Köln
Die Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden
Das Weißbuch der Bundeswehr und die «Konzeption Zivile Verteidigung»
Referat von Klaus Stein beim Kreisvorstand DKP Köln
am 13. September 2016
«Auch in Zukunft wird es aber immer wieder Situationen geben, in denen erst ein robustes, völkerrechtlich legitimiertes militärisches Eingreifen der Diplomatie den Weg zu akzeptablen politischen Lösungen freimacht.» (Weißbuch, S. 61)
Liebe Genossinnen und Genossen,
Liebe Freunde,
heute titelt die FAZ auf ihren Finanz-Seiten: An den Finanzmärkten breitet sich die Zinsfurcht aus. Die sogenannten Märkte zweifeln mittlerweile an der Fortsetzung der lockeren Geldpolitik, die für sinkende, sogar für Strafzinsen zum Schaden der Banken sorgt. Die Zweifel der Finanzmärkte materialisieren sich als fallende Aktien- und Anleihenkurse. Am vergangenen Donnerstag (8. September) hatte Präsident Mario Draghi mitgeteilt, dass die EZB auf eine weitere Lockerung verzichte. Über Konzepte wie Aktienkäufe oder Helikoptergeld sei nicht gesprochen worden. Der Dax, der mittwochs noch ein Tageshoch über 10772 Punkte verzeichnete, erreichte gestern sein Tagestief bei 10308 Punkten. Diese Daten seien noch nicht dramatisch, allerdings macht Gerald Braunberger, der zuständige FAZ-Redakteur, darauf aufmerksam, dass der beunruhigende Rückgang der Kurse von Aktien und Anleihen sich rund um den Globus beobachten ließe. Er zitiert einen Berater des Allianz-Konzerns. Die Unruhe könne längere Zeit anhalten. Und nennt vier Gründe:
- Eine Beschleunigung des Wirtschaftswachstums in der Welt sei wenig wahrscheinlich.
- die politischen Spannungen in der Welt nähmen zu.
- Die Wirkung der expansiven Geldpolitik lasse nach.
- Amerikanische Unternehmen hätten seit geraumer Zeit mittels Aktienrückkäufen ihre Aktienkurse gestützt. Auf diese Maßnahme verzichteten sie zunehmend.
Gestern gehörten Deutsche Bank und Commerzbank zu den größten Kursverlierern, nur bei den Aktien des Immobilienkonzerns Vonovia ging es aufwärts. Das anlagesuchende Kapital strebt nach wie vor in Immobilien und bläht Kauf- und Mietpreise auf.
Uns interessiert heute der Punkt 2, die zunehmenden politischen Spannungen. Sie sind allerdings weniger Ursache fallender Börsenkurse als Wirkung der anhaltenden Überproduktionskrise. Uns bereiten andere Ereignisse Sorgen als den sogenannten Finanzmärkten. Die Lungenentzündung von Hillary Clinton ist für die Wall Street sicher schlimm. Uns interessiert aber mehr die Kriegsgefahr, die sich seit dem Erdogan-Putsch noch verstärkt hat. Große Sorgen macht die Kriegshetze in unseren Medien, insbesondere gegen Russland. Und es sind umfassende Kriegsvorbereitungen zu konstatieren. Sie äußern sich im neuen Weißbuch der Bundeswehr, das im Juli veröffentlicht worden ist, und in der «Konzeption Zivile Verteidigung» (KZV).
Am 23. August schlagzeilte zu diesem Thema die Kölnische Rundschau: «Bund bereitet Bevölkerung auf den Kriegsfall vor» und kolportiert in der Unterzeile, dass Moskau die europäische Friedensordnung in Frage stelle.
Angela Merkel schreibt im Weißbuch (S. 6 f.): «Die Welt im Jahr 2016 ist eine Welt in Unruhe. Auch in Deutschland und Europa spüren wir die Folgen von Unfreiheit, Krisen und Konflikten in der unmittelbaren Nachbarschaft unseres Kontinents. Wir erleben zudem, dass selbst in Europa Frieden und Stabilität keine Selbstverständlichkeit sind. In dieser veränderten Sicherheitslage ist es die Aufgabe der Bundesregierung, die sicherheitspolitischen Interessen, Prioritäten und Ziele unseres Landes neu zu definieren und das Instrumentarium verantwortungsbewusst weiterzuentwickeln.»
Worüber sie nicht spricht, sind die Ursachen und die Verursacher. Wer sorgt für «Unfreiheit, Krisen und Konflikten» in der unmittelbaren Nachbarschaft?
Wenn sie sagt: «Dass Grenzen völkerrechtswidrig mit militärischer Gewalt verschoben werden, hatten wir im Europa des 21. Jahrhunderts nicht mehr für möglich gehalten» sollen wir an Putin und die Krim denken – nicht etwa an den 1999 von der NATO vom Zaun gebrochenen Krieg gegen Jugoslawien. Und schon gar nicht an den Maidan-Putsch vom Februar 2014, durch den nach der Ablehnung des Assoziationsabkommens mit der EU faschistische Kräfte an die Schalthebel der ukrainischen Regierung gestellt wurden.
Merkel: «Deutschlands wirtschaftliches und politisches Gewicht verpflichtet uns, im Verbund mit unseren europäischen und transatlantischen Partnern Verantwortung für die Sicherheit Europas zu übernehmen, um gemeinsam Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht zu verteidigen. Noch stärker als bisher müssen wir für unsere gemeinsamen Werte eintreten und uns für Sicherheit, Frieden und eine Ordnung einsetzen, die auf Regeln gründet.»
Die gemeinsamen Werte, von denen hier die Rede ist, sind in Wahrheit die, die sich in Euro und Dollar ausdrücken, es sind die Profite, die sich so schwer realisieren lassen.
«Dieses Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr beschreibt die Grundlagen der deutschen Sicherheitspolitik und den Rahmen, in dem diese sich vollzieht. Es identifiziert für die gesamte Bundesregierung Gestaltungsfelder deutscher Sicherheitspolitik. Es legt die Basis der künftigen Ausrichtung der Bundeswehr als eines der Instrumente deutscher Sicherheitspolitik. Unsere Bundeswehr hat in den vergangenen Jahren in zahlreichen Auslandseinsätzen gemeinsam mit unseren Verbündeten, Partnern und zusammen mit den Polizistinnen und Polizisten sowie zivilen Helferinnen und Helfern einen wichtigen Beitrag zum Frieden in der Welt geleistet. Sie wird auch künftig gefordert sein. In jedem ihrer Einsätze drückt sich unsere Bereitschaft aus, Frieden und Sicherheit zu bewahren und unsere Freiheit entschlossen zu verteidigen. Die Bundesregierung hat daher die Verantwortung und Verpflichtung, die Bundeswehr mit den erforderlichen Ressourcen auszustatten.»
Ursula von der Leyen vermeidet in ihrem Vorwort ebenfalls Klartext, es herrscht die Sprache der Werbung vor: «Von der Verantwortung als Rahmennation bei gemeinsamer Fähigkeitsentwicklung über die Ertüchtigung lokaler Partner in fragilen Weltregionen und unser Engagement in einer Vielzahl von Einsätzen bis zur europäischen Streitkräfteintegration – die Bundeswehr zeigt Initiative, lebt ‹Führung aus der Mitte›.» (S. 9) Dazu wörtlich weiter hinten im Text des Weißbuchs: «Deutschlands Bereitschaft, als Rahmennation Führungsverantwortung zu übernehmen, ist Ausdruck unseres Selbstverständnisses und unseres Gestaltungsanspruchs. In multinationalen Einsätzen ist diese Rolle bereits gelebte Praxis. Dort verfolgt sie das Ziel, anderen Nationen zu ermöglichen, ihre Fähigkeiten zum Nutzen aller in einen multinationalen Verbund einzubringen.» (S. 68)
Der Herrschaftsanspruch wird im Begriff der «Rahmennation» kaum noch verhüllt. Es geht offenbar darum, dass in Weltgegenden, die vor oder nach militärischer Einwirkung durch die Bundeswehr als «fragil» bezeichnet werden können, örtliche Kräfte ausgebildet und aufgerüstet werden. Sie sollen Investitionen deutscher Konzerne und Banken profitabel absichern.
In der Sprache des Weißbuchs klingt das folgendermaßen:
«Unser Ertüchtigungsansatz zielt daher darauf ab, Staaten und Regionalorganisationen in fragilem Umfeld zur eigenständigen Übernahme von Sicherheitsverantwortung in einem umfassenden Sinne zu befähigen. In dem Maß, wie regionale und lokale Akteure gestärkt werden, kann das deutsche und internationale Engagement in Krisenregionen angepasst und langfristig vermindert werden.» (S. 52)
So weit ist es gekommen, nachdem 1956, im Jahr des KPD-Verbots, und gegen den Widerstand weiter Teile der Bevölkerung die Wiederbewaffung durchgesetzt worden ist. Artikel 87 des GG lautet: «Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.» Jetzt dienen sie ganz offen imperialistischer Expansion.
Auf Seite 28 konstatiert das Weißbuch Veränderungen. Die internationale Ordnung, wie sie nach Ende des Zweiten Weltkrieges geschaffen wurde und noch heute mit ihren Organisationen und Institutionen den Rahmen der internationalen Politik setze, sei im Umbruch. Globalisierung und Digitalisierung der vergangenen Jahrzehnte hätten zu einer weltweiten, alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringenden Vernetzung geführt. «Immer mehr Menschen erhalten verbesserten Zugang zu Information und Technologie. Diese politischen, ökonomischen und technologischen Verflechtungen ziehen weitreichende gesellschaftliche und soziale Wandlungsprozesse nach sich. Der unsere Kommunikation und unser Handeln zunehmend dominierende Cyber- und Informationsraum ist Ausdruck dieser weltumspannenden Verflechtung. Gleichzeitig befördert die Globalisierung auch die Vernetzung und Verbreitung von Risiken und deren Folgewirkungen. Dies reicht von Epidemien über die Möglichkeit von Cyberangriffen und Informationsoperationen bis zum transnationalen Terrorismus.»
Das also sind die «Treiber des Umbruchs», die Ursachen von Kriegen, will uns das Weißbuch weis machen.
Als apokalyptische Reiter unserer Sicherheitsoffenbarung gelten: Antiglobalisierung, introvertierter bzw. radikaler Nationalismus, Extremismus, religiöser Fanatismus, Werte- und Normenverfall, die demographische Entwicklung und die Urbanisierung. Das alles als notwendige Konsequenz der unvermeidlichen Globalisierung und Digitalisierung. (S. 29)
So braucht sich der beunruhigte Sicherheitspolitiker über einen Mangel an Kriegsgefahr keine Sorgen mehr zu machen. Dennoch wird auf den bösen Russen nicht verzichtet. «Durch seine auf der Krim und im Osten der Ukraine zutage getretene Bereitschaft, die eigenen Interessen auch gewaltsam durchzusetzen und völkerrechtlich garantierte Grenzen einseitig zu verschieben, stellt Russland die europäische Friedensordnung offen in Frage.» (S. 31) «Ohne eine grundlegende Kursänderung wird Russland somit auf absehbare Zeit eine Herausforderung für die Sicherheit auf unserem Kontinent darstellen.» (S. 32)
Das Weißbuch erörtert die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, Cyberangriffe, Beeinflussung der öffentlichen Meinung mittels digitaler Kommunikation, hybride Kriegsführung sowie durch die Renaissance klassischer Machtpolitik. Als Beispiel dient auch hier wieder das russische Vorgehen in der Ukraine.
Was ist hybride Kriegsführung?
Unter hybrider Kriegsführung wird der Einsatz militärischer Mittel unterhalb der Schwelle eines konventionellen Krieges verstanden. «Hybrides Vorgehen zielt dabei auf die subversive Unterminierung eines anderen Staates ab. Der Ansatz verbindet verschiedenste zivile und militärische Mittel und Instrumente in einer Weise, dass die eigentlichen aggressiven und offensiven Zielsetzungen erst in der Gesamtschau der Elemente erkennbar werden.» (S. 38)
Gegen die hybriden Bedrohungen helfe die effektive Vernetzung relevanter Politikbereiche. Sie erhöhe «wesentlich die Aussichten erfolgreicher Resilienzbildung zur Abwehr hybrider Bedrohungen. Hierzu gehören auch ein besserer Schutz kritischer Infrastrukturen, der Abbau von Verwundbarkeiten im Energiesektor, Fragen des Zivil- und des Katastrophenschutzes, effiziente Grenzkontrollen, eine polizeilich garantierte innere Ordnung und schnell verlegbare, einsatzbereite militärische Kräfte. Politik, Medien und Gesellschaft sind gleichermaßen gefragt, wenn es darum geht, Propaganda zu entlarven und ihr mit faktenbasierter Kommunikation entgegenzutreten.» (S. 39)
So umfassend verstanden, droht uns unter dem Vorwand von Sicherheitsvorsorge eine durchorganisierte Gesellschaft, militärisch kontrollierte Kommunikation, Medien- und Innenpolitik. Das wird im Kapitel Strategische Prioritäten wie folgt formuliert: «Für die gesamtstaatliche Sicherheitsvorsorge ist die Stärkung von Resilienz und Robustheit unseres Landes gegenüber aktuellen und zukünftigen Gefährdungen von besonderer Bedeutung. Dabei gilt es, die Zusammenarbeit zwischen staatlichen Organen, Bürgerinnen und Bürgern sowie privaten Betreibern kritischer Infrastruktur, aber auch den Medien und Netzbetreibern zu intensivieren. Das Miteinander aller in der gemeinsamen Sicherheitsvorsorge muss selbstverständlich sein.» (S. 48)
Die «Konzeption Zivile Verteidigung» ergänzt diese Einschätzung umfassender Bedrohung durch das Weißbuch. Es sei Aufgabe der Zivilen Verteidigung, sich auf die Abwehr der neuen Gefahren auszurichten, ohne dabei ihre Aufgaben bei der klassischen Landes- und Bündnisverteidigung zu vernachlässigen. Die wachsende Verwundbarkeit der modernen Infrastruktur und die Ressourcenabhängigkeit moderner Gesellschaften bieten vielfältige Angriffspunkte. Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägersysteme, Konfliktführung mit terroristischen Mitteln und Angriffe im Cyberraum können zu einer direkten Bedrohung Deutschlands und seiner Verbündeten werden. Insgesamt ist zu erwarten, dass die Wechselwirkungen von innerer und äußerer Sicherheit weiter zunehmen. (KZV S. 13)
Bei hybriden Bedrohungen seien folgende Besonderheiten zu berücksichtigen:
- Erschwerte Wahrnehmung und Zuordnung,
- Fokussierung auf verwundbare Strukturen als Angriffsziele,
- Mischung konventioneller und irregulärer Kräfte/Fähigkeiten,
- Vielfalt offener und verdeckter Angriffe,
- Mischung militärischer und ziviler Wirkmittel,
- Unübersichtlichkeit potenzieller Schadensszenarien,
- kurze oder gänzlich entfallende Vorwarnzeiten.
Wir haben es also mit Überlegungen und Strategien zu tun, die sich auf die folgenden Elemente konzentrieren:
- Stärkung von Prävention, Krisenreaktion und Wiederaufbau,
- Verbesserung des Bewusstseins für hybride Bedrohungen,
- Stärkung der Resilienz,
- Verbesserung der Zusammenarbeit mit der NATO bei der Abwehr hybrider Bedrohungen.
Mit einem Wort, die Abwehr durchdringt jetzt eine Unzahl ziviler Bereiche. Umgekehrt bekommen wir es mit einer Militarisierung des Alltags zu tun.
Der umfassende Herrschaftsanspruch soll aber auch geographisch dem gesamten Globus gelten. Nicht zuletzt wird er mit dem Bedarf an Rohstoffen und Energie begründet. «Prosperität unseres Landes und Wohlstand unserer Bürgerinnen und Bürger hängen auch künftig wesentlich von der ungehinderten Nutzung globaler Informations-, Kommunikations-, Versorgungs-, Transport- und Handelslinien sowie von einer gesicherten Rohstoff- und Energiezufuhr ab. Eine Unterbrechung des Zugangs zu diesen globalen öffentlichen Gütern zu Lande, zur See, in der Luft sowie im Cyber-, Informations- und Weltraum birgt erhebliche Risiken für die Funktionsfähigkeit unseres Staates und den Wohlstand unserer Bevölkerung. Neben terroristischen Anschlägen kommen dabei Piraterie, politische, wirtschaftliche oder militärische Zwangsmaßnahmen ebenso als mögliche Ursachen in Betracht wie Staatszerfall und regionale Krisen. Die wachsenden Investitionen verschiedener Staaten in Fähigkeiten, die Dritten den Zugang zu bestimmten Regionen verwehren sollen, sind dabei von besonderer Relevanz.» (S. 41)
Aber auch soziale Probleme möchte das Weißbuch als militärische Aufgabe verstanden wissen. «Weltweit ist das Arbeitslosigkeitsrisiko von unter 25-Jährigen fast dreimal so hoch wie das Älterer. In einigen Ländern sind bis zu zwei Drittel der jungen Menschen nur unvollständig oder gar nicht in das Erwerbsleben integriert. Gerade im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika ist die ausgesprochen schwierige Erwerbssituation vor allem der männlichen Jugend eine Ursache für den Zulauf zu radikalen Gruppierungen. Dies kann zu einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nicht nur in den jeweiligen Staaten, sondern auch in angrenzenden und weiter entfernten Regionen führen.» (S. 44) Also Krieg gegen die Arbeitslosen und Fördermaßnahmen allenfalls als Terrorismusprävention.
Aber es geht nicht nur um Abwehr, sondern auch um Durchsetzung der eigenen Regeln. «Besonderes Augenmerk gilt der weltweiten Durchsetzung des Völkerrechts und der universellen Geltung und Beachtung der Menschenrechte. Im Mittelpunkt stehen dabei Modernisierung und Stärkung der globalen und regionalen Organisationen wie der VN, der EU, der NATO und der OSZE sowie weiterer Regionalorganisationen. Gleiches gilt für europäische und globale abrüstungs- und rüstungskontrollpolitische Regime.
Normen und Regeln entfalten jedoch nur dann ihre volle Wirkung, wenn Verstöße wirkungsvoll sanktioniert werden. In diesem Zusammenhang ist das Instrumentarium wirtschaftlicher und personenbezogener Sanktionen zu verfeinern und zielorientierter auszurichten. Darüber hinaus setzt sich Deutschland für die Stärkung der internationalen Strafverfolgung und Gerichtsbarkeit ein.» (S. 52 f.) Das gelingt bekanntlich nicht in jedem Fall. Die Durchsetzbarkeit und Reichweite solcher Regeln bleibt begrenzt. Sie geht nur in eine Richtung. Der Internationale Gerichtshof, IGH, in Den Haag forderte am 10. Mai 1984 Washington auf, die Blockade und Verminung nikaraguanischer Häfen zu beenden. Die USA erklären indes das Gericht für nicht zuständig. Der Weltgerichtshof verurteilte aber die Vereinigten Staaten und wies sie an, die Verbrechen zu beenden, und massive Reparationen zu zahlen. Die Vereinigten Staaten wiesen die Entscheidung des Gerichts zurück und verkündeten: Von nun an erkennen wir die Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht mehr an.
Auch das Kapitel Sicherheitspolitische Gestaltungsfelder geht von einem uferlosen Sicherheitsbegriff aus: Sicherheitsvorsorge sei nicht nur eine staatliche, sondern werde immer mehr zu einer gemeinsamen Aufgabe von Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Ein gemeinsames Risikoverständnis sei die Grundlage für den Aufbau gesamtgesellschaftlicher Resilienz. Dabei verbinde Staat und Wirtschaft bereits eine vertrauensvolle Sicherheitspartnerschaft, die vom Schutz kritischer Infrastrukturen bis zum Wirtschaftsschutz reiche. Erhalt und Schutz von Kenntnissen und Fähigkeiten in sicherheitspolitisch relevanten Bereichen – insbesondere Schlüsseltechnologien – seien hier auch zukünftig von zentraler Bedeutung. (S. 59)
Alarmieren muss die Mitteilung auf Seite 60, dass nunmehr die öffentliche Meinung sicherheitsrelevant sei. Es gehe um die Fähigkeit, Angriffen zu widerstehen. Das Wort dafür: Resilienzaufbau. Dazu müsse man frühzeitig und präventiv Verwundbarkeiten identifizieren. «Die materielle Infrastruktur von Staat und Wirtschaft ist ebenso Angriffsziel wie die öffentliche Meinung, die vielfach Versuchen externer Einflussnahme ausgesetzt ist.»
Das ist ein offene Angriff auf das Grundrecht nach Artikel 5 GG, «seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten».
Zum Einsatz der Bundeswehr im Inneren sagt das Weißbuch: «Ausdrücklich zugelassen in Artikel 35 Absatz 2 Satz 2 und Absatz 3 des Grundgesetzes ist der Einsatz der Streitkräfte im Innern zur Hilfe bei Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen (Katastrophennotstand) auf Anforderung eines Landes oder auf Anordnung der Bundesregierung. Das Vorliegen eines besonders schweren Unglücksfalls kommt auch bei terroristischen Großlagen in Betracht. Durch das Bundesverfassungsgericht wurde dabei bestätigt, dass die Streitkräfte zur Unterstützung der Polizeikräfte bei der wirksamen Bekämpfung des Unglücksfalls unter engen Voraussetzungen auch hoheitliche Aufgaben unter Inanspruchnahme von Eingriffs- und Zwangsbefugnissen wahrnehmen können.» (S. 110) Es handelt sich dabei um einen weiteren Schritt der Ausdehnung der Einsatzfälle.
Dazu passt, dass die Kontrolle des Parlaments über die Bundeswehr und ihre Maßnahmen in Frage gestellt wird: «Vor dem Hintergrund der veränderten sicherheits- und verteidigungspolitischen Anforderungen unterstützt die Bundesregierung gleichwohl die Empfehlung der ‹Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr›, dass der Deutsche Bundestag ‹in einem geeigneten Verfahren über eine mögliche Reform des verfassungsrechtlichen Rahmens für Auslandseinsätze der Bundeswehr berät›». (S. 109)
Militärischer Aufwand kostet, hat aber den Vorteil, den Marktgesetzen nicht zu unterliegen. Angesichts der anhaltenden Überproduktionskrise bietet die Rüstungsindustrie verzweifelten Anlegern ein rettendes Ufer. «Die Bundesregierung macht es sich zur Aufgabe und wird sich dafür einsetzen, langfristig im Rahmen der zur Verfügung stehenden Ressourcen die Annäherung an das Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigungsausgaben sowie gleichzeitig eine Rüstungsinvestitionsquote von 20 Prozent im Verteidigungsbereich anzustreben, (…) weiterhin substanzielle Beiträge zur Stärkung der Allianz im Bereich Abschreckung und kollektive Verteidigung zu leisten. Hierzu zählen (…) die nukleare Teilhabe sowie durchhaltefähige Beiträge entlang der NATO-Planungsziele (…).» (S. 69)
Schon einige Seiten vorher geht es um die strategischen Nuklearfähigkeiten der Allianz, insbesondere die der USA. Sie seien der ultimative Garant der Sicherheit ihrer Mitglieder. «Die NATO ist weiterhin ein nukleares Bündnis. Deutschland bleibt über die nukleare Teilhabe in die Nuklearpolitik und die diesbezüglichen Planungen der Allianz eingebunden. (...)
Gleichzeitig stellt sich das Bündnis auf asymmetrische und hybride Bedrohungen einschließlich Cyberangriffen, ein. Das Merkmal hybrider Kriegführung, die Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden, stellt dabei besondere Herausforderungen an die Feststellung des Bündnisfalls nach Artikel 5 des NATO- Vertrags.» (S. 65)
Der hybriden Herausforderung gegenüber soll die Bundeswehr nicht wehrlos sein: «Die konventionelle Landes- und Bündnisverteidigung hat ihren Charakter im Vergleich zur Zeit des Kalten Krieges deutlich verändert: Sie muss sich heute vielfach bei kurzen Vorwarnzeiten gegen eine räumlich fokussierte Gefährdung durch militärische Kräfte unter- oder oberhalb der Schwelle offener Kriegführung stellen. Diese ist immer öfter in eine hybride Strategie eingebettet, die über die gesamte Bandbreite des Bedrohungsspektrums hinweg durch den orchestrierten Einsatz militärischer und nichtmilitärischer Mittel gekennzeichnet ist.» (S. 88)
Die Verwischung der Grenze zwischen Krieg und Frieden ist militaristisches Programm und Kernaussage des Weißbuches. Damit wird der Übergriff des Militärischen auf das Zivilleben, die Militarisierung weiter Bereiche des Alltags, ihre Unterordnung unter militärische Ziele begründet.
Text: Klaus Stein, 13. September 2016
Fotos: Berndt Bellwinckel
- Fotogalerie: 70 Jahre NRW und der Auftritt der Bundeswehr von B.B.
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