Solingen
Solinger Antifaschistin ausgezeichnet
Inge Krämer erhielt städtischen Preis für Zivilcourage
Der Solinger Antifaschistin und Kommunistin Inge Krämer wurde im Dezember letzten Jahren im Rahmen der Demokratiekonferenz Solingen mit dem «Silbernen Schuh» ausgezeichnet. Mit diesem Preis zeichnet die Stadt Solingen Bürger für mutiges Eintreten gegen Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung aus.
Inge Krämer ist ständig Gast in den Schulen der Stadt. Die 84-Jährige berichtet den Schülern eindrucksvoll als Zeitzeugin über ihre Erlebnisse im Faschismus und in den Kriegsjahren.
In ihrer Rede, mit der sie den Preis von Oberbürgermeister Tim Kurzbach entgegennahm, wird deutlich, warum ihr die jungen Menschen zuhören. Wir dokumentieren sie auszugsweise im Folgenden.
Die ersten Worte, die ich mit acht Jahren lesen konnte, waren:
Nie wieder!
Nie wieder Krieg!
Fast jeden Tag lief ich an der Ruine unseres Nachbarhauses vorbei, auf dessen Mauerreste diese Worte gemalt worden waren: Nie wieder!
Im April 1937 wurde ich in Herne geboren, knapp zweieinhalb Jahre, bevor Hitler durch den Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg auslöste. Bewusst erlebte ich den Krieg von 1943 bis 1945, von meinem sechsten bis zu meinem achten Lebensjahr. Aber in meinem Empfinden beherrschte der Krieg lange Jahre meiner Kindheit, weil es so viele schreckliche dramatische Ereignisse in dichter Folge gegeben hatte. Todes- und Vermisstennachrichten erreichten uns nach dem Überfall der Hitlerfaschisten auf die Sowjetunion.
Onkel Heinrich, der jüngste Bruder meiner Mutter, musste mit 28 Jahren sterben. Meine Großeltern schrieben in ihrer Traueranzeige nicht: «Er starb für Volk und Vaterland» und sie schrieben nicht: «In stolzer Trauer»! Onkel Hermann wurde als vermisst gemeldet. Bis heute gibt es keine andere Nachricht.
Onkel Viktor war verschwunden. Nach dem Krieg erfuhren wir, dass er nach Sachsenhausen, dann nach Bergen-Belsen verschleppt worden war. Wir sahen ihn nie wieder. Die Frau von Onkel Oswald, einem Bruder meines Vaters, kam in Dresden bei einem Bombenangriff ums Leben. Er blieb mit seinen drei kleinen Töchtern allein zurück.
Wir wurden ausbombardiert, umquartiert, evakuiert. Spindeldürr, schreckhaft und schlafgestört waren wir Kinder. Bei einem einzigen wBombenangriff verlor ich alle meine Spielkameraden. Wochenlang suchte ich sie noch auf den Höfen und in den Ecken, wo wir immer gespielt hatten. Ich rief ihre Namen. Niemand mehr da. Der Krieg hatte mir die Unbefangenheit und das Lachen geraubt.
Als siebenjähriges Kind erlebte ich die letzte, wie immer politisch begründete Verhaftung meines Vaters. «Gefangenenbegünstigung» war dieses Mal der Grund. Er hatte sein Brot als Bergmann unter Tage mit russischen Zwangsarbeitern geteilt. Vor meiner Geburt war mein Vater schon mehrfach verhaftet worden wegen der Verbreitung von Flugschriften. Sie sperrten ihn in das Gerichtsgefängnis von Herne, später in Hamborn, in das KZ Brauweiler, und das Gerichtsgefängnis Bochum ein. Schließlich wurde er wegen Vorbereitung zum Hochverrat vor dem Oberlandesgericht in Hamm angeklagt.
Im April 1945 hörten wir schon den Kanonendonner der heranrückenden Amerikaner. Wir waren nur noch 300 Meter vom Frieden entfernt, nur noch 300 Meter! Da sprengte die Wehrmacht am 31. März gegen 23 Uhr sämtliche Brücken über den Rhein-Herne-Kanal und die Emscher. Der Volkssturm und die Hitlerjugend errichteten Straßensperren. Jetzt dauerte es noch Tage bis zur Befreiung, in denen Menschen starben, verletzt wurden, ihr Zuhause verloren.
In der Schule hörten wir später von Karl dem Großen und von Napoleon. Von unserer jüngsten Geschichte, die wir selbst erlebt und erlitten hatten. hörten wir – nichts. Meinen Eltern habe ich es zu verdanken, dass sie mir behutsam, meinem Alter entsprechend, nach und nach erzählten, was passiert war und warum diese Verbrechen geschehen konnten.
Wegen dieser Erlebnisse war es seit 1999 mein Anliegen, in die Schulen zu gehen, um von diesen Zeiten zu erzählen. In der Schreibwerkstatt der VHS lernte ich Frauen meines Alters kennen, die alle ihre Kriegserlebnisse mit sich trugen. Daher gingen wir anfangs gemeinsam in die Schulen.
Die Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler, die zum Teil sehr berührend waren, oder die Zeitungsberichte beweisen, wie wichtig die Vermittlung der erlebten Geschichte durch die letzten Zeitzeugen ist. Zum Teil wurde das Gehörte nicht nur im Geschichtsunterricht, sondern auch im Kunst- und Musikunterricht oder in Projekten von Schülergruppen verarbeitet. Stellvertretend für die handgeschriebenen Briefe, die ich von Schülerinnen und Schülern erhalten habe, möchte ich aus einem zitieren:
«Ihre Erzählungen haben mir gezeigt, dass man sehr vorsichtig und hellhörig auf Entwicklungen achten muss. Heute hört man in den Nachrichten, dass die Neonazis viele neue Mitglieder bekommen haben. Nach Ihrem Vortrag sehe ich das viel kritischer als vorher und ich möchte auf keinen Fall, dass sich jemand von meinen Freunden diesen Gruppen anschließt. Wenn ich so etwas bemerken würde, würde ich alles versuchen, sie davon abzuhalten. Deshalb macht es großen Sinn, dass Sie an die Schulen gehen und uns Schülern von damals erzählen.»
Mit meinen Besuchen setze ich auch eine Tradition von Mitgliedern der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN/BdA) fort, erlebte Geschichte an die jüngere Generation weiterzugeben. Mein Anliegen war und ist es, diese Zusammenhänge zwischen der Geschichte und den heute wieder erstarkenden neofaschistischen Entwicklungen aufzuzeigen. Dabei geht es mir nicht darum, Angst zu verbreiten, sondern vielmehr den nachfolgenden Generationen Mut zu machen, sich aktiv allen rechtsextremen und menschenverachtenden Parolen, Organisationen und Aktionen entgegenzustellen!
Nie wieder!
Nie wieder Krieg!
Nie wieder Krieg und Faschismus, als Auftrag und Verpflichtung!
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UZCategories Politik | UZ vom 14. Januar 2022