Köln
Lesung Schernikau in Köln
»Irene Binz. Befragung«
Ellen Schernikau ist die Mutter des vor 20 Jahren verstorbenen Schriftstellers und Genossen Ronald M. Schernikau. Im Rahmen einer kleinen Tournee an Ruhr und Rhein, zu der die dortigen Kreisorganisationen der DKP eingeladen hatten, war sie am 4. Oktober 2011 in Köln und las aus seinem Buch »Irene Binz. Befragung«.
Es ist im vergangenen Jahr posthum herausgekommen und handelt von Ellen Schernikaus Leben. Sie hat es ihrem Sohn im Herbst 1981 an einem Wochenende geschildert. Aus 600 Seiten Notizen wurde ein Text von etwa 160 Seiten.
Ellens Biografie ist durch einen entscheidenden Bruch geprägt. Obwohl Kommunistin, die die DDR als ihre Heimat wahrnahm, folgte sie aus Liebe dem Vater ihres Sohnes in den Westen. Hier musste sie feststellen, dass der sich schon anderweitig gebunden hatte.
Ronald M. Schernikau, in Magdeburg 1960 geboren, wuchs in Lehrte bei Hannover auf. Er trat 1976 in die DKP ein. 1980 veröffentlichte er sein beachtetes Debüt »Kleinstadtnovelle«. Nach dem Studium am Literaturinstitut »Johannes R. Becher« in Leipzig wurde der Autor am 1. September 1989 Staatsbürger der DDR.
Der hintere Raum der »Buchhandlung am Chlodwigplatz« füllte sich und Ellen Schernikau las in ihrer ruhigen Art aus dem Bericht, den ihr Sohn als wörtliche Rede gefasst und konzentriert hat. Etwa diese schöne Stelle:
»Du wolltest auch immer wissen, was auf den Transparenten steht. Und ich weiß noch, wir sind mit der Straßenbahn unter einer Brücke durch gefahren, und da stand auf einem so sinngemäß drauf: Wir wollen den Sozialismus. Und du fragtest und die Leute kriegten das mit und ich hab dir das erklärt und die warn nun alle gespannt, ich fühlte mich richtig geprüft. Und dann hab ich so ungefähr gesagt, du saßt auf meinem Schoß und warst klein, gingst in den Kindergarten: Der Sozialismus, das ist ein Leben, was wir gerne haben wollen, da gibt es keine ganz Reichen und es gibt keine Armen und jeder hat genug zu essen und jeder kann ganz viel lernen und keiner ist da, der einen quält. – Und Sozialismus fandst du dann auch gut.
Und dann hab ich gesagt: Wir wollen hier den Sozialismus bald haben und da, wo Papi lebt in dem Land, die wollen das nicht. Die sind zufrieden, wenn sie ordentlich viel Geld verdienen können, und manche Kinder können gar nicht richtig zur Schule gehen und manche können sich nicht genug zu essen kaufen, aber den andern, die da auch noch leben, denen ist das egal. Und uns im Sozialismus ist es nicht egal.«
Nach der Lesung kamen Fragen und Ronalds Auftritt auf dem Schriftstellerkongress der DDR im März 1990 zur Sprache. Erasmus Schöfer, der auf diesen Kongress als westdeutscher Schriftsteller delegiert war, hatte den Text parat und zitierte aus dieser erstaunlichen Rede:
»Der Sieg des Feindes versetzt mich nicht in Traurigkeit, eine Niederlage ist eine Niederlage, das sind Angelegenheiten bloß eines Jahrhunderts. Was mich verblüfft, ist die vollkommene Wehrlosigkeit, mit der dem Westen Einlass gewährt wird, das einverständige, ganz selbstverständliche Zurückweichen, die Selbstvernichtung der Kommunisten. Ich habe jeglichen Glauben verloren!, das heißt: Ich bin bereit, mich dem Westen vollkommen zu überlassen. Kaum ist Honecker gestürzt, da lösen die Universitäten den Marxismus auf, da wirbt die DEWAG für David Bowie (immerhin), da druckt die FF dabei Horoskope und die Schriftsteller gründen Beratungsstellen für ihre Leser oder gleich eine SPD. Wo haben sie ihre Geschichtsbücher gelassen? Die Kommunisten verschenken ihre Verlage, die ungarische Regierung richtet in ihrem Land einen Radiosender der CIA ein, und der Schriftstellerverband der DDR protestiert gegen die Subventionen, die er vom Staat erhält. Sie sind allesamt verrückt geworden.«
Ronald M. Schernikau ist am 20. Oktober 1991 in Berlin an Aids gestorben. Seinen Büchern sind zahlreiche Leser zu wünschen.