumping, gegen Liberalisierung und Privatisierung kämpft und dabei Erfolge erringt.
- Das ist die Bewegung gegen den Lissabonvertrag selbst, gegen die Brüsseler Diktatur der Banken und Konzerne.
- Das ist die demokratische Bewegung gegen elektronische Überwachung, gegen Faschismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Flüchtlingselend.
- Das ist die Solidaritätsbewegung mit dem sozialistischen Kuba, mit dem bolivarischen Venezuela und anderen Völkern der Welt, die gegen den Imperialismus kämpfen.
- Das ist die internationalistische Bewegung für Solidarität mit dem Volk von Griechenland, Portugal, anderen Ländern des Südeuropas, den demokratischen Bewegungen und Parteien dort, mit den kommunistischen und Arbeiterparteien, die nächstliegende Forderungen mit dem sozialistischen Ziel verbinden.
Klaus Stein
Vorsitzender des DKP-Bezirks Rheinland-Westfalen
Europa-Mythos
Göttervater Zeus sieht an einem Levante-Gestade die Königstochter Europa. Er verliebt sich und lockt sie in Gestalt eines Stiers durch liebenswürdige Zahmheit an, lässt sich streicheln, frisst Blumen aus ihrer Hand, bringt sie dazu, auf seinen Rücken zu steigen und – hopp, hopp ist er auch schon im Meer mit ihr, Kurs Kreta. Hier verwandelt er sich zurück. Das Paar bekommt drei Kinder. Nachzulesen bei Ovid.