Aachen

Geschichte: Aachen wird als erste deutsche Großstadt von der Naziherrschaft befreit

Vor 60 Jahren:

Aachen wird als erste deutsche Großstadt von der Naziherrschaft befreit

erschienen in „Unsere Zeit“ vom 12.11.2004 S. 15

Am 21. Oktober 1944 um 12.05 Uhr übergab der letzte Kampfkommandant Aachens, Wilck, die Kapitulationsurkunde an die amerikanischen Truppen. Einen Tag zuvor noch hatte Oberst Wilck einen letzten Funkspruch abgegeben: „Wir kämpfen weiter, es lebe der Führer!“

Zu diesem Zeitpunkt lebten in Aachen noch ca. 6.000 Menschen, die sich der Zwangsevaku­ierung durch die SS entziehen konnten.

Während im Rathaus die üblichen Gedenkrituale abliefen, feierten wir, initiiert durch das Anti­kriegsbündnis Aachen, inmitten der Stadt an weißgedeckten Tischen, festlich von Kerzen il­luminiert - auch Sekt wurde gereicht -, diesen Tag als Jahrestag einer Befreiung und der Freude und gedachten der Menschen, die Widerstand geleistet hatten – wie unsere Nach­barn in Belgien und den Niederlanden auch.

Zwei Zeitzeugen: Stefan Heym und Saul K. Padover.

Als die amerikanischen Truppen im Oktober 1944 von Belgien aus nach Deutschland vor­stießen, folgten den Panzern unbewaffnete Offiziere, die perfekt deutsch sprachen. Ihr Auf­trag war es zu erforschen, was in den Köpfen der Besiegten vorging. „Ich komme mir vor wie ein Ethnologe, der in das Gebiet eines unbekannten Stammes eindringt.“, schrieb Padover. „Die Auskünfte zeugen von Mut und kollektiver Depression, von Selbstmitleid und unbelehr­barer Arroganz.“

Er war überzeugt, dass in Deutschland nur Sozialdemokraten und Kommunisten ein demo­kratisches Gemeinwesen herausbilden könnten.

Die Aachener Verhältnisse waren für Padover beispielhaft für das, was später in anderen deutschen Großstädten passierte. Dazu schreibt er in seinem Bericht „Vernehmungen im besetzten Deutschland“: „Am 13. September verbreitet sich wie ein Lauffeuer das Gerücht, dass die Amerikaner nicht mehr weit entfernt seien. Die Parteibonzen und höheren Beamten und Polizisten packten eilends ihre Sachen und setzten sich ab.“ Die Wehrmacht übergab die Stadt jedoch nicht: „Im Gegenteil, die deutsche Armee, die berühmte deutsche Armee, patriotisch gesinnt und zivilisiert, zog plötzlich plündernd durch die alte Stadt.“

Nach der Plünderung eines großen Weinlagers gab es ein kollektives Besäufnis. Die Solda­ten verwandelten sich in eine grölende Meute, sie plünderten die Lebensmittelgeschäfte, dann die Tabakgeschäfte, zuletzt die Bekleidungsgeschäfte. Nachdem die Geschäfte leer­geräumt waren, wurde in Privatwohnungen eingebrochen und fortgeschafft, was nicht niet- und nagelfest war, besonders Herrenanzüge waren beliebt, denn die Soldaten brauchten Zivilkleidung, um sich ungeschoren absetzten zu können. So ging es vier Tage und vier Nächte; dann kehrten die SS und die Gestapo wieder zurück. Fünf Wochen lang kämpften sie bis zum letzten Haus.

Stefan Heym beschreibt den Tag der Befreiung Aachens in seiner Autobiographie: „Nein, ge­winnen werden diese Deutschen den Krieg nicht mehr, aber sie werden kämpfen, solange die Organisation noch funktioniert, für ihren Hitler oder für was auch immer, kämpfen, bis es zwölf schlägt, und vielleicht sogar bis fünf Minuten danach.

Alles jetzt konzentriert sich auf Aachen. Wenn es nur fiele, Aachen wäre die erste größere deutsche Stadt in den Händen der Amerikaner. Der Symbolwert wäre kolossal: Hier hatte schon Karl der Große residiert, hier waren bis ins späte Mittelalter die deutschen Kaiser und Könige gekrönt worden; deutscher als Aachen ging’s nicht. ... Aber auch in Berlin wird man gewusst haben, welche Bedeutung Aachen zukam; aus Berlin hagelt es Durchhaltebefehle, obwohl die Stadt eingekreist ist: Kämpfen bis zum letzten Haus, zur letzten Patrone, zum letzten Mann.“

Stefan Heym empfindet bei seinem Gang durch Aachen, Stunden nur nach der Einnahme durch die Amerikaner, keine Genugtuung, sondern eher Trauer: „Aachen war eine tote Stadt. Ohne die Anmut, die Ruinen haben, die im Laufe der Jahrhunderte verfielen. Alles deutet auf einen überstürzten Auszug einer verängstigten, terrorisierten Bevölkerung. Schales Bier war noch in den Gläsern in einem Restaurant. Die oberen Stockwerke des Hauses waren ein­gestürzt. ... Über den Trümmern liegt Stille, gelegentlich bröckelt ein Stein und es dauert ein paar Sekunden, bis das Echo der fallenden Brocken verhallt ist; und überall der süßlich schwere Geruch der Verwesung.

Das Münster steht, verschont von der Artillerie und den Fliegern der Amerikaner; die Fresken in der Krönungshalle leuchten; vor dem Altar hatten deutsche Truppen gelagert, der Dreck, den sie hinterließen, zeugt davon. ...

Wir suchten nach Menschen. Wir wollten die Deutschen wiedertreffen, um zu sehen, welche Wandlungen sich bei ihnen vollzogen hatten ... in den Jahren der deutschen Siege und den langen, langen Jahren der Niederlagen. Was ging in ihren Köpfen vor?

Auf der anderen Seite der Straße trafen wir unseren ersten Aachener. Es war ein Geschäfts­mann. ... Er fragte in anklagendem Ton, warum wir nicht früher gekommen wären. Er war ei­nigermaßen überrascht, als wir ihm erklärten, dass wir nicht gekommen wären, um die Deut­schen zu befreien. Und ihn fragten, warum er denn, wenn er so dringend gewünscht hätte befreit zu werden, er und seine Landsleute nicht selbst etwas für sich getan hätten.“

Am nächsten Tag beginnen Saul Padover und seine Kollegen mit den Interviews. Dabei kommt ihnen zugute, dass die Deutschen noch keine Zeit gefunden haben, sich komplizierte Ausreden zurechtzulegen.

Die Reaktion formiert sich

Padover beschreibt Aachen als eine „verrückte Stadt“. Dort hatte nicht der US-Kommandant das Sagen, sondern der von ihm eingesetzte Oberbürgermeister Oppenhoff. Und den größ­ten Einfluss hatte ein Mann, der überhaupt kein politisches Amt innehatte – der Bischof von Aachen. „Nicht die amerikanischen Eroberer bestimmten, wo es lang ging, sondern die Deut­schen, die zu einer Clique von Rüstungsproduzenten gehörten. Die herrschende Ideologie war nicht von Demokratie geprägt, sondern von einem autoritären Faschismus.“

Die Männer um Oppenhoff sind nicht demokratisch gesinnt. Sie äußern sich ausgesprochen abfällig über die Weimarer Republik und ein Mehrparteiensystem. „Sie plädieren für ein auto­ritäres Regime wie es Mussolini, Franco oder Petain errichtet hatten. Das Wirtschaftsleben sollte streng hierarchisch nach dem Führerprinzip aufgebaut sein, die Arbeiter sollten sich nicht organisieren und keine Forderungen stellen dürfen.“ Gewerkschaften sollten nicht zu­gelassen sein. Wahlen lehnten sie ab. Oppenhoff befürchtete, „dass die Arbeiter unter den laxen Besatzern gefährliche Vorstellungen von Freiheit und Demokratie entwickelten. ... Er sprach wie ein Angehöriger einer siegreichen Nation.“ kommentiert Padover.

Trotz dieser reaktionären Ansichten war Franz Oppenhoff ein Hassobjekt der Nazis: Am 25. März 1945 wurde er von einem SS-Kommando, das sich durch die Linien der Amerikaner geschlagen hatte, in seinem Aachener Haus ermordet.

Der Bischof von Aachen, Protegé von Oppenhoff, äußert sich in ähnlicher Weise: Deutsch­land brauche Arbeit und Raum. Um die Ernährung der Bevölkerung zu sichern, müsse man expandieren, aber es gebe keinen Raum in Europa. Der Imperialismus an sich interessiere ihn nur als Instrument im Kampf gegen den Kommunismus und zur Abwendung der roten Gefahr müsse Deutschland expandieren. Ein verarmtes Proletariat werde sich dem Kommu­nismus zuwenden. Wenn der Mensch keine gesicherte Existenz habe, was könne man da anderes erwarten.

In der amerikanischen Militärkommandatur tobte ein Sturm hinter den Kulissen. Es ging dabei um die grundsätzliche Frage, ob Nazis und andere belastete Personen im Amt belas­sen werden sollten. Der Oberbürgermeister kämpfte unnachgiebig für seine Freunde und seine Prinzipien. Der amerikanische Sicherheitsdienst und der Spionageabwehrdienst (CIC) waren gegen Oppenhoff, während die Militärkommandatur ihn unterstützte. Der CIC war der Meinung, dass die unzähligen Nazis in der Aachener Stadtverwaltung mittlerweile eine Ge­fahr für die militärische Sicherheit darstellten.

Der CIC konnte sich offensichtlich nicht durchsetzen. Denn in Aachen tummelten sich noch lange Alt-Nazis in öffentlichen Ämtern. In seiner Rede zum Jahrestag der Befreiung erinnerte der 83jährige Kommunist Hein Kolberg exemplarisch an Dr. Hans Globke, einen der Verfas­ser der „Judengesetze“ von 1937, der z.B. dafür verantwortlich war, dass jüdische Menschen neben dem Judenstern in ihrem Pass auch noch die Vornamen Isaac und Sarah tragen mus­sten. Bevor dieser Globke der höchste Beamte der BRD unter der Adenauer-Regierung wur­de, saß er in Aachen nach 1945 dem Wiedergutmachungsausschuss vor. Diesem Herrn Globke standen nun Überlebende der Vernichtungs- und Konzentrationslager gegenüber, denen Entschädigung für ihre erlittenen Qualen beglaubigt werden musste.

Das demokratische Aachen

Während das übrige Deutschland noch ein halbes Jahr auf die Befreiung vom Faschismus warten musste, formierten sich in Aachen bereits die demokratischen Kräfte. Zum Beispiel Heinrich Hollands, 70 Jahre alt, Buchdrucker von Beruf, seit 44 Jahren Sozialdemokrat. Er wurde am 24. Januar 1945 Verleger der ersten Zeitung der Nach-Nazizeit, den „Aachener Nachrichten“.

Der frühere Verleger war geflohen, lange bevor die Alliierten auf Aachen vorrückten. Nun sitzt Hollands in dessen Büro und wäre glücklich, wenn der alliierte Zensor einmal nichts streichen würde von seinen kleinen Anmerkungen, die er gerne als Verlegerkommentar an das Ende einzelner Zeitungsartikel setzte. Kommentare wie z.B. den, den er an den Nachruf für einen verstorbenen, prominenten Aachener anfügen wollte, der zuvor als treusorgender Ehemann und vorbildlicher Vater dargestellt worden war. Hollands kommentierte den Nach­ruf: „Kurz und gut, er war ein Schwein, ein Lügner und ein Nazi!“.