Köln

Komplizenschaft und Staatsräson

Zum Weltkindertag der Palästina-Koordination in Köln. Eine Nachbetrachtung.


Foto: DKP Köln Innenstadt

Wie stellt man die Würde von Toten heraus?

Unzählige Trauerrituale geben davon seit Jahrtausenden beredt Auskunft.

Aber die ermordeten Kinder von Gaza können hier in Köln nicht aufgebahrt werden, ihre toten Körper sind weit weg und Köln wäre bei mittlerweile mehr als 17.000 toten Kindern mit immer neuen frischen Leichen bedeckt. Und auch der enge Meinungskorridor hier in der BRD lässt die Veröffentlichung von Photos, Berichten, Videosequenzen über das Grauen des Sterbens, der Verzweiflung, des ausweglosen Leidens nicht zu. Die von der israelischen Armee ermordeten Kinder blitzen nur manchmal, und dann als nackte Zahl hier in unseren Medien auf.

Die Palästina-Koordination Köln entschied sich deshalb anlässlich des Weltkindertages 2024 dafür, mehrere hundert Kinderschuhe auf dem Bahnhofsvorplatz in Köln zu platzieren. Als ich am 21. September kurz vor 15:00 Uhr dort ankam, waren die Schuhe schon nahezu alle aufgestellt; ein Mädchen war noch dabei, die Schuhe zu ordnen, ich gab ihr die von mir von Kleidungssammelstellen erhaltenen 16 paar Schuhe, die sie auch gleich mit mir zusammen aufstellte. Leute aus dem Umfeld der Palästinensischen Gemeinde Köln legten dann noch vor die Schuhe einige Bilder der ermordeten Kinder. Nach und nach kamen dann immer mehr Teilnehmer zu der Trauerveranstaltung.
Die niedlichen Kinderschuhe schafften es dann, die Abwesenden anwesend, Abwesenheit sichtbar, spürbar zu machen. Und in dieser Spannung entstand die tiefe Wahrnehmung von Trauer und Würde auf dem Platz. Aber das nicht allein. Der Blick in die Gesichter der ermordeten Kinder auf den Photos und auf die Darstellung der verwaisten Kinderschuhe erzeugte unmittelbar ein völliges Befremden über unsere politische und menschliche Wirklichkeit und Anflüge von dem, was Fachleute wohl am ehesten mit dem Begriff der Dissoziation (1) beschrei- ben würden, nämlich als eine Art von Wirklichkeitszerfall. Man will, man muss darauf schauen, wie auch auf die Filme über die Kinder in Gaza im Netz, aber man kann es nicht, es ist nicht ertragbar mit einer menschlichen Konstitution. Unsere Wirklichkeit hier in Deutschland: Kinder, die fröhlich auf Spielplätzen spielen oder morgens mit ihren Ranzen händchenhaltend auf dem Weg zur Schule sind. Diese geborgene Vertrautheit zerfällt angesichts des Grauens in Gaza.

Es geht z.B. um Kinder wie die 6-jährige Hind Rajab, die am 29. Januar 2024 infolge des Kugelhagels der IDF (= israelische Armee) starb. Ihr Sterben wurde sehr gut recherchiert und dokumentiert, etwa von Forensic Architecture. Die Zeitschrift Jacobin ist nahezu das einzige Printmedium hier in der BRD, das bei begrenzter Reichweite für eine kritische Gegenöffentlichkeit den Fall ausbreitete. Jan Altaner auf Jacobin schreibt:

„Am 29. Januar versuchte Hinds Onkel Bashar Hamada mit seiner Frau, seinen vier Kindern und Hind in einem Kia Picanto aus Gaza City in vermeintlich sichere Gebiete zu fliehen. Bereits kurz nach Beginn der Flucht wurden fünf der Autoinsassen durch massiven Beschuss getötet. Neben Hind überlebte nur ihre fünfzehnjährige Cousine Layan Hamada, die hilfesuchend den Palästinensischen Roten Halbmond (PRCS) anrief. Panisch beschrieb Layan einen sich nähernden Panzer; schnell gefeuerte Salven, ein gellender Schrei und eine plötzliche Stille waren das letzte, was die PCRS-Mitarbeiter hörten, bevor auch Layan getötet wurde.

Die sechsjährige Hind blieb allein und verwundet, umgeben von ihren getöteten Verwandten zurück im Auto. Mehr als drei Stunden war sie in Kontakt mit Mitarbeitern des Roten Halbmonds. In einer vom PRCS veröffentlichten Aufzeichnung des Gesprächs fleht Hind eine Mitarbeiterin an:

Ich habe solche Angst, bitte komm. Komm und hol(t) mich. Bitte, kommst du? (2)

Das PRCS verhandelte dann mit der IDF (=israelische Armee) die Versendung eines Krankenwagens in das Gebiet in Nord-Gaza. Und obwohl die Route des Krankenwagens abgesprochen war, wurde der Wagen beschossen und beide Sanitäter ermordet. Als das Gebiet von der IDF geräumt war, fand man schließlich die Leichen von Hind, ihren Verwandten und den beiden Sanitätern.
Nach einer Untersuchung des Euro-Mediterranean Human Rights Monitor wurden Hind und ihre Verwandten von der israelischen Armee bei einer "geplanten Exekution" getötet; mit einer in den USA hergestellten Rakete.
Es waren nicht nur Forensic Architecture, Euromed Monitor, sondern auch Washington Post, OSINT, Earshot, Al Jazeera, die hier investigativ tätig waren und das Kriegsverbrechen dokumentierten. (3)

Hinds Schicksal steht stellvertretend für die Verbrechen an mehr als 17.000 durch die IDF ermordete Kinder in Gaza. Kinder sterben in Palästina durch Bomben, Granaten und durch Schüsse des israelischen Militärs. Es sind häufig, so muss man es dann bezeichnen, als sog. Kollateralschäden geplante Exekutionen, die bekanntermaßen in diesem Krieg jede bekannte Relation sprengen (4). Das Schicksal Hind´s zeigt aber auch, dass Kinder ganz zielgerichtet getötet werden können: „Der Schütze im Panzer hätte die Autoinsassen angesichts der unmittelbaren Nähe als Zivilisten und Kinder erkennen können“, schreibt Jan Altener (2). Die Kinder aus Gaza werden aber auch dann weiter sterben, wenn der Krieg einmal beendet sein wird, weil Gaza keine Lebensgrundlage mehr hat. (5) Für das israelische Militär sind sie Feinde in Windeln. (6)

Daniel Bax zeichnet die Informationsverhinderung, die Einseitigkeit und die Hörigkeit gegenüber dem israelischen Militär, mithin den engen Meinungskorridor in den Blättern für deutsche und internationale Politik nach, wenn es in den Medien der BRD um Palästina geht:

„In Deutschland ist die Geschichte von Hind Rajab kaum bekannt, nur wenige Medien haben ausführlich darüber berichtet. Das ist symptomatisch. Viele Journalistinnen und Journalisten hierzulande scheinen sich als Hüter der Staatsräson zu verstehen. Sie empören sich eher über Uni-Proteste in den USA und in Deutschland oder über ein fragwürdiges „Like“ einer Uni-Präsidentin auf X als über den Krieg in Gaza. Statt ihre Leserinnen und Leser darüber zu informieren, was dort passiert, scheinen viele das Bedürfnis zu haben, Israel vor scheinbar ungerechtfertigten Anschuldigungen in Schutz zu nehmen und zu verteidigen.“ (7)

Wer es glaubt, auszuhalten, kann sich im Netz aufgezeichnete ausgesuchte Telefonate des Palästinensischen Roten Halbmondes mit Hind Rajab, verletzt im zerschossenen Kia Picanto anhören. Wer es glaubt, auszuhalten, der kann sich die Videosequenz über die verzweifelt traumatisierte Mutter von Hind Rajab in Netz anschauen. Und wer es aushält, kann sich auch weitere Videobeiträge über das Grauen der Kinder anschauen. Sie wurden zahlreich hochgeladen.

Zurück zur Kundgebung der Palästina-Koordination auf dem Bahnhofsvorplatz.

Trauer und das Gedenken waren die Konstanten in der Wahrnehmung auf dem Platz an diesem Samstag, den 21. September. Der Weltkindertag, in vielen deutschen Städten für bio-deutsche Kinder mit einem Fest fröhlich begangen, wurde für die Palästina-Koordination in Köln zu einer Gedenkveranstaltung.
Eine junge palästinensisch-deutsche Frau berichtete, dass ~1 Million Kinder in Gaza im Moment auf der Flucht seien. Nicht jede Familie habe ein Zelt; es gäbe kein frisches Wasser. Kleinen Mädchen seien die Haare abrasiert worden, weil es nicht genug Wasser gibt für die Pflege. Kaum etwas käme über die Grenzen herein. Kein Kind in diesem Jahr eingeschult worden sei. Ob wir uns vorstellen könnten, was das für Kinder bedeute? Die Einschulung sei eine wichtige Markierung in der Kindheit, man erhalte eine Schultüte mit Süßigkeiten; die Kinder würden sich auf den Einschulungstag freuen – ob wir uns noch an unseren Einschulungstag erinnern könnten? Für 13.000 palästinensische Kinder gäbe es diesen Tag in diesem Jahr nicht.
Die noch überlebenden Ärzte in Gaza würden ein Akronym anwenden, das WCNSF. Das meine: Verletztes Kind Ohne Überlebende Familie. Über 20.000 Kinder seien verwundet und hätten kein weiteres überlebendes Familienmitglied, welches sich um sie kümmern kann. Darunter Kinder mit Teilamputationen oder mit Verbrennungen. Sie seien allein. Und es würden immer mehr.

Zwischen den Redebeiträgen auf dem Bahnhofsvorplatz wurden immer wieder ~30 Namen von ermordeten Kinder vorgelesen; Reden wechselten sich auch mit Beiträgen von Musikern ab, die Stücke mit Palästinabezug vortrugen. Der Arzt Dr. Uwe Trieschmann von der IPPNW Regional- gruppe Köln (8) moderierte dabei einfühlsam durch die gesamte Kundgebung, stellte die Redner:innen und die Musiker vor und gab ihnen auch nach ihren Beiträgen die Wertschätzung, die sie für ihr Engagement verdienen.

Ein deutsch-palästinensischer Arzt der Organisation Partout e.V., einem Verein zur Förderung der Medizin in Palästina, hob hervor, dass fast alle Krankenhäuser in Gaza nicht mehr im Betrieb seien; verbliebene könnten nur teilweise arbeiten. Medizinisches Personal sei getötet oder gefangen genommen worden.

Ein Vertreter einer palästinasolidarischen Gruppe wies darauf hin, dass eine Reihe von Firmen ihr Engagement in Israel einstellen würden. So habe Puma angekündigt, sein Sponsoring des israelischen Fußballverban- des Ende dieses Jahres einzustellen. Der Versicherungskonzern Axa ziehe alle Investitionen aus israelischen Banken und Firmen zurück. Wir alle sollten z.B. McDonalds, Pizzahut, Burgerking, Starbucks meiden, denn diese Restaurants unterstützten die israelische Armee mit großzügigen Sachspenden.

In einem weiteren Redebeitrag äußerte ein deutsch-palästinensischer Arzt der palästinensischen Ärztevertretung Palmed (9), dass es unmöglich sei, über die getöteten Kinder in Gaza zu sprechen, ohne über die Blockade zu sprechen, die Verweigerung von Wasser, Nahrung, medizinischer Versorgung.

Dr. Uwe Trieschmann sprach darüber, dass Kindern in Gaza ohne Narkose Arme oder Beine amputiert werden müssten, dass sei für uns doch unvorstellbar. Die Bundesregierung habe die Behandlung verletzter Kinder aus Gaza verunmöglicht, weil sie es nicht zugelassen hat, dass die Kinder mit einem Elternteil bzw. einer Begleitperson zusammen kommen könnten. Alles sei schon vorbereitet gewesen. (10)

Unter den Besucher:innen dieser Gedenkveranstaltung konnte man immer wieder Gespräche untereinander, Austausch, abgelöst durch gebanntes Zuhören, Aufmerksamkeit und Beifall für die Reden beobachten. Die Musiker nahmen alle Anwesenden mit ihren Anmoderationen mit, indem sie über die Geschichte und Absicht hinter den einzelnen Stücken sprachen. Kinder hielt es nicht immer auf ihren Plätzen, dann liefen sie schon mal umher; andere freuten sich, wenn sie Bekannte wieder sahen; neue Kontakte wurden geknüpft, an diesem sehr warmen Spätsommernachmittag in Köln auf dem Bahnhofsvorplatz.

Ein Redner aus dem Was-tun?!-Unterstützerkreis in Köln war auch auf dem Platz; viele weitere Organisationen unterstützten den Kundgebungsaufruf, wie dem Flyer zu entnehmen war. So z.B. die DFG/VK Köln, das Kölner Friedensforum, die Kolleg:innen von Mera25 oder der Städtepartnerschaftsverein Köln-Bethlehem und viele weitere (11).

Es wurden auch politische Forderungen gestellt.


Foto: DKP Köln Innenstadt

Dr. Khaled Hamad z.B., Mitglied in der palästinensischen Gemeinde Köln, äußerte sich über die für die Palästinenser:innen unverrückbaren Gewissheiten und Forderungen:

  1. Die Palästinenser leben seit Jahrtausenden in Palästina
  2. Alle palästinensischen Flüchtlinge haben ein Recht auf Rückkehr, wie es durch die UNO-Resolution gewährleistet ist.
  3. Die Besatzung muss beendet werden, wie es UNO-Resolutionen und der Internationale Gerichtshof fordert.
  4. Nicht nur die 120 israelischen Gefangenen in Gaza, sondern auch die 15.000 palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen müssen frei kommen.
  5. Die Bundesregierung muss diese Tatsachen anerkennen und die Unterstützung der Besatzung mit Waffen und Geld beenden.
  6. Der Staat Palästina muss anerkannt werden.
  7. Es wird weiter demonstriert, bis der Vernichtungskrieg in Gaza aufhört.

Um den Völkermord in Gaza zu beenden, braucht es dabei umfassende zivilgesellschaftliche Koalitionen in den westlichen Ländern. Der Staat kann und will es nicht, er ist Komplize beim Genozid. (11) Innerstaatlich muss das mit der Repression gegenüber der Palästina-Solidarität und einem engen Meinungskorridor abgesichert werden.

Es braucht dagegen eine Koalition von Friedensbewegten, Christen, Juden und Muslimen, bürgerlichen Demokraten, die um die Gefährlichkeit des Begriffs der Staatsräson für jede demokratische Rechtsordnung wissen, von NGO’s, von Linken, von Sozialisten und Kommunisten.

In Köln jedenfalls besteht mit der Palästina-Koordination ein solches breiteres zivilgesellschaftliches Bündnis und die Demonstrationen
kommen nicht mehr nur im Wesentlichen, wie noch bis Anfang des Jahres, aus der weiteren palästinensischen und nahöstlich-arabischen Community.

So muss es weiter gehen.

Anmerkungen:

Volkmar, DKP Innenstadtgruppe Köln
07. Oktober 2024


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